Wenn der Feind der ist…

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Wenn der Feind der ist…

Wenn der Feind der ist, den ich liebe | 4. Sonntag nach Trinitatis – 5.7.2020 | Matthäus 5,43-48 (dänische Perikopenordnung) | verfasst von Anne-Marie Nybo Mehlsen | aus dem Dänischen übersetzt von Eberhard Harbsmeier |

 

Es duftet frühlingsgrün durchs Land – auf dem Fußballplatz! Gerade das ist einer der Orte, wo Feindesliebe unangebracht ist. Du sollst deinen Gegner im Fußballkampf nicht lieben – solange der Kampf gespielt wird – innerhalb der Regeln – seid ihr Feinde! Aber eben nur nach den Regeln! Einem gefallenen Gegner soll man auch eine Hand reichen, und ein Gegenspieler, der umfällt, hat Anspruch auf Hilfe. Die Liebe gilt also noch immer, auch ein Gegner ist ein Nächster. Also: Ich soll auch meinen Gegner lieben, meinen Feind, weil er oder sie ein Nächster ist.

Einige nehmen das mit dem Gegner und dem Feindbild mit sich, wenn sie nach dem Kampf nach Hause gehen und nun einen Feind sehen in jedem, der nicht dazu gehört. Personen mit einem Fan-Halstuch oder einem T-Shirt, die signalisieren: Ich bin für die anderen, die verursachen sofort Spannungen.

Seine Feindbilder pflegen, das ist fast ein Lieblingssport. Hört nur die politischen Diskussionen, eine Diskussion unter Freunden, Partnern im Konflikt und auch in einer Familie.

Es ist grundlegend in einem Konflikt, dass beide Seiten sich Feindbilder schaffen und blitzschnell einander Motive und Eigenschaften zuschreiben, für die es keinen Beleg gibt.

Wenn du mit deinem Nachbarn Streit hast darüber, wie die Hecke zu beschneiden ist, oder über die Lautstärke aus dem Zimmer des Sohnes bei offenem Fenster, dauert es nicht lange, und der Nachbar wird mit Attributen wie „sauer“, „beleidigt“ oder „fies“ versehen, oder „der ist hinter mir her“, er „geht mit auf die Nerven“ und ist „empfindlich“ und „irritabel“. Auch wenn du deinen Nachbarn ansonsten als einen netten und umgänglichen Nachbarn in jeder Hinsicht kennst.

Der alltägliche Feind ist jemand, der nicht dasselbe will wie du und ich. Ein Feind ist jemand, der mit dir und mir nicht einig ist und uns nicht Recht gibt. Feinde gibt es nicht nur auf dem Fußballplatz, sondern auch unter Nachbarn, Kollegen und Mitmenschen, ja selbst unter Mitgliedern der Familie.

Wir denken jeder für sich an eigene Konflikte, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Familie und des Freundeskreises. Wir sollen uns vielleicht aussprechen? Zu einem Versöhnungskaffee einladen – oder einem Mittagessen? Da ist vielleicht Bitterkeit und alter Groll, eine Portion Furcht und eine gute Portion verletzter Eitelkeit, die zu überwinden sind. Warum aber nicht? Wenn das möglich ist?

Hoffentlich geht das bald vorüber, hoffentlich kriegen wir das hin. Ihr löst das Problem, und ihr kommt darüber hinweg, dass Gerechtigkeit nicht nur darin besteht, dass man Recht bekommt.

Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich Aber sag e euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen!

Wenn wir weiter sehen als unsere eigene Nase, dann ist dies hier wirklich ernst. Die Rassenunruhen in den USA, Religionskriege und Verfolgungen, die endlose Diskriminierung auf Grund von Rasse, Hautfarbe, Religion, Kultur und Geschlecht – das gibt es überall. Mobbing unter Kindern und Erwachsenen zeigt, wie wir die persönliche Welt einteilen in „die und wir“, „draußen und drinnen“, „falsch und richtig“.

Wir sind auch schnell bei der Hand mit Beispielen, wie absurd Feindesliebe ist: Ein wirklicher Feind ist lebensgefährlich in seinem Hass und seiner Verfolgung! Hier gilt es, dass man wegkommt. Das ist eine Überforderung für den Gekränkten und Verletzten, dass er den lieben soll, der ihn misshandelt. Hier soll sich nicht das Opfer ändern, sondern der Täter, der die gemeinsame Menschlichkeit zwischen ihm und dem Opfer missachtet hat.

Jesus trifft die Sache nämlich auf den Punkt, wenn er die Forderung, für die Verfolger zu beten und den Feind zu lieben, mit der Vollkommenheit Gottes begründet.

Vollkommen. Wer möchte nicht gerne in diesen Zeiten vollkommen und perfekt sein, wo alles zur Schau gestellt wird, von Magenmuskeln bis zu Cupcakes. Perfekte Examen, perfektes Aussehen, perfekte Karriere, perfekte Interessen. Frage die jungen Leute, die sich dieser Tyrannei der Vollkommenheit nicht beugen wollen. Ist es nicht allein Sache Gottes, vollkommen zu sein? In der neuen dänischen Bibelübersetzung 2020 wird das Wort mit „vorbehaltlos“ übersetzt.

Gott lässt vorbehaltlos seine Sonne scheinen und den Regen fallen für Gute und Böse, Gerechte und Ungerechte, Richtige und Verkehrte. Die Sonne scheint und der Regen fällt auch für meinen Feind. Gott schenkt Leben, uns wird Leben geschenkt – und es ist allen Menschen gemeinsam, dass das Leben, das uns gegeben wird, beschützt wird – es ist verwundbar und verletzlich.

Dein und mein Feind ist auch ein Mensch, nicht notwendigerweise ein Mensch, den wir verstehen können – denn wenn wir das können, ist die Versöhnung nicht fern. Selbst in seiner Unverständlichkeit und Unnahbarkeit ist auch der Feind ein Mensch. Auch der Feind ist ein Nächster, der geliebt werden soll. Wie du selbst.

Jetzt wird es schwierig. In Wirklichkeit sind wir nicht immer so gut im Lieben. Hier meine ich nicht die Liebe, die wir unsererseits den anderen geben – das tun wir meistens.

Ich frage: Wie gut sind wir darin, Liebe zu empfange? Hand aufs Herz!

Vielleicht sitzt du und denkst: „Unsinn!“ – und siehst sogleich den frohen Blick deines Enkelkindes vor dir. Das ist doch das Leichteste von allem?

Ja – ist es das? Ein Geschenk annehmen, das mit großer Liebe gegeben ist, sich geliebt wissen, Vergebung empfangen, wenn man einen anderen tief verletzt hat und das auch weiß? Ist das leicht?

Es ist kein Zufall, dass es dem Jünger Petrus schwer fiel, seine Füße von Jesus waschen zu lassen.

In der Liebe verletzen wir einander tief – das ist unumgänglich, Liebe macht verletzlich. Und in der Liebe heilen wir vorbehaltlos selbst die tiefasten Wunden. Wir finden gemeinsam den Weg zur Versöhnung. Wir breiten Teppiche der Vergebung aus und wischen die Tränen des Geliebten ab – auch wenn das Herz in uns selbst zerbrochen ist. Wir reichen die Arme aus und tragen wieder. Wir vertrauen uns selbst ganz den Händen an, die verloren hatten, weggeworfen, uns das Leben schwer gemacht hatten.

So stark und überschwänglich, ungerecht und unvernünftig kann unsere menschliche Liebe sein. Jesus stellt uns die vollkommene, vorbehaltlose Liebe Gottes vor Augen und steht selbst mit seinem Leben dafür ein.

Er, die immer wieder vergibt! Wieder und wieder! Er richtet uns auf und heilt die Wunden, sendet und wieder aus mit einer neuen Aufgabe. Gabe und Aufgabe, die sind dasselbe. Du sollst lieben!

Und du sollst dich lieben lassen! Du sollst die vorbehaltlose Liebe annehmen, die auch deinem Feinde gilt. Auch wenn der Feind der ist, den du liebst. Auch wenn du selbst dein schlimmster Feind bist.

Da sind Sonnenaufgänge, Morgenlicht, Abenddämmerung, milde Briese und Regenschauer, Wolkenformationen, Vogelgesang, Nachbarn – auch für uns. Ganz gleich ob wir das verdienen oder nicht. Vorbehaltlos für uns – und für die, die wir nicht mögen und mit denen wir nicht klarkommen, und für die, deren kleinste Fehler uns tödlich verwunden, weil wir ihnen alles anvertraut haben, ihnen unser Herz geschenkt und anvertraut haben.

Das kostet uns auf lange Sicht das Leben – all diese Vorbehaltlosigkeit, all dieses Empfangen unverdienter Nachsicht, Langmut und Vergebung.

Auch an dem Tag steht er da, Christus, streckt die Arme aus um zu tragen – zu ertragen, uns hineinzutragen in das lichte Haus der Verklärung hin zu ihm, der uns vorbehaltlos seine Kinder nennt.

So seid ihr denn vorbehaltlos, wie unser himmlischer Vater vorbehaltlos ist! Amen.

 

Pastorin Anne-Marie Nybo Mehlsen

DK-4100 Ringsted

Email: amnm(a)km.dk

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