Wenn der Tod einen Sinn hat

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Wenn der Tod einen Sinn hat

Laetare am 14. März 2021 | Johannes 12, 20 – 24 | von Reiner Kalmbach |

Die Gnade Gottes, unseres Vaters, die Liebe Jesu, unseres Herrn und die lebensspendende Kraft des Heiligen Geistes seien mit uns allen. Amen.

Liebe Gemeinde!

Während in Europa der Schnee schmilzt und die Natur aus ihrem Winterschlaf erwacht, „der Bauer sein Rösslein einspannt“ und die dampfende Erde sich öffnet, um das Samenkorn zu empfangen, bereitet sich die Südhalbkugel auf den Winter vor. Dort die länger werdenden Tage und die besserwerde Laune, nach so viel Grau, Nässe und Kälte, und hier bei uns in Patagonien schon kalte Nächte und das Laub, das uns in allen Farben das Herz erfreut. Aber eben: es wird Winter, Zeit sich darauf vorzubereiten.

Es ist die Zeit des Übergangs, etwas vergeht, stirbt, damit Neues entstehen kann.

Während im Norden Ostern das Ziel ist, scheint der Süden nur bis Karfreitag zu kommen. Aber das stimmt natürlich nicht.

In der Stadt San Carlos de Bariloche gibt es eine wunderschöne Tradition: am Ostermorgen, wenn die Sonne über den Bergen hervorblinzelt und sich im riesengrossen Nahuel Huapisee spiegelt, feiern wir am Seeufer einen ökumenischen Ostergottesdienst. Manchmal pfeift uns ein eiskalter Wind um die Nasen, aber es ist immer ein unglaublich schönes Erlebnis: zu solch früher Stunde (in der Regel zwischen sieben und acht Uhr) kommen viele Familien mit ihren Kindern. Ich muss zugeben, dass ich mich jetzt schon auf diesen Gottesdienst freue. Aber noch ist es nicht soweit…

Passionszeit, Zeit des Übergangs, unvermeidlich!

Das heutige Predigtwort lädt uns ein, einen Halt zu machen. Rückschau zu halten, bevor wir nach vorne blicken. Wo kommen wir her und wohin führt der Weg… Das hat sicherlich auch Jesus getan: Was liegt hinter mir? Was muss ich jetzt zurücklassen? Kann ich das, was vor mir liegt, auf mich zukommt, annehmen? Bin ich dazu bereit?

Hören wir aus dem Evangelium des Johannes, dem 12. Kapitel, die Verse 20 bis 24

Textlesung

Das „Volk“, zumindest viele aus dem Volk, hatten Jesus einen grossartigen Empfang in Jerusalem bereitet. Das war Symbolik hoch drei! Wie einst der junge König David, so jetzt Jesus: auf dem Rücken eines Esels, der Einzug in die Hauptstadt Israels. Jerusalem: Gibt es eine andere Stadt die noch symbolträchtiger ist? Wohl kaum. Nicht einmal Rom kann sich mit der Geschichte und der Bedeutung Jerusalems messen.

Nun ist er hier, der Nazarener. Für viele der Messias, endlich!, für andere, besonders für die herrschende Schicht des Klerus in Jerusalem, ein Aufwiegler. Ja, Jesus ist angekommen, das Ziel ist nahe. Ganz langsam nimmt er diese Tatsache in sein Bewusstsein auf. Er sucht nach einer Antwort auf das „Warum“ seines Todes… und weiss doch, es gibt kein Zurück mehr, keine Umkehr. Das Unausweichliche ist jetzt ganz nahe.

Es ist fast so, als ob als nächstes Karfreitag käme. Aber noch ist es nicht soweit.

Ausblick

Wir stehen sozusagen auf der Schwelle: hinter uns liegt…, vor uns… Bald werden wir das Alte hinter uns lassen, endgültig! Bald werden wir etwas ganz Anderes, etwas ganz Neues erleben. Aber: es fehlt noch ein letzter Schritt, ohne diesen Schritt kann es das Neue nicht geben.

Jesus steht auf dieser Schwelle, schaut noch einmal zurück und hat Angst diesen letzten Schritt zu tun. So stelle ich es mir jedenfalls vor.

Wir alle wissen, dass auf Jesus das Kreuz wartet, wir alle haben auch unsere Vorstellungen von diesem grausamen Ende eines Menschen, der doch nur Liebe und Frieden um sich ausgebreitet hat. Noch ein Sieg der menschlichen und irdischen „Gerechtigkeit“ (und was manche sich darunter vorstellen) über die Würde des Lebens. Denn: Jesus wird ja nicht einfach ermordet, es gibt ein ordentliches Verfahren, dessen Ausgang jedoch schon vor seinem Beginn feststeht. Es wird „Recht“ gesprochen.

Aber Johannes erwähnt das Wort „Kreuz“ gar nicht, er denkt hier viel weiter, er hat das Kreuz schon hinter sich gelassen, er ist schon am Ziel angekommen, am wirklichen Ziel.

Für Johannes geht es um „Verherrlichung“. Das Kreuz wird nicht als Erniedrigung und Demütigung verstanden, sondern als „Erhöhung“. Gott ist also gerade im Tod präsent und verwandelt ihn. Die Würde Jesu wird durch und in seinem Tod nicht preisgegeben, sondern sie offenbart sich gerade hier. Aber das kann die Welt nicht verstehen! Die Welt hat ja das Kreuz erfunden, es aufgerichtet, damit sie das Leben besiegt. Dieser Mensch darf nicht mehr leben! Der Mensch, Herr über Leben und Tod! So jedenfalls denken und handeln jene, die sich als die Herren dieser Welt verstehen.

Dunkelheit

Das Bildwort vom Weizenkorn: nur wenn es in die Erde fällt und stirbt, bringt es Frucht, d.h. Leben. Wenn es aber nicht in die Erde fällt, bleibt es allein. Dem Nichtsterben entspricht das Alleinsein, dem Sterben das Fruchtbringen und die Vermehrung.

Wir verbinden mit dem Weizenkorn zuerst einmal Jesu Leiden und Sterben: Jesus blieb nicht „allein“, sondern ging in den Tod, um Frucht zu bringen. Wer ist mit der Frucht gemeint? Die Gemeinde! In Jesu Tod erkennt die Gemeinde Gottes hingebende Liebe, von der sie lebt und auf die sie sich verlässt.

Aber, der Vergleich mit dem Weizenkorn hinkt. Das Weizenkorn „stirbt“ nicht, in ihm lebt bereits der Keim für neues Leben. Und was ihn umschliesst, dient ihm als Nahrung. In der Natur geht es also um Kontinuität. Aber das Weizenkorn in der Erde verändert seine Form. Vielleicht könnten wir das Wort Jesu so verstehen: die jetzige Existenzform Jesu und damit auch seine „Sache“ muss aufgegeben werden, damit die Keimkraft sich entfalten kann. Denn bis jetzt spielt sich das Leben und Handeln Jesu als etwas vollkommen Irdisches ab und ist somit vergänglich, wie alles Geschaffene. Ein Mann sammelt Anhänger um sich und gewinnt sie für eine neue Art zu leben. Das ist nichts Neues und auch nichts Besonderes. Zu allen Zeiten gab es Männer und Frauen die „aus der Reihe“ tanzten und etwas ganz Neues wagten. Johannes der Täufer hatte ebenfalls Jünger um sich geschart und hatte, was die Messiasfrage anbelangt, durchaus seine Zweifel. Er möchte selbst gerne wissen, ob Jesus nun der Messias ist, oder ob er (und die Juden) auf einen anderen warten sollen.

Auch läuft das, was Jesus zu seinen Lebzeiten getan hat, nach Ostern und bis heute weiter: Einer gibt es jeweils dem anderen weiter. Das ist die zentrale Aufgabe der Kirche, das ist die Aufgabe der Eltern, Paten und Grosseltern. Was hat sich dann nach Karfreitag geändert? In diesem Weitergeben ist der erhöhte Herr selbst gegenwärtig und wirksam. Die Boten Jesu brechen auf, um alle Völker zu Jüngern zu machen. Und sie tun dies in dem Wissen, dass es die Kraft Gottes ist, die einen ganz normalen Menschen zu einem Jünger macht. Der Ruf „folge mir nach!“ ist wie der Wind den man hört, aber nicht sieht, und doch spürt man seine Kraft.

Jesus wird verherrlicht, er kehrt in den „Raum“ Gottes zurück, aus dem er gekommen ist, ihm wird der Name über alle Namen gegeben, wie es einst Jesaia, 700 Jahre vor Christi Geburt, verkündet hat. Ist seine Wirksamkeit jetzt an Raum und Zeit gebunden, wird sie hernach uneingeschränkt sein. Wohin immer die Boten kommen werden, um Menschen zu ihm einzuladen, wird er gegenwärtig sein. Wo immer sich zwei oder drei in seinem Namen versammeln, da wird er mitten unter ihnen sein. An unzähligen Altären zugleich wird man ihn empfangen können. Das Weizenkorn wird sich vervielfältigt haben, die Wirksamkeit Jesu wird weltweit geworden sein. Nur deshalb kann ich in Patagonien, umringt von hohen Bergen, diese Predigt schreiben. Eben weil seine Botschaft bis hierher gekommen ist und mit dieser Botschaft der Auferstandene selbst. Und meine Wenigkeit? Ich wäre ohne das Evangelium sicherlich in meinem geliebten Schwabenland geblieben…

Das ist aber nur möglich, weil das Weizenkorn in die Erde gefallen ist. Jesus stirbt, schlimmer noch: er wird hingerichtet! Alles was er zu seinen Lebzeiten gewollt, getan, gesagt hat, wird zerstört, es wird buchstäblich ausgelöscht. Es ist der Sieg des Irdischen über Gott selbst. Und in Jerusalem steht der Schampus bereits im Kühlschrank. Dieser Sieg muss gefeiert werden!

Jesus und sein Werk sind gescheitert. Er muss in die tiefste Anfechtung, er hat Todesangst, denn er wird nicht nur von den Menschen, sondern auch von Gott verlassen.

Mein Grossvater hat mir erklärt: „das Geschöpf (der Mensch) hat seinen eigenen Schöpfer hingerichtet, für eine kurze Zeit war die Welt und ihre Geschichte ohne Gott…, führungslos.“

Auf dieses Ende geht Jesus zu. Wenn er aber weiss, oder ahnt, dass dies der einzige Weg ist, um verherrlicht zu werden, muss er dann Angst haben? Das haben mich schon viele Menschen gefragt. Er weiss doch, dass „danach“ das Leben auf ihn wartet. Und wir, wissen wir es nicht auch? Wir glauben doch auch an die Auferstehung, trotzdem haben wir Angst vor diesem letzten Schritt.

Jesus ist hin- und hergerissen. Er fühlt, denkt und leidet wie ein ganz normaler Mensch. Aber am Ende steht über allem sein Gehorsam: „Vater, willst du, so nimm diesen Kelch von mir; doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe.“

Gehorsam

Das Gesetz des Weizenkorns gilt für jeden Christen. Nicht, dass jeder Christ ein Christus sei. Aber der Weg, den Jesus gegangen ist, wird bestimmend auch für den Weg der Jünger. Jesu Passion wirkt in ihr Leben hinein. Es ist wahr, dass Jesus in seinem Sterben auf sich nimmt, was wir nun, weil er es getan hat, nicht mehr zu tragen haben, er also stellvertretend für uns kämpft und stirbt. Man kann Jesu Tod am Kreuz nicht im Nachfolgegedanken aufgehen lassen. Aber wir schauen auch nicht aus der Ferne mit verschränkten Armen zu, wie Jesus stirbt.

Andererseits, in den Abschiedsreden bereitet Jesus seine Jünger auf diese Nachfolge vor und auf das, was auf sie in einer Welt voller Hass und Gewalt erwartet. Sie sollen sich nicht darüber wundern. Deshalb wissen wir, dass das Christsein unter Umständen auch etwas kostet. Die meisten Christen sind sicherlich keine angehenden Märtyrer. Aber es hat auch in unserer Zeit immer wieder Märtyrer gegeben. Das Sterben Dietrich Bonhoeffers geschah in einer gehorsamen Gefasstheit und in der Gewissheit der Hoffnung, die dem anwesenden Arzt unvergesslich geblieben ist.

Es ist Gottes Sache, für den einzelnen Christen zu bestimmen in welcher Art das Gesetz des Weizenkorns sich auch in seinem Leben offenbaren wird.

Jesu Wort will uns jedenfalls dafür willig und bereit machen. Luther betet: „Du erhöhst uns, wenn du uns erniedrigst; du führst uns gen Himmel, wenn du uns in die Hölle stössest, du gibst uns Sieg, wenn du uns unterliegen lässest, du machst uns lebendig, wenn du uns töten lässest.“

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Christsein heisst nicht sich auf ein hartes, entbehrungsreiches Leben einzulassen, sondern es geht um die wahre Freiheit (eines Christenmenschen, wie Luther es formulieren würde).

Einfach einmal „nein“ sagen, nicht mit dem Strom schwimmen, wie die Masse, unbequem sein, seine Stimme erheben, wenn andere schweigen, genau hinsehen, wenn andere wegschauen…, dazu gehört auch heute noch Mut, „Zivilcourage“. Wenn mein christlicher Glaube für mich eine Existenzfrage ist, dann lässt mir mein Gewissen unter Umständen keine andere Alternative, als eben gegen diesen Strom anzuschwimmen. Das könnte auch in die Einsamkeit führen.

Aber auch: ein erfülltes, ein wahres Leben kann gerade in der Nachfolge des Gekreuzigten erfahren werden. Wir dürfen erfahren, dass Christus Leben gibt, wo wir befürchtet hatten, es zu verlieren. Man wird reicher, fröhlicher, glücklicher, gesünder und auf jeden Fall freier, wo man sich nicht selber sucht und meint, sondern Jesus „dienen“ will und den Menschen, zu denen man von Jesus gesandt wird. Man findet das Leben, wenn man es in der Nachfolge Christ drangibt.

Das Weizenkorn verkommt, aber es entsteht sozusagen und immer wieder eine neue Generation von Weizen.

Ich bin froh und dankbar eines dieser Körner zu sein. Meine Zukunft ist gesichert!

Amen.

Reiner Kalmbach, Pfarrer

Evang. Kirche am Río de la Plata

und

Vereinigte Evangelisch-Lutherische Kirche

San Martin de los Andes / San Carlos de Bariloche – Argentinien

Mail: reiner.kalmbach@gmail.com

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