Wenn wir in höchsten Nöten sein“

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Wenn wir in höchsten Nöten sein“

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


(Zur Übersicht der
Predigtreihe)

Predigtreihe „Passion im Lied“ – Reminiscere,
11.3.2001

EG 366 „Wenn
wir in höchsten Nöten sein“, Peter Kusenberg


Den Menschen ausgeliefert

Wenn wir in höchsten Nöten sein und wissen nicht, wo aus
noch ein, und finden weder Hilf noch Rat, ob wir gleich sorgen früh und
spat,
so ist dies unser Trost allein, dass wir zusammen insgemein dich
anrufen, o treuer Gott, um Rettung aus der Angst und Not,
und heben unser
Aug und Herz zu dir in wahrer Reu und Schmerz und flehen um Begnadigung und
aller Strafen Linderung,
die du verheißest gnädiglich allen, die
darum bitten dich im Namen deins Sohns Jesu Christ, der unser Heil und
Fürsprech ist.
Drum kommen wir, o Herre Gott, und klagen dir all unsre
Not, weil wir jetzt stehn verlassen gar in großer Trübsal und
Gefahr.
Sieh nicht an unsre Sünde groß, sprich uns davon in
Gnaden los, steh uns in unserm Elend bei, mach uns von allen Plagen frei,

auf dass von Herzen können wir nachmals mit Freuden danken dir;
gehorsam sein nach deinem Wort, dich allzeit preisen hier und dort.

Liebe Gemeinde,

das Hauptlied für den heutigen Tag steht unter der
Überschrift „Angst und Vertrauen“ im Gesangbuch. Es entstand
1566, 20 Jahre nach dem Tod Martin Luthers. Zu dieser Zeit ist die
Ausbreitungskraft des evangelischen Glaubens erlahmt. Zwar droht den
Anhängern Luthers kein unmittelbarer Krieg mit dem Kaiser mehr. Aber in
der Enge der damaligen Kleinstaaten mit ihrer Uneinigkeit und den Kämpfen
der Fürsten untereinander geht der Streit um die Religion weiter. Rund 50
Jahre später wird er im Dreißigjährigen Krieg seinen
furchtbaren Höhepunkt erreichen.

In dieser Zeit also dichtet Professor Paul Eber, Stadtpfarrer und
Superintendent in Wittenberg, seine Verse „Wenn wir in höchsten
Nöten sein“ – mit heutigen Worten: „Wenn wir in
größter Not sind“. Da bricht in sieben Versen ein regelrechter
Wortschwall hervor, lauter Ausdrücke der Verzweiflung: „Not, Angst,
Elend, Schmerz, Plagen, Trübsal, Gefahr“. Er fühlt sich hilflos,
ratlos, verlassen.

Was sich da an Unglück in seinem Lied anhäuft, erinnert
mich an manche Psalmen des Alten Testaments, in denen der Beter Gott schildert,
wie ausweglos er sich fühlt, wie ausgeliefert an fremde, dunkle
Mächte. Und hier wie dort empfindet der, der spricht, das Unglück als
Strafe Gottes: Wir „heben unser Aug und Herz / zu dir in wahrer Reu und
Schmerz / und flehen um Begnadigung / und aller Strafen Linderung“. Und:
„Sieh nicht an unsre Sünde groß, / sprich uns davon in Gnaden
los.“

Ich gebe zu, ich habe Schwierigkeiten mit der Wortwahl dieser
Verse. Ihr altertümlich büßerhafter Grundton reizt mich zum
Widerspruch. Unglück, Bedrängnis soll Strafe Gottes sein für
meine Schuld? Was für ein düsteres Bild von Gott wird mir da
gezeichnet? Mein Eindruck ist: Er kommt mir vor wie die bedrohliche, strafende
Figur, mit der früher unartigen Kindern Angst eingejagt wurde.

Sicher liegt der Grund zu einem großen Teil darin, dass in
der Vorstellungswelt des 16. Jahrhunderts Kriege, Naturkatastrophen,
Unglücke und Seuchen weitgehend als Strafen Gottes angesehen wurden, weil
die Menschen noch keine Kenntnis von deren Ursachen besaßen. Und ich
nehme auch an, dass sie sich Gott als Herrscher ganz ähnlich vorstellten
wie die weltlichen Fürsten, Könige und Kaiser ihrer Zeit. – So
erkläre ich mir den demütigen Ton des Liedes.

Aber wir leben nicht mehr im 16. Jahrhundert wie Paul Eber, der
Dichter unseres Liedes. Wir wissen, dass Kriege immer von Menschen angezettelt
werden, wir erforschen die Ursachen für Naturkatastrophen, und wir kennen
die Erreger fast aller Krankheiten. Wir leben in einer Demokratie, und die
Vorstellung von Gott als einer Art himmlischer Bundeskanzler wäre nur
komisch.

Wir sind inzwischen weit davon entfernt, es als Strafe Gottes
anzusehen, wenn uns ein Unglück trifft. Es ist eher umgekehrt so, dass wir
manchmal die Frage hören: „Wie konnte Gott das zulassen?“, zum
Beispiel, wenn ein junger Mensch stirbt. Die Zeiten haben sich geändert.

Sollen wir also das Lied nicht mehr singen, hätte es
vielleicht sogar bei der Zusammenstellung des neuen Gesangbuches vor einigen
Jahren unter den Tisch fallen sollen?

Nein. Liedertexte früherer Tage sind – genau so wie die
noch viel älteren biblischen Überlieferungen – Dokumente des
Glaubens an Gott aus einer bestimmten Zeit. Und es zeigt sich –
unabhängig vom Wandel der Zeiten –, dass Menschen die gleichen Fragen
stellen, die ähnlichen Ängste haben wie ihre Vorfahren oder Urahnen.

„In höchsten Nöten sein“, sich in
größter Not befinden – das erleben Menschen ja auch heute, zwar
unter anderen Umständen, aber nicht weniger bedrohlich als vor 450 Jahren.
Die Furcht ist geblieben, die uns manchmal überfällt: wir
„wissen nicht, wo aus noch ein.“ Ich bin sicher, dass jeder von uns
dieses Gefühl schon gespürt hat, ganz besonders dort, wo wir unter
der Willkür anderer Menschen leiden.

Schüler, von Mitschülern verspottet, schikaniert und
gejagt… Jeder Schultag ein neuer Tag voll Angst, Alpträume in der
Nacht.

Angestellte, vom „Mobbing“ ihrer Kollegen krank
gemacht… Jeder Arbeitstag ein neuer Tag der Demütigungen und
Herabsetzungen.

Lebenspartner, in deren Beziehung nur noch das Recht des
Stärkeren gilt… Jeder Wochentag ein neuer Tag des Kampfes mit
bösen Worten oder noch Schlimmerem.

Menschen, denen ein Nachbar das Leben zur Hölle macht…
Jede Woche eine neue Woche der Giftigkeiten bis hin zum Treffen vor Gericht.

„Wenn wir in höchsten Nöten sein“. – Ja,
das ist bis heute geblieben: die seelische Not, bis zur Verzweiflung, weil ich
anderen Menschen ausgeliefert bin, die mich drangsalieren, sei es
körperlich, sei es durch verächtliche Worte, herabsetzendes
Geschwätz, durch Neid, Lüge oder Streit.

„So ist dies unser Trost allein, / dass wir zusammen
insgemein / dich anrufen, o treuer Gott, / um Rettung aus der Angst und
Not.“ – Gott gemeinsam anrufen im Gebet. Wir haben es hier im Raum
Göttingen im vergangenen Jahr miterlebt, wie eine Gemeinde sich zum
wöchentlichen Gebet traf, weil eine Familie in der extremsten Form der
Willkür anderer Menschen ausgeliefert war: als Geiseln auf der Insel Jolo.
Und wir haben später von den Freigelassenen gehört, wie hilfreich und
stärkend es für sie in der Gefangenschaft war, dass sie wussten: es
wird für uns gebetet.

Gott gemeinsam anrufen im Gebet. Gehen wir ein Dutzend Jahre
zurück. Es waren Gebete, die großen gemeinsamen Gebete, die am
Anfang der Wende in der DDR standen. Die übervollen Kirchen, die
großen, friedlichen Demonstrationen im Anschluss daran – wir haben
die Bilder noch nicht vergessen.

Beten kann helfen. Im Gebet trete ich in Zwiesprache mit Gott. Ich
trete damit aus meinem Alltag heraus, in einen geschützten Raum. Und wenn
ich bete, erinnere ich mich daran, dass ich nicht allein bin in meiner
Ausweglosigkeit. Dass ich mich mit meinem „weder aus noch ein“ an
Gott wenden kann. Es ist ja bereits ein erster Schritt, wenn ich Gott
gegenüber offen ausspreche, was ich erlebe, was mir Angst macht, weil es
auf diese Weise für mich klarer wird und nicht mehr in seiner nebelhaften
Bedrohlichkeit verharrt.

Beten kann auch helfen, weil sich im Zwiegespräch mit Gott
die Gedanken ordnen lassen. Ich beginne Stück für Stück zu
sortieren, was mich bedrängt, indem ich es nacheinander ausspreche. Es
stürzt nicht mehr alles gleichzeitig auf mich ein. Ich kann mich auf das
Wesentliche, Wichtige konzentrieren. Und mit dem Blick auf das, was wichtig
ist, erkenne ich den Weg, den ich gehen kann.

Wir sind in der Passionszeit. Wieder gehen wir in diesen Wochen
mit unseren Gottesdiensten und Andachten den Leidensweg Jesu nach. Was manchen
seiner Anhänger zunächst noch wie der krönende Höhepunkt
seines Wirkens zu werden schien, kehrt sich um in die Katastrophe. Zwischen den
Jubelrufen der Menge bei der Ankunft Jesu in Jerusalem und den
Sprechchören „Kreuzige ihn!“ liegt nur eine kurze Zeit.

Doch bevor es dazu kommt, geht Jesus in den Garten Gethsemane, um
zu beten. Bevor er sich in die Gewalt seiner Gegner ausliefert, sucht er das
Gespräch mit Gott. Nicht kraftvoll und zuversichtlich, sondern mit Zittern
und Zagen, wie es in der Bibel heißt. Wie oft hat er seinen
Gefährten zugerufen „Fürchtet euch nicht!“ – und nun
ist er selbst voller Todesangst, „in höchsten Nöten“.

Er bittet drei seiner Jünger, mit ihm Gebetswache zu halten,
doch die sind zu müde, um ihm beizustehen. So ist er allein. Drei Mal
kämpft er mit der drückenden Furcht vor dem letzten Teil seines
Weges: „Mein Vater, ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir
vorüber; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst!“

An keiner anderen Stelle der Bibel wird für mich die
unglaubliche Kraft des Gebetes so deutlich wie hier. Oft habe ich mich gefragt,
ob ich das in einer ähnlichen Situation auch könnte. Oft habe ich mir
gesagt: Nein, so stark bist du auf keinen Fall.

Aber manchmal sind mir dann auch Menschen eingefallen, die ebenso
wie Jesus „in höchsten Nöten“ durch das Gebet die Kraft
fanden, ihren Weg weiter zu gehen. Von den römischen Zirkusarenen der
ersten Christenheit bis zu den Gefängnissen, Konzentrationslagern oder
Elendsquartieren der Neuzeit reichen die Beispiele.

Ich war, Gott sei Dank, noch nie anderen Menschen auf Tod und
Leben ausgeliefert. Doch das Gefühl, von anderen „auf Gedeih und
Verderb“, wie wir sagen, abhängig zu sein, das habe ich schon erlebt.
Die innere Not, „nicht aus noch ein“ zu wissen, das Durcheinander der
Gefühle, der Gedanken – das ist mir nicht fremd.

Ich weiß auch, dass es manchmal schwer sein kann, dann zu
beten. Manches Mal war ich zu müde, zu erschöpft. Wie die Jünger
in Gethsemane. Doch es hilft mir, dass Jesus gesagt hat: Euer Vater weiß,
was ihr bedürft, ehe ihr ihn bittet. Das gibt mir Luft und macht mich
frei, es immer wieder zu probieren: Gott zu bitten und ihm zu danken. Allein
und gemeinsam mit anderen.

Amen.

Peter Kusenberg
Pastor und freier Journalist
Adelebsen-Erbsen
E-mail:
peter.kusenberg@kirche-erbsen.de


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