Wider das Denken: “Die und Wir“!

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Wider das Denken: “Die und Wir“!

11. Sonntag nach Trinitatis | Lukas 7,36-50 – 5. Mose 30,15-20; Römer 10,4-13 (dänische Perikopenordnung) | verfasst von Jens Torkild Bak | aus dem Dänischen übersetzt von Eberhard Harbsmeier |

 

Man kann sich viele Gedanken machen über die sogenannte Sünderin im Hause des Pharisäers Simon. Sicher ist, dass sie sich stark von der übrigen Gesellschaft unterscheidet. Aber nicht sie ist die Hauptperson, sondern Simon, und dies ist er wegen seines Hasses auf die Frau. Warum Hass? Allzu selten stellen wir diese Frage. Woher kommt dieser Hass? Der Grund dafür, dass wir diese Frage so selten stellen oder eher sie für naiv halten, liegt vielleicht darin, dass wir in einer Kultur leben, die in dem Gegensatz „Die und Wir“ denkt und starke innere Werte mit der Furcht vor der Umwelt verbindet. Warum kann Simon nicht genug haben an dem, was ihm gehört, an der Freude über das Gesetz und dessen Verhaltensregeln, die für ihn die Wahrheit repräsentieren? Woher kommt der Hass gegen den anderen? Jesu Tagesordnung ist eine ganz andere.

Der englische Historiker und Autor James Hawes veröffentlichte 2017 eine Geschichte Deutschlands, die nicht nur an der Spitze der Bestsellerliste in der Sunday Times stand, sondern auch wegen einigen markanten Pointen viel beachtet wurde, nicht zuletzt in Deutschland, was ja verständlich ist. „The Shortest History of Germany“ hieß sie, oder „Die kürzeste Geschichte Deutschlands“ in der deutschen Ausgabe., die nach einem Jahr erschien. Vor den Sommerferien hatte ich das Glück, sie von einem deutschen Bekannten geschenkt zu bekommen.

James Hawas ist übrigens mit einer Deutschen verheiratet und allein schon deshalb mit Deutschland vertraut. Er beginnt seine Geschichtserzählung (die in hohem Maße an unsere eigene dänische Geschichte erinnert, was hier im Jubiläum der Wiedervereinigung mit Nordschleswig ganz deutsch wurde) 500 Jahre vor Christi Geburt und endet erst mit Angela Merkel und der Gegenwart. Dabei ist nämlich der Grundgedanke der, die Geschichte in einer langen Perspektive zu sehen und hierbei zu entdecken, wie Ereignisse, die zeitlich weit zurückliegen, noch immer die Gegenwart bestimmen und formen. Das ist eine sehr, sehr faszinierende Perspektive, die ich hier nicht im Einzelnen entfalten will. Ich will nur auf einige Pointen des Buches verweisen – vielleicht die Pointen, die den Rezensenten in der „Zeit“ zu der Bemerkung veranlasst haben, der Autor habe mit seinem Buch „Furore“ gemacht!

Erstens sagt Hawas, kann es nicht verwundern, dass es so schwierig war und weiter ist nach dem Fall der Mauer, Ost- und Westdeutschland zu vereinen. Diese Schwierigkeit geht auf das Römische Reich zurück, dem es nie gelang, dauerhaft östlich der Elbe Fuß zu fassen. Und so wird es weiterhin sein, denn durch Deutschland zieht sich eine historisch bedingte Grenze zwischen zwei ganz unterschiedlichen Kulturen und Einflüssen. Und diese Grenze verläuft an der Elbe. Das vereinte Deutschland war allein das Projekt Bismarcks aus dem Jahre 1871, ein Projekt, das im zwanzigsten Jahrhundert denn auch zu zwei großen Katastrophen führte.

Zweitens überlegt Hawes, wer die Leute waren, die Hitler und sein Hassregime an die Macht gebracht haben. Und Hawes hat sich in diesem Zusammenhang mit dem konfessionellen Hintergrund der Anhänger Hitlers beschäftigt. Gemessen an der Lage im Jahre 1932, so notiert er sich, hat Hitler in den Gebieten Deutschlands mit überwiegend katholischer Prägung eine Unterstützung von 17% der Bevölkerung, in überwiegend protestantischen Gebieten dagegen waren es 83%. Das tut weh, wenn man das als Lutheraner liest. Auch wenn die Wirklichkeit hinter den Zahlen sicherlich mehr komplex ist, als die nackten Zahlen angeben, wenn man es näher analysiert, stellt dieser Befund dennoch die These infrage, dass Christentum und Politik nichts miteinander zu tun hätten. Worum es hier geht: Hawes deutet an, dass das Luthertum die lutherische Kultur geprägt hat in einem Denken des „Die und Wir“ und einer Vorstellung, Opfer (feindlicher) Kräfte zu sein, die uns die Wahrheit rauben wollen. Kann das auch eine unabsichtliche Voraussetzung gewesen sein für den Hass, von dem der Nationalsozialismus lebte?

Natürlich stellen sich hier mehrere Fragen, z.B. diese: Liegt ein Teil der Erklärung auch in einer besonders lutherischen Kultur der Pflicht uns des Gehorsams? Was wäre geschehen, wenn der Papst zusammen mit seinen lutherischen Brüdern unter Pastoren, Pröpsten und Bischöfen bei Hitler vorstellen geworden wären am Tag nach dessen berühmter Rede im Reichstag im Januar 1939 – wo er die Ausrottung der Juden in Europa und den Tod für jeden Geistlichen ankündigte, der sich ihm widersetzte, und wenn sie ihm gesagt hätten: Dann musst du mit uns anfangen! Eingedenk der Worte Jesu in der Bergpredigt: Fürchtet nicht die, die den Leib töten, aber nicht die Seele töten können …

Für den Pharisäer Simon ist der Glaube in der Praxis eine Sammlung von Verhaltensregeln, die einzuhalten sind; wenn das nicht geschieht, wird man ausgestoßen, aus der Gemeinschaft verstoßen, aus dem Kollektiv, der Gesellschaft. In besonderen Fällen droht Steinigung – davon lesen wir an einigen Stellen – als der sichtbare und konsequente Ausdruck des Zorns und der Strafe Gottes.

Für Jesus ist der Glaube ein persönliches Verhältnis zwischen Gott und dem Einzelnen, und das demonstriert er, indem er sich physisch an die Seite der Sünderin gegen Simon. den Wächter der Moral, stellt. Nicht dass die Sünderin keine Sünderin ist, das ist sie gewiss. Aber darüber hat Simon nicht hasserfüllt zu urteilen. Das ist allein eine Sache zwischen ihr und Gott. Gott allein ist der, der einen Menschen richtet und – in seiner Gnade – wiederaufrichtet. Da geht weder Simon noch irgendeinen anderen Menschen etwas an. Mit Jesus ist die Zeit der Gesetzesreligion vorbei – verstanden als gesellschaftliche Praxis, die Gott für eine bestimmte Gesellschaftsordnung in Anspruch nehmen will. Diese Ordnung ist vorbei und ersetzt durch die Zeit der Gnade. Wie Paulus das in der Epistel dieses Sonntags zum Ausdruck bringt: Jesus ist das Ende des Gesetzes. Klar – für den, der Gott als ein Regelwerk betrachtet, dem man folgen muss, wird das Gottesverhältnis des Christen, das aus Glaube und Vertrauen lebt, gleichbedeutend mit Atheismus und Unglaube.

Aber ist das nicht zu billig, das mit dem „Ende des Gesetzes“? So werden der Pharisäer Simon und viele andere fragen.

Nein, es wird unter allen Umständen nie leicht, ein Mensch zu sein in dieser Welt, wo die Zeit, oder wie die Alten sagen würden: die Vergänglichkeit, über uns herrscht.

Ein jeder, der in der Welt lebt und handelt, weiß, dass die Zeit der Gott ist, der einen Strich zieht für uns und sagt: zu spät, verkehrt, verloren und überhaupt nicht gut genug. So hat dieser Gott sicher oft zu unserer Sünderin gesprochen, so wie er oft zu uns allen gesprochen hat. Haben wir die Zeit zum Gott, brauchen wir keinen weiteren richtenden Gott mehr.

Wenn es also in dieser Welt dennoch Freude, Dankbarkeit, Liebe und sogar ein wenig Seelenfrieden gibt, so ist das ausschließlich ein Werk der Gnade. Wenn der Sünder und die Sünderin eine Chance haben, so ist dies das Werk der Gnade. Wenn der Mensch eine Chance hat, ist dies das Werk der Gnade. Oder: das Werk der Ewigkeit.

Das ist natürlich schade für den Pharisäer Simon. Er denkt so, wie er erzogen ist und wie man unter dem herrschenden Wahrheitsregime denkt. Und er erlebt eine Überraschung in dem Wort Jesu von Liebe und Vergebung – und durch den Rollentausch, der sich in den Worten Jesu vollzieht. Wenn die Sünderin wegen ihres guten Werkens hervorgehoben wird, während er, Simon der Reine, wegen seiner Hartherzigkeit gescholten wird.

In der ersten Lesung dieses Sonntags aus dem 5. Buch Mose konfrontiert der eifrige Gott des Gesetzes uns mit dem Leben und dem Glück einerseits und dem Tod und dem Unglück andererseits. Wenn du auf die Befehle von Gott deinem Herrn hörst, geht es dir gut. Wenn nicht, gehst du zugrunde. Das ist eine sehr einfache Logik, aber ein furchtbares Regime, wenn man damit leben muss. Das Leben wird Gesetz, Regeln, Verurteilung, Furcht, Angst und scheeläugige Pharisäer. Das har Paulus begriffen: Der Gott des Gesetzes schafft Menschen des Gesetzes, eifrige Paragraphenreiter.

In seiner Offenbarung in Christus erweist Gott sich als der, der alles in der Perspektive des Menschen sieht. Und da macht sich eine unfassbare Großzügigkeit breit, wenn weder die Zeit noch das Gesetz länger Gott sind – sondern Gott selbst sich als Liebe offenbart. Wenn zu spät nicht mehr zu spät ist in der Perspektive der Ewigkeit. Wenn der Richter zum Verteidiger geworden ist, und der Mensch sich selbst im Spiegel der Gnade sieht, der unsere verlorene Möglichkeit wiedergewonnen zurückgibt.

Auf Golgatha wendet Gott in der Gestalt Jesu Christi, wenn man so sagen darf, das Gesetz gegen sich selbst. Er will nicht Hass, sondern Versöhnung, und das ist im Christentum das Fundament, auf dem die Hoffnung beruht, die Hoffnung für den einzelnen Menschen, für das Leben zwischen uns und für die Welt. Wo sich der Hass der Selbstgerechtigkeit dadurch auszeichnet, immer sich selbst zu retten, wer oder wie viele auch dafür geopfert werden müssen, und wie viele hasserfüllte Verdrehungen der Wahrheit dabei auch erforderlich sind, so handelt Gott in der Gestalt Jesu von  Nazareth in Solidarität mit der Sünderin und dem verletzlichen Menschenleben und opfert sich für jeden von uns, ohne sich vor dem Leid, den Abwegen und dem Schmerz des Lebens zu verstecken und vor allem ohne einen Sündenbock zu finden. Das eben ist das Lehrstück vom Unterschied zwischen Jesus und dem Pharisäer Simon, für uns alle ein gutes Lehrstück. Einen frohen Sonntag. Amen.

 

Dompropst Jens Torkild Bak

DK-6760 Ribe

Email: jtb(at)km.dk

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