Wie wir beten sollen

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Wie wir beten sollen

Predigt zu Matth. 6,5–15 | verfasst von Dietz Lange |

Liebe Gemeinde!

Als ich Konfirmand war, also in grauer Vorzeit, mussten wir vieles auswendig lernen: Luthers Kleinen Katechismus ganz, das Glaubensbekenntnis, etliche Kirchenlieder mit sämtlichen Strophen und natürlich das Vaterunser. Das hat sich längst geändert. Aber jedenfalls das Vaterunser können wir noch alle. Ist dann nicht eine Predigt darüber ganz überflüssig? Ganz im Gegenteil! Über Worte, die uns so vertraut sind, denken wir oft gar nicht mehr nach. Dann aber droht uns ihr Sinn zu entschwinden, und das Gebet hört auf ein Gebet zu sein. Man spricht die Worte allzu leicht nur noch gewohnheitsmäßig vor sich hin und ist in Gefahr, gar nicht recht bei der Sache zu sein. Ich will mich selbst da gar nicht ausschließen. Aber das ist genau, was Jesus meint, wenn er sagt: Ihr sollt nicht plappern wie die Heiden.

Freilich ist unsere Lage heute völlig anders als zu der Zeit, da Jesus das Vaterunser formulierte und es seinen Jüngern vorsprach. Damals waren Gebete für die Menschen noch selbstverständlicher Bestandteil ihres Lebens. Es gab sogar Leute, wie wir eben gehört haben, die an den Straßenecken standen und laut beteten, damit alle Welt sah und hörte, wie fromm sie waren. Auf uns Menschen des 21. Jahrhunderts wirkt das geradezu peinlich. Aber Jesus hat das noch so erlebt und fand es abstoßend. Deshalb sagte er: Wenn du beten willst, dann geh in dein Zimmer und schließ die Tür hinter dir zu, damit du allein vor deinem Gott stehst.

Wir empfinden das heute eher umgekehrt. Für die meisten Menschen, die überhaupt noch beten, ist das eine rein private Sache. Nicht wenige denken sogar, Beten sei im Grunde bloß ein Selbstgespräch, weil ihnen die Beziehung zu Gott verloren gegangen ist. Nur in alleräußerster Not kommt mancher des Betens längst Entwöhnte doch wieder auf den Gedanken, Gott anzurufen, „wenn es ihn denn überhaupt gibt“.

Es kann freilich passieren, dass es einem Todkranken, der kein Christ ist, hilft, wenn die Krankenhauspastorin oder der Pastor mit ihm betet. Ja, es kann sogar sein, dass ein fröhlicher Heide als Angehöriger einer Taufgesellschaft durch den Gottesdienst zum Beten zurückfindet. Aber ist das dann noch das Gebet dieses einzelnen Menschen zu Gott, wie es Jesus so streng gefordert hat? Das ist eine falsche Frage. Jesus hätte sicher nichts gegen die gemeinsamen Gebete unserer christlichen Gemeinde. Er hat ja auch damals das gemeinsame Gebet in der Synagoge nicht verurteilt. Gemeinschaft gehört zum Menschsein. Darum bezieht unser Verhältnis zu Gott die menschliche Gemeinschaft ein. Das sieht man der Fürbitte. Die kann sogar eine öffentliche Bedeutung bekommen, wie bei den kirchlichen Fürbitten für von den Nazis verhaftete Menschen im Dritten Reich.

Dennoch stehe ich letztlich allein vor Gott, selbst wenn ich mit anderen zusammen bete. Denn meine persönliche Verantwortung vor Gott für mein Leben kann ich nicht auf die Gemeinde abwälzen. Er ist der Allmächtige. Ihm bin ich Rechenschaft schuldig. Das kann mir niemand abnehmen. Deshalb ist das Gebet eine ernste Sache. Es darf nicht zur bloßen Routine werden, sondern verlangt die ganze innere Sammlung, ganz gleich ob ich es zu Hause für mich spreche oder heute morgen hier im Gottesdienst.

Das haben die Menschen damals durchaus gewusst oder konnten es jedenfalls wissen. Die Gebete, die in der Syngoge gesprochen wurden und bis heute gesprochen werden, zeigen das. Jesus knüpft im Vaterunser an Formulierungen solcher alten jüdischen Gebete an. Diese sind geprägt von tiefer Ehrfurcht und Scheu vor dem heiligen Gott. Das empfand Jesus genauso. Erst vor diesem Hintergrund verstehen wir, was die Anrede bedeutet, mit der er sein Gebet anfängt: „Unser Vater“. Der heilige, unnahbare Gott ist unser lieber Vater! Das ist ein Kontrast, der in dieser Schärfe neu war. Er bestimmt das Vaterunser von Anfang bis Ende. Das müssen wir uns heute erst wieder klar machen. Für uns ist diese vertrauliche Anrede so gewohnt, dass sie manche Christen dazu verleitet, Gott ganz lässig wie ihren eigenen Papa oder wie einen Kumpel anzureden. Wer keine guten Erinnerungen an seinen menschlichen Vater hat, kann Gott auch als Mutter anreden. Aber das ist genau wie „Vater“ ein bildlicher Ausdruck. Gott ist weder ein Mann noch eine Frau. Er ist überhaupt nicht wie ein Mensch, sondern er ist ganz anders als wir. Er ist uns unendlich fern und fremd, sogar unheimlich, und doch zugleich in seiner Liebe näher als selbst der vertrauteste Mensch. So hat Jesus das gemeint.

Das ist der Grundzug dieses Gebets. Wer es bewusst und konzentriert spricht, der fällt Gott nicht mit lauter Bitten ins Haus, wie es manches unserer persönlichen Gebete tut, besonders in Notlagen. Dieses Gebet ist kein Gebettel. „DeinName werde geheiligt, Dein Reich komme, Dein Wille geschehe.“ Wenn ich so spreche, dann stelle ich meine kleinen und großen Wünsche in die zweite Reihe. Ich stelle es Gott anheim, wie er damit verfahren will.

Viele Menschen haben gefragt, wieso man so etwas überhaupt ausspricht. Gottes Name ist doch sowieso schon heilig, und sein Wille geschieht, auch ohne dass wir ihn dazu auffordern. Aber hinter diesem Einwand steckt ein Missverständnis. Wer so redet, der geht davon aus, dass wir Menschen Gottes Handeln als Zuschauer beobachten, die wie die Zuschauer im Fußballstadion zu einem Spiel der Bundesliga ihren Beifall oder ihr Missfallen brüllen. Gott hat keine Zuschauer. „Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden“, das heißt: er soll geschehen durch uns, die wir zu ihm beten. Wer sich dem heiligen Willen Gottes ausliefert, der sieht sich zugleich diesem Willen verpflichtet. Der kann nicht anders als diese unglaublichen Forderungen auf sich zu beziehen, wie „Liebt eure Feinde“ oder „Segnet, die euch verfluchen“. Dass wir denen nicht aus eigener Kraft gerecht werden, ist klar. Aber wir bitten Gott, er möge unsere selbstverantwortliche Aktivität in seinen Willen einbinden, uns zu Handlangern seiner Liebe machen. Das, und das allein, ist recht verstandene menschliche Freiheit. Die verdanken wir Gott, nicht uns selbst.

Derselbe Gedanke, etwas anders ausgedrückt. Wenn ich beim Beten zuerst und zuletzt an das denke, was ich mir von Gott wünsche, dann rede nur ich selbst und lasse Gott gar nicht zu Wort kommen. Alles dreht sich um mich. Das ist das Gegenteil des Glaubens an Gott. Das Vaterunser dreht die Sache um. Hier dreht sich alles um Gott und seinen Willen. Nicht ich führe das große Wort, sondern ich mache Gottes Wort an mich Platz. Das fällt mir oft schwer. Das kann ein hartes Ringen mit Gott bedeuten, so wie in der uralten jüdischen Sage einst Jakob mit Gott ringen musste. Wenn ein mir nahestehender Mensch in den letzten Zügen liegt, ist es ganz offensichtlich, dass ich ihn nicht einfach so gehen lassen mag. Und doch ist die Bitte „Dein Wille geschehe“ selbst dann das Ziel eines christlichen Gebets.

Nach diesem ersten  Teil folgen im zweiten dann doch Bitten, die sich auf uns beziehen. Es ist also nicht so, wie manche evangelischen Denker gemeint haben, dass uns nach Jesus eigentlich nur noch der Dank Gott gegenüber übrigbleibt. Nein, wir brauchen unsere Bitten nicht zu unterdrücken – das wäre unnatürlich. Aber wir werden Gott nicht um Dinge bitten, die wir selbst besorgen können, etwa weil wir zu bequem sind. Und vor allem bleibt immer das Vorzeichen: Dein Wille geschehe.

Die erste Bitte dieser zweiten Reihe gilt dem täglichen Brot, wie Luther übersetzt. Da geht es also um das ganz normale tägliche Lebens. Wie die neuere Auslegung gezeigt hat, müsste es eigentlich heißen: Gib uns das Brot für den morgigenTag. Damit sind wir in die Gesellschaft des alten Israel versetzt, in der es viele arme Menschen gab, die nicht wussten, wie sie den nächsten Tag überstehen sollten. Wir Älteren können uns gut da hineinversetzen, wenn wir uns an die Hungerjahre nach dem letzten Krieg erinnern. Aber wir alle brauchen nur an die Wirtschaftskrise zu denken, die uns jetzt wegen des Corona-Virus ins Haus steht, oder an die Klimaveränderung mit immer mehr Dürresommern und entsprechend schlechten Ernten. Dann wird uns klar, wie wenig selbstverständlich es ist, dass wir in den letzten Jahrzehnten in Deutschland so im Überfluss versorgt gewesen sind.

Auch hier denkt Jesus sich Gott nicht als den Herrn eines Schlaraffenlandes, in dem einem die gebratenen Tauben in den Mund fliegen. Auch hier ist die menschliche Arbeit in die Bitte um das Brot mit einbezogen. Für uns heute gehört die Bitte um Bewahrung vor Arbeitslosigkeit dazu. Bei alledem sind wir uns aber darüber im Klaren, dass jede menschliche Arbeit ohne den Segen Gottes vergeblich ist.

Dann folgt eine Bitte, die sich auf die Grundorientierung unseres ganzen Lebens bezieht: Vergib uns unsere Schuld. Damit meint Jesus in erster Linie die Schuld, unser Leben nicht dem Willen Gottes anheimzustellen, sondern um uns selbst zu rotieren. Von solcher Selbstbezogenheit sind aber unsere Mitmenschen automatisch mit betroffen. Darum fügt Jesus sofort die Vergebung der Menschen untereinander hinzu. Wir werden Gottes Vergebung nicht gerecht, wenn wir uns darin gemütlich einwickeln und sie für uns genießen. Wir erfassen sie erst richtig, wenn sie in uns zur Vergebung gegenüber einem Menschen wird, der uns Unrecht getan hat.

Und schließlich die rätselhafte Bitte: Führe uns nicht in Versuchung. Kann man sich das überhaupt vorstellen, dass mich Gott in Versuchung führt? Legt er mir etwa Fallstricke, um mich dann verurteilen zu können, wenn ich darüber stolpere? Gewiss nicht. Gemeint ist: Gott, lass mich nicht in Versuchung geraten, ganz besonders nicht in die Versuchung der Eigenmächtigkeit Dir gegenüber. Jesus dürfte dabei auch an seine eigene Versuchung gedacht haben, an Gottes Auftrag vorbei die Hoffnungen seines Volkes auf Wiederherstellung seiner staatlichen Unabhängigkeit zu erfüllen.

Den Schluss „Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit“ hat Matthäus den Worten Jesu hinzugefügt; er fehlt in der Fassung, die Lukas überliefert hat. Aber er rundet das Ganze sehr schön ab, indem er zum Anfang zurückkehrt, zur Macht und Heiligkeit Gottes. Menschliche Macht ist zwar Realität. Sie ist auch nicht einfach vom Teufel, wie manche christlichen Denker gemeint haben. Ohne Ausübung von Macht lassen sich auch positive Veränderungen der Gesellschaft nicht durchsetzen. Aber unsere Macht muss sich an der Macht Gottes orientieren, wenn sie nicht die Menschen ins Verderben führen will. Der letzte Maßstab auch für unser öffentliches Handeln soll nicht unsere Karriere sein, sondern die Liebe Gottes zu uns Menschen, die er uns in Jesus nahegebracht hat. Dieses Gelöbnis ist das Ausrufezeichen am Ende des Vaterunsers.

Amen.

Prof. em. Dr. Dietz Lange, Göttingen; E-Mail: dietzclange@online.de

Dietz Lange, geb. 1933, Prof. em. für Systematische Theologie, seit 1988 ehrenamtlicher Prediger an St. Marien in Göttingen

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