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Theologisches Seminar | Theologische und Religionswissenschaftliche Fakultät Zentrum für Kirchenentwicklung

Kein religiöser Schlussverkauf

Und schon wieder feiert die These vom Untergang der Religion in der Schweiz fröhliche Urständ - als ob es in den letzten zwanzig Jahren nicht unzählige religionsanalytische und kulturwissenschaftliche Studien gegeben hätte, die den vermeintlichen Tatbestand flächendeckender Säkularisierung längst ad absurdum geführt haben. Dass sich die «Macht des Heiligen» (Hans Joas) in bunten, individuellen und ganz neuen gemeinschaftlichen Formen manifestiert und man dort höchst lebendig feiert, wird unter der scheinbar unbestreitbaren These des Verfalls christlicher Religion schlichtweg ignoriert. Und so bemüht der Artikel «Wenn das Land seinen Glauben verliert» (NZZ 8. 1. 18) mithilfe vermeintlich zweifelsfreier Zahlenwissenschaft einmal mehr die althergebrachten Phänomene sinkender Gottesdienstbesucher- und Kirchenmitgliederzahlen (und - Hilfe! - sogar in den geschützten ländlichen Naturreservaten). Aber was man zigfach wiederholt, wird dadurch nicht richtiger. So als ob man von der abnehmenden Attraktivität politischer Parteien auf einen umfassenden Werteverlust oder das alsbaldige Ende des Gerechtigkeitsgefühls schliessen könnte.

Um in einem anderen Bild zu sprechen: Nur weil die klassischen Modehäuser aufgrund des Online-Versandhandels (vielleicht) weniger Laufkundschaft verzeichnen, heisst dies nicht, dass Menschen schon bald nackt, wie Gott sie schuf, durch die Bergwälder streifen werden. Die Pointe im Blick auf das Panorama gegenwärtiger Religionslandschaften ist, dass Menschen sich im 21. Jahrhundert eben auch in religiöser Hinsicht individueller, selbstbewusster und unkonventioneller kleiden. Dass damit die Orte, an denen Glaube zum Thema wird, nicht mehr automatisch an die feiertägliche Verkündigungs- und Ritualpraxis gebunden sind, deutet nicht auf den religiösen, nicht einmal auf den institutionellen Schlussverkauf hin. Die Gretchenfrage «Nun sag, wie hast du's mit der Religion?» lässt sich durch den Verweis auf die (angeblich) leerer werdenden Kirchenbänke schlichtweg nicht beantworten. Aufschlussreicher sind die charmanten religiösen Suchbewegungen jenseits und inmitten des tradierten Mainstreams: blühende und engagierte Glaubensgemeinschaften im Kleinen; persönliche Alltagsseelsorge im Quartier; Kirchenräume, in denen Inszenierungen höchster musikalisch-geistlicher Professionalität stattfinden, die einem die Tränen in die Augen treiben; intellektuell ansprechende Predigten oftmals gerade in Landgemeinden. Und caritative Nachbarschaftshilfe aus der ganz selbstverständlichen Grundüberzeugung christlicher, jüdischer oder muslimischer Nächstenliebe heraus. Dann entdeckt man übrigens auch unzählige kleine Ernst Siebers - vielleicht nicht so prominent, aber mindestens ebenso wirkungsvoll.

Taucht man schliesslich probeweise in die unendlichen digitalen Welten religiöser Foren und Chatrooms ein, ist festzustellen, wie Menschen um den theologischen Sinn christlicher Feste und Traditionen ringen, genauer wissen wollen, was humane Religion ausmacht - und dies nach allen Regeln dialogisch-kluger Verstehenskunst und nicht in den abgeschlossenen Echokammern fundamentalistisch-pseudoreligiösen Kleingeistes. Man muss also für die Sondierung helvetischer Frömmigkeit viel genauer hinschauen, bevor man allzu oberflächlich behauptet, dass diese schwinde. All das darf natürlich - das im Artikel angeführte Beispiel Basels zeigt dies exemplarisch - die etablierten Landeskirchen nicht in feister Selbstzufriedenheit verharren lassen: Sie müssen sich noch viel mehr als bisher bewegen und die religiösen Gefühlslagen wirklich wahr- und ernst nehmen.  Einstweilen besteht jedenfalls für die vermeintlich säkulare Schweiz keinerlei Grund, Verfallsetiketten des Religiösen zu datieren und die individuellen Aufwärtsblicke und gemeinschaftlichen Begegnungsorte religiöser Sehnsucht naserümpfend damit bekleben zu wollen. Diese Labels dürften schneller vom Wind hinweggefegt werden, als es den mehr oder weniger Gebildeten unter ihren Verächtern lieb ist.

Quelle: NZZ