Matthäus 22,1-14

Matthäus 22,1-14

Alle Menschen sollten einen Ort haben, wo sie hingehen können | 20. Sonntag nach Trinitatis | 22.10.23 | Mt 22,1-14 (dänische Perikopenordnung) | Anders Kjærsig |

In einem der ersten Kapitel von Dostojewskijs Roman Raskolnikow (Schuld und Sühne) begegnen wir einem völlig heruntergekommenen und verkommenen Beamten. Er unterhält Raskolnikow mit seinem betrunkenen Gerede in einer Kneipe in Sankt Petersburg. Mitten in dem angetrunkenen Gerede taucht ein Gedanke auf, der wieder aufgenommen wird und gleichsam im ganzen Roman festgehalten wird:

„Alle Menschen sollten einen Ort haben, wo sie hingehen können.“

Anders gesagt und in derselben Stimmung und als eine Frage stets im Hinblick auf den Beamten: „Muss nicht jeder Mensch wenigstens einen Ort finden, wo er hingehen kann, um Mitleid zu finden?“ Also:

„Alle Menschen sollten einen Ort haben, wo sie hingehen können.“

Der Beamtenstand kann auch von seinem verzweifelten Ehestand erzählen, als er die stolze Offizierswitwe heiratete, Katharina, aus Mitleid mit ihrem Elend. „Ihr ging es nicht gut, und ich nahm mich ihrer an“, sagt er und fährt fort: „Sie kam weinend und heulend, aber sie kam! Und das ist an sich reichlich: Wo sollte sie sonst hingehen – tragisch, nicht wahr?

Der Beamte fährt fort mit seinem existenziellen Monolog: „Verstehen Sie das, junger Mann“, sagt er zu Raskolnikow, „verstehen Sie, was das bedeutet, nicht zu wissen, an wen man sich wenden soll – ganz allein zu sein? Verstehen Sie das – junger Mann?“

„Alle Menschen sollten einen Ort haben, wo sie hingehen können“ – um nun den Ausgangspunkt zu wiederholen.

Nun ist das wie gesagt die Rede eines Betrunkenen, und deshalb ist sie auch dunkel und unklar. Aber das, was der Beamte meint, ist zunächst unmittelbar einleuchtend.

„Es muss einen Ort geben hier auf Erden: Es muss einen Menschen geben, an den man sich wenden kann und wo man Leben findet. Wie das Kind seine Mutter hat, so muss der Mensch einen anderen Menschen haben. So muss er einen Freund haben oder einen Ehepartner oder wer es nun ist, wo man Mitgefühl findet und keine Hintergedanken.

Der Beamte, der nun warm im Gesicht geworden ist, fährt fort in seinem Redestrom:

„Wo jemand er selbst sein kann in all seiner Erbärmlichkeit und auf Liebe trifft statt auf Verachtung. Wo die Verachtung, die ein Mensch gegen sich selbst empfindet, aufgehoben ist und nicht durch die Einstellung des anderen Menschen zu einem bestätigt wird.“

Hier hält der Beamte ein. Soweit der Monolog – zunächst.

Aber manchmal bekommt der Gedanke eine andere Richtung. Und manchmal verrät der Beamte, dass er die Worte letztlich religiös versteht, weil er sich nicht vorstellen kann, dass ein Mensch auf Erden existieren kann, der ihn nicht so sehr verachten würde, wie er sich selbst verachtet. Selbstverachtung ist nämlich Selbsthass, und Selbsthass erfordert ein religiöses Timing, wenn man unbeschadet da hindurchkommen will.

Der Beamte sucht deshalb nach einer metaphysischen Vergebung – dass Gott, wenn nicht andere, ihm vergeben kann und ihm die Möglichkeit geben kann, ein relativ intaktes Leben zu führen.

„Nicht hier auf Erden“, sagt er, „sondern oben im Himmel ist man voller Fürsorge für die, die man liebhat. Das muss die Idee sein mit den evangelischen Erzählungen.“

In diesem Trunkenbold von einem Beamten haben wir vielleicht den Zugang zu dem heutigen Evangelium. Hier ist auch ein Mensch, der keinen Ort hat, wo er hingehen kann:

Einen Ort, wo man sich nicht anstellen muss und zeigen muss, dass man nun berechtigt ist, ein Mensch zu sein.

Einen Ort, wo man sich selbst sein darf, wo man nicht an Würdigkeit oder Unwürdigkeit denken muss, wo man ungeachtet der Selbstverachtung willkommen ist.

Einen Ort, wo man willkommen ist, wo man als ein lieber Gast betrachtet wird.

Diesen Ort gibt es auf Erden und im Himmel. Dieser Ort ist nämlich Ausdruck für das Reich Gottes, und dieses Reich kennt keine Grenzen, auch nicht die zwischen Himmel und Erde. Da wo man nicht auf Verachtung und Vorurteile stößt, da öffnet sich ein Spalt zum Reich Gottes.

Wenn ein Mensch vorurteilsfrei und vorbehaltlos einen anderen Menschen annimmt, nur weil es ein anderer Mensch ist, dann wendet sich der Satz:

„Alle Menschen sollten einen Ort haben, wo sie hingehen können.“

zu dem Satz:

„Jeder Mensch hat – trotz allem – einen Ort, wo er sein kann.“

Im Reich Gottes gibt es keine Grenzen. Das Reich ist überall – auf Erden und im Himmel. Wir Menschen aber sind geneigt, Grenzen zu setzen. Das ist es vielleicht, was die Erzählung dementiert. Hier entstehen auch Grenzen, aber die werden sozusagen von den Menschen selbst gezogen. Entweder indem sie die Einladung nicht annehmen oder indem sie die Einladung trivialisieren. Gott dagegen lädt alle ein und durchbricht so alle Grenzen einschließlich der menschlichen Grenzen – was sonst?

Das war es, was der betrunkene Beamte in seiner ekstatischen Rede an Raskolnikow erlebte. Man ist nicht notwendigerweise einsam, auch wenn man allein ist und bis zum Hals in Selbstverachtung steckt. Auch wenn wir uns selbst oder einander fremd sind, sind wir hier auf Erden als Gottes geliebte Gäste. Und das bedeutet, dass wir immer einen Ort haben – vielleicht nur ein kleines Wort – wohin wir uns wenden können. Amen.

Pastor Anders Kjærsig

DK 5881 Skårup

E-Mail: ankj(at)km.dk

de_DEDeutsch