Dazugehören und zuhören

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Dazugehören und zuhören

Predigt zu Johannes 10,22-30 (dänische Perikopenordnung) | verfasst von Anders Kjærsig | aus dem Dänischen übersetzt von Eberhard Harbsmeier |

 

Da liegt ein Wortspiel vor in den Begriffen Dazugehören und Zuhören. Man kann sehr wohl dazugehören, auch wenn man nicht zuhört. Kinder sind dafür ein hervorragendes Beispiel. Ihr Gefühl, dass die dazugehören, kann fast umgekehrt proportional sein zu ihrer mangelnden Fähigkeit zuzuhören. Je stärker die Zugehörigkeit, desto weniger hören sie zu. Glücklicherweise, hätte ich fast gesagt. Das macht einen mehr liebenswert, das weiß jeder.

Umgekehrt aber ist es unmöglich. Man kann nicht zuhören, ohne dazuzugehören. Man stelle sich vor, ein Mann sagt zu einem anderen Mann: Ich höre immer auf andere, aber ich gehöre nirgends dazu. Man würde unwillkürlich fragen: Auf wen hörst du dann? Wer hört auf dich? Wenn man nicht dazugehört, kann man auch nicht auf andere hören. Man weiß ja nicht, auf wen man hören soll, und man kennt vielleicht gar nicht die Sprache, die gesprochen wird. Ein Thema, das Franz Kafka und Edgar Allen Poe in all seinem Schrecken schildern können. Hier ist man den Menschen fremd, unter denen man lebt, und diese Fremdheit zeigt sich in einer latenten Unsicherheit, die eben zeigt, dass man nirgendwo richtig zuhause ist.

Im Johannesevangelium gibt es mehrere Texte, die dieses Thema ansprechen: Dazugehören und zuhören. Das wird oft mit dem Bild von den Schafen und dem Hirten beschrieben. Die Schafe hören auf den Hirten, weil sie zu der Herde des Hirten gehören. Sie kennen die Rede des Hirten, weil der Hirten ihnen eine Sprache gibt, die sie verstehen können. Sie wissen, was es bedeutet, wenn er pfeift oder seinen Hirtenstab erhebt. Die Schafe fühlen sich deshalb nicht fremd und ängstlich in der Welt, in der sie leben. Sie vertrauen darauf, dass der Hirte auf sie aufpasst.

Das Bild von dem Hirten und den Schafen trägt mit dazu bei, etwas über das Wesen des Glaubens zu sagen. Glaube heißt Zugehörigkeit, ein Vertrauen, dass man dazugehört. Bei sich selbst zu wissen, dass da ein Hirte ist, der einem auf dem Wege folgt, auch wenn man diesen Weg selbst gehen muss. Das ist die Erfahrung, dass man nicht allein ist, ganz gleich in welche Richtung man sich bewegt.

Vor einigen Jahren gab es einen Reklamespot, der eine ältere Dame zeigt, die auf eine Bank sitzt. Wir sehen sie von hinten. Sie sitzt und blickt über einen See. Am See laufen Kinder und spielen. In diesem Augenblick kommt ein junges Mädchen und setzt sich neben sie. Sie sitzen eine Weile, ohne etwas zu sagen, wonach sich die Frau erhebt und zu einer Gruppe älterer Leute geht, die ins Bild gekommen sind. Einen kurzen Moment sehen wir die Frau, wie sie zusammen mit den anderen lacht, während das junge Mädchen auf der Bank sitzt. Zwei Sekunden danach liest man auf dem Schirm: Es sind nur Ältere, die einsam sind. Das ist ein starkes Ding: Zuhören, aber nicht dazugehören.

Der dänische Dichter Johannes Jørgensen hat ein Gedicht geschrieben unter der Überschrift: Ostern. Es handelt auch von der Erfahrung, dass man nicht dazugehört, und es schildert einen Menschen in dem Lebensabschnitt, wo alles sinnlos und leer erscheint.

Das Gedicht schildert einen Menschen, matt und müde, der Menschen um sich sieht, die er hasst und verachtet als primitiv und oberflächlich. Ihr „gesundes Glück“ erlebt er als Hohn gegen sich selbst, der traurig dasitzt.

Hier kann man davon reden, dass da von einem Menschen die Rede ist, der hinhört, aber nicht dazugehört. Das Ich des Gedichts ist ein vorübergehender Mensch, ein Fremder, der nicht nur weit weg ist von dem Lebensstil des Pöbels, sondern auch von dem Leben selbst, an dem er eigentlich teilhat. Er sitzt in einem Wagen, fährt, Aufbruch, Bewegung, ein Leben ohne Halt und ohne Heimat.

Ich glaube, das ist eine Erfahrung, die die meisten kennen. Jeder Mensch erlebt in kürzeren oder längeren Perioden seines Lebens die Stimmung, dass man nirgends hingehört und selbst denen fremd ist, die einem am nächsten sind. Eine Erfahrung von Einsamkeit, die einen Menschen in eine besondere Beziehung bringt zur Erzählung von den Schafen und dem Hirten. Ich möchte das deutlicher machen:

Johannes nennt in seinem Text von den Schafen und dem Hirten, dass es Winter ist. Merkwürdig, denn was hat das eigentlich mit dem Bild des Hirten zu tun? Wenn in der biblischen Tradition von den Schafen und dem Hirten die Rede ist, ist es in der Regel im Sommer. Das ist ein Sommerbild. Warum dann hier der Winter? Warum wird das erwähnt? Wenn man in den großen gelehrten Kommentaren nachschlägt, erfährt man nur sehr wenig. Wir müssen selbst erraten warum.

Der Winter steht als ein starker Kontrast zum Bild des Hirten. Hirte zu sein im Winter ist in keiner Weise dasselbe wie im Sommer. Die Kälte fährt durch den Körper und saugt alle Freude aus der Arbeit, die ansonsten frei ist und verbunden mit frischer Luft und grüner und fruchtbarer Natur. In dieser Weise wird das Bild ent-romantisiert, und es entfernt sich von der üblichen Vorstellung von den Schafen und den kleinen Lämmern, die anmutig am See liegen und trinken, alles in Stil eines Glanzbildes. Der Winter dekonstruiert die pastorale Hirtenlyrik. Die Schafe sind bedrängt, und zitternd drängen sie sich aneinander. Kitsch und Pop sind weg, und damit erübrigt sich auch die Kritik an dem Bild bei Nietzsche und den Existenzialisten. Der Winter verstärkt nämlich die Dramatik. Die Erzählung gilt für uns angesichts von Finsternis, Frost und Krise. In einer Landschaft von Kälte hören wir von den Schafen.

Johannes Jørgensen war so ein Schaf, aber er fand einen Weg. Ist der moderne Mensch auch ein Schaf? Er sucht und hält Ausschau nach Weltanschauungen, nach Antwort auf die großen Fragen des Lebens, er glaubt an alles zwischen Himmel und Erde? Friert er? Die Fragen sind offen.

Auch der dänische Liederdichter beschießt eine Sammlung von Gedichten und Liedern mit einem Text, der um dieses Thema kreist: Dazugehören und zuhören.

Du gehörst dazu, auch wenn es schwer fällt zuzuhören. Auch wenn die Welt fremd ist, bist du in ihr zuhause. Auch wenn alles verspielt ist, danke ich für alles, für das Salz der Erde und das Licht der Welt, heißt es hier. Das ist die These von Simon Grotians Gedicht und die Pointe im Johannesevangelium. Amen.

 

Pastor Anders Kjærsig

5881 Skårup Fyn

Emal: ankj(at)km.dk

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