Der Gott der Mutlosen

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Der Gott der Mutlosen

Johannes 5,1-15 (dänische Perikopenordnung) | verfasst von Leise Christensen|

 

 

Vor einiger Zeit war ich bei einer Geburtstagsfeier – gemütlich und lustig und auch eine Herausforderung, sollte sich zeigen. Zwischen dem Hauptgericht und dem Nachtisch entstand eine Diskussion über Weltanschauung, Krankheit und Heilung. Eine kompetente Krankenschwester war dabei, die täglich mit Leuten zu tun hatte, die irgendwie zu Schaden gekommen waren. Und da war ein Alternativmediziner, der meinte, alle Krankheiten seien durch verdrängte Gefühle und Traumata aus verschiedenen Lebensphasen verursacht. Erwartungsgemäß kam es zu einer heftigen Diskussion. Der alternative Mediziner meinte, selbst ein Beinbruch oder ein Hüftleiden könne von unbehandelten Traumata aus den mehr sorglosen Jugendjahren verursacht sein, wo sich einige unangenehme Erlebnisse in den Knochen abgelagert und sie geschwächt haben. Die Krankenschwester dagegen meinte, dass Knochenbrüche allein von Unfällen, Stürzen und Stößen oder Knochenschwund herrührten, ganz unabhängig von eventuellen psychischen Traumata aus einem früheren Lebensabschnitt. Die Diskussion wogte hin und her mit immer größerer Lautstärke. Eine alte Frau, die ihr Leben mit harter Arbeit auf einem kleinen Bauernhof zugebracht hatte, fünf Kinder und die Haustiere versorgt hatte, brachte sich in die Debatte und sagte, dass ihr Hüftleiden von langjähriger harter Arbeit käme, während der alternative Medizinerr sagte, dass dies nicht geschehen wäre, wenn sie nicht ein psychisches Trauma zu einem Zeitpunkt erlitten hätte. Und wenn die ältere Dame darüber nicht sprechen wollte, wolle sie auch nicht wieder gesund werden. In diesem Augenblick dachte ich, dass ich nun stattdessen etwas von meinen Hunden erzählen sollte, wie tüchtig sie sind, ehe tumultartige Zustände am Tisch entstanden.

Dennoch fällt mir diese Diskussion ein, wenn ich an das heutige Evangelium denke. Denn Jesus kommt zu einem Menschen, der ganze 38 Jahre lang in den Säulengängen von Bethesda zugebracht hat und der gehofft hat, dass er es eines Tages sein wird, der geheilt wird, dass er es sein wird, der als erster zum Teich Bethesda kommt, wenn der Engel das Wasser in Aufruhr bringt. Bethesda bedeutet Haus der Barmherzigkeit oder der Gnade. Aber nein, er hatte keinen, der ihm half, und gelähmt, wie er war, konnte er nicht vor allen anderen zum Wasser kommen.  Und nur der erste wurde geheilt. Er hatte wirklich schlechte Chancen in diesem Wettrennen.  Was für eine Kummerparade da im Haus der Barmherzigkeit – oder vielleicht besser der Unbarmherzigkeit. Bethesda: Lahme, Blinde, Aussätzige, Spastiker, ja alle möglichen Leute, die versuchten, als erste zu kommen, um geheilt zu werden. Wie grotesk, wie unbarmherzig, wie schrecklich.

Als Jesus diesen Menschen mit seinen 38 Jahren in einer armen Lebenswüste sieht, fragt er: „Willst du gesund werden?“. Das ist tatsächlich eine sehr moderne Frage, die an das erinnert, was der Alternativmediziner zu der älteren Frau mit dem Hüftleiden sagte: „Willst du gesund werden?“ Wenn du nicht von deinen schmerzenden Traumata aus der zeitweiligen Wüstenwanderung deines Lebens erzählst, ja dann hast du keinen reellen Wunsch, gesund zu werden. Du musst damit herausrücken. Darin liegt die Heilung“. Dazu kann man viel sagen (und das tat man auch bei Tische), aber das ändert wie gesagt nichts daran, dass die Situation tatsächlich an das erinnert, was Jesus selbst dem Lahmen in Bethesda sagt: „Willst du gesund werden?“.  Natürlich will der Mann gesund werden, ehrlich gesagt. Wenn ich sage, dass da etwas ganz Modernes in dieser Frage Jesu liegt, so deshalb, weil heute in vielem auf den einzelnen Menschen verwiesen wird. Es geht um den Willen. Wollen wir dieses und wollen wir das? Und deshalb wird vieles, sehr vieles, zu einer Frage danach: Wenn uns etwas nicht gelungen ist, dann wohl deshalb, weil wir es wohl nicht wollten. Wir haben nicht genug darauf gesetzt. Das ist immer unsere eigene Schuld. In einer Gesellschaft, die in großem Umfang die Verbindungen zu einem Verständnis des Lebens, der Welt und des Alltags abgebrochen hat, wo der Zufall keinen Platz hat und wo Gott sich nur in eine kleinen sorgsam abgemessenen Nische des Daseins befindet, wenn überhaupt irgendwo, da ist das meiste unsere Schuld. Wir sterben an Herzkreislauf-Erkrankungen, weil wir rauchen. Wir sterben an Krebs wegen Übergewicht und allgemein schlechten Gewohnheiten, wir bekommen Alters-Diabetes, weil wir die Kost-Vorschläge nicht beachtet haben und nicht genug Gemüse gegessen haben, wir haben die zehn Gebote nicht befolgt, um nicht Diabetes, Trauma und dergleichen zu bekommen. Es ist unsere eigene Schuld, wenn wir mit dem Druck am Arbeitsplatz nicht fertigwerden oder in der Schule keine eins bekommen, es ist unsere eigene Schuld, dass wir einsam und verlassen werden, weil wir nicht gut genug waren und der Mühe wert für andere. Wir bekamen nicht den guten Job, weil wir im Gespräch nicht attraktiv genug waren. Oder wir waren so gut darin, die Opferrolle einzunehmen, dass die anderen es nicht mehr ertrugen. Wir geben dauernd den anderen die Schuld. Usw. usw.! Ja, viel Schuld und viele Urteile lasten auf uns. Und unmittelbar sieht es so aus, dass Jesus selbst auf dieser Welle mitreitet. Willst du gesund werden? Als ob das etwas wäre, was wir selbst bestimmen. Als ob wir in dieser Sache etwas zu sagen hätten. Als ob der Lahme am Teich von Bethesda etwas zu sagen hätte in Bezug auf seinen lahmen Körper. Als wäre der Wille etwas in sich selbst. Das ist er nicht. Das sagt unsere Erfahrung uns, unsere zuweilen bittere Erfahrung. Wir Menschen verlieren manchmal den Mut und werden von einer so gewaltigen Depression erfasst, dass wir uns nicht vom Stuhl erheben können und wollen. Nenne es Depression, Burnout, Minderwertigkeitsgefühl, nenne es, was du willst – die Handlungslähmung ist dieselbe. Die Welt und die Wirklichkeit und die Umstände und die Zufälligkeiten, es ist, wie es ist. Wir sind, wie wir sind. Das Leben geht nicht auf. Ich glaube, das ist eine sehr wichtige Einsicht. Das Leben geht nicht auf.

Deshalb, guter Jesus, was meinst du mit dieser Frage – willst du gesund werden? Ich glaube im Grunde überhaupt nicht, dass man sich auf die Frage selbst konzentrieren soll. Das Wichtige ist, dass Jesus einem Menschen begegnet, der nach 38 Jahren Wüstenwanderung an einem Teich, merkwürdigerweise, den Mut verloren hat, sowohl physisch wegen der Lähmung als auch existenziell wegen seiner Einsamkeit und der mangelnden mitmenschlichen Hilfe. Hier geht es um den Kern des christlichen Glaubens. Gott streckt die Hand aus zum Menschen, zu dir und zu mir in unserer existenziellen Not, in unserer Einsamkeit, unserer Verlassenheit. Es geht nicht darum, was wir glauben oder meinen oder wollen., sondern dass Gott uns will. Ungeachtet unserer Haltungen zu ihm. Gott schüttet seine Liebe aus über solche wir uns – nicht weil wir das verdient haben, nicht weil wir es nicht verdient haben, nicht weil wir immer den Mut aufrecht erhalten können und alles Mögliche wollen. – sondern weil wir die seinen sind. Schlichtweg. Der Gott der Mutlosen, der Gott der Ängstlichen, der Gott der Hoffnungslosen, der Gott der Schwachen, der Gott der Treulosen. Das ist unser Gott, dem wir in Jesus begegnen. Gott will uns neuen Mut geben zu sein, zu leben, zu lieben und das Leben zu lieben. Gott ist der Gott der Auferstehung, der uns mitten in dem Leben begegnet, wo wir sind – ob wir das nun gut finden oder nicht – und der für uns Auferstehung schafft, so wie er es an jenem Tage am Säulengang und dem Teich von Bethesda getan hat. Im Vertrauen darauf müssen wir das Leben wagen. Das ist unsere Hoffnung. Dass wir uns erheben, unser Bett nehmen du gehen. Amen.

 

Pastorin Leise Christensen

DK 8200 Aarhus N

Email: lec(at)km.dk

 

 

 

 

 

 

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