Jesus reitet…

Jesus reitet…

Jesus reitet nach Jerusalem – und zu uns | Predigt zu Matthäus 21,1-9 | verfasst von Thomas Reinholdt Rasmussen |

Da liegt etwas Schweres und Unheilvolles über dieser Geschichte von Palmarum.

Wir hören  ja von dem jubelnden Einzug Jesu und die Hingabe der Scharen an Jesus, der in die Stadt reitet auf so etwas Demütigem wie einem Esel. Sie jubeln ihm zu, und alles sollte also so schön sein.

Aber da liegt etwas Schweres über dem Ganzen. Ein Schatten liegt auf dem Einzug, denn wir wissen ja, was da kommt. Wir wissen ja, dass eben diese Scharen in wenigen Tagen fordern werden, dass er gekreuzigt und getötet werden soll.

Dieser Schatten liegt über dem allen.

Der Schatten, der davon erzählt, dass nicht alles gut und schön ist. Nicht alles ist Jubel und Freude. Nicht alles ist ein festlicher Empfang. Da ist eine Schlange im Paradies.

An dem einen Tag wird Jesus auf einen Sockel erhoben, und am kommenden Tag wird er ans Kreuz gehängt. An dem einen Tag wird er vorbehaltlos gefeiert, und am nächsten Tag wird er verhöhnt und verspottet.

Und so wird der klassische Sündenbock geschaffen: Erst wird ein Mensch erhöht, und dann wird er heruntergemacht. Wir kennen das aus der Sensationspresse, wo ein Mensch, vielleicht ein Musiker oder eine andere bekannte Person, erst gefeiert wird und dann – vielleicht wegen einer Verfehlung – gleichsam den Löwen zum Fraß vorgeworfen und verhöhnt und verspottet wird.

Diese Massenbewegungen, wo große Menschenmengen entweder von hysterischer Wut ergriffen werden oder von hysterischem Jubel, kennen wir sehr wohl jedenfalls aus den letzten hundert Jahren der Weltgeschichte. Wir kennen diese großen Menschenmassen im Laufe der Geschichte, die schnell und irrational urteilen, und wir kennen sie in mehr friedlichen Formen bei Sportereignissen und Rockkonzerten.

So beschreibt die Erzählung von Palmarum – im Lichte der kommenden Ereignisse von Ostern – diese Bewegung in der Menschenmasse, die in dem einen Augenblick jemandem zujubelt und ihn preist, und im nächsten Augenblick den Betreffenden heruntermacht. Das ist merkwürdigerweise eine uns sehr vertraute Bewegung.

Und diese ganz normale menschliche Reaktion ist imponierend und deutlich von dem französischen Denker René Girard beschrieben worden. Girard spricht von dem Sündenbock, und das tut er eben von der Erzählung über Jesus her, der geopfert wird, um wieder Stabilität herzustellen.

Jede Gesellschaft, sagt er, braucht Sündenböcke. Wir kennen das aus unserer öffentlichen Debatte, wo man oft nach einem Sündenbock sucht.

Girards Pointe ist nun die: Damit der Sündenbock-Mechanismus funktioniert und die ganze Gesellschaft heilen kann, müssen sich alle darin einig sein, dass der Schuldige schuldig ist. Nicht nur die Menge, die verurteilt, sondern alle, auch der, der verurteilt wird, sollen sich an und für sich schuldig fühlen.

Die Pointe ist nun, dass der Schuldige im Christentum nicht schuldig ist. Hier wird der Unschuldige verurteilt. Jesus wird zum Tod am Kreuz verurteilt – trotz seiner Unschuld, und der Unschuldige trägt die Schuld der Welt.

So hebt das Christentum den Sündenbock-Mechanismus auf, denn jetzt ist das letzte Opfer vollbracht. Jesus Christus ist das letzte und ultimative Opfer, und nun ist da niemand, der weiter Sündenböcke fordern kann, denn dann reduziert man Jesus darauf, weniger zu sein als das letzte Opfer.

Wenn Jesus also das letzte Opfer ist – und das glauben wir, wenn wir bekennen, dass er die Sünde und Schuld der Welt trägt – dann können wir bei uns keine Schuldigen mehr finden. Im Schatten des Kreuzes wird die Schuld und Sünde der Welt getragen, und niemand kann einen Sündenbock ausmachen, der mehr schuldig ist als die anderen.

So ist Jesus der letzte Sündenbock und eigentlich gar kein Sündenbock.

Indem er nach Jerusalem zieht, zieht er ja in der Tat die Menge an sich. Er weiß, dass diejenigen, die ihn nun feiern, nach wenigen Tagen genau das Gegenteil tun. Aber er reitet dennoch in die Stadt – sanftmütig und demütig – denn nur indem er dorthin reitet, kann er das letzte Opfer bringen, das alle anderen Opfer beendet.

Deshalb sagt Paulus auch in der Epistel des heutigen Sonntags, dass wir so untereinander gesinnt sein sollen, wie es der Gemeinschaft in Jesus Christus entspricht. Und das bedeutet, dass wir nicht mehr für die Übel und Mängel der Welt Sündenböcke suchen sollen, sondern einander so sehen sollen, wie Gott Jesus sah: Mit dem Blick der Liebe, denn die Liebe deckt bekanntlich die Mannigfaltigkeit der Sünden.

Wenn man unter dem Kreuz steht, kann man gar keinen Sündenbock mehr erblicken. Hier sind alle gleich schuldig und gleich frei. Jesus Christus ist der letzte und ultimative Sündenbock, und nach ihm soll nur die Liebe walten.

Aber herrscht nun die Liebe? So könnte man fragen. Und unsere Erfahrung sagt uns ja, dass sie das nicht tut – jedenfalls nicht immer. Aber deshalb reitet Jesus auch immer wieder nach Jerusalem und damit zu uns, um die uns Liebe zu bringen, damit wir hören können, dass wir von und mit seiner Liebe leben sollen.

Und das ist somit die Treue Gottes, dass Gott immer zu uns kommt, auch wenn wir versagen und alles andere als die Liebe herrschen lassen. Denn so wie Jesus nach Jerusalem zog, so kommt er wieder zu uns. Lässt sich zusammen mit uns kreuzigen, um die Liebe walten zu lassen.

Das ist die ganze Bewegung von Ostern, die der Sonntag Palmarum vorwegnimmt: Die Menge, die Jesus am einen Tag zujubelt, kreuzigt ihn am nächsten Tag. Aber Jesus steht auf von den Toten, für die Menge – und für uns. Er steht auf von den Toten, denn die Liebe hofft alles, glaubt alles und duldet alles. Die Liebe überwindet alles.

Deshalb reitet Jesus nach Jerusalem, und deshalb reitet er zu jedem von uns – wie die Liebe, die alles überwindet. Amen.

 

Propst Thomas Reinholdt Rasmussen

DK 9800 Hjørring

Email: trr(at)km.dk

de_DEDeutsch