Johannes 10,22-30

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Johannes 10,22-30

Misericordias Domini | 01.05.22 | Joh 10,22-30 | Marianne Christiansen |

O, ein Schaf sein. In der Marsch gehen an einem Morgen mit Tau auf dem Pelz und den kleinen Lämmern, die umherspringen. Nichts anderes sollen als Gras kauen und auf die Vögel hören und auf die Wiesen sehen und das Licht, das sowohl von oben vom Himmel kommt und unten vom Meer. Und wenn man keine Lust mehr hat, in die eine Richtung zu gehen, geht man einfach in eine andere Richtung – und wenn die anderen einen stören, geht man etwas selbst und ist für sich. Da ist ja genug zu essen. Und wenn es Abend wird, braucht man nicht zu denken: Habe ich nun das getan, was ich tun sollte? Habe ich an alles gedacht? Habe ich noch einen Tag vergeudet? Denn ich, das Schaf, habe nichts getan außer da zu sein, und das war genug.

„Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie und sie folgen mir, und ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nimmermehr umkommen, und niemand wird sie aus meiner Hand reißen“.

So hören wir heute Jesus sprechen. Es ist zwar gewiss nicht sehr schmeichelhaft, ein Schafskopf zu sein, so etwas schreibt man nicht in seinem CV: Ich, ein Schaf. Aber es ist trostreich und hoffnungsvoll, in den grünen Auen des ewigen Lebens zu sein und zu ruhen.

Die Rede von den Schafen ist einem längeren Gespräch zwischen Jesus und einigen religiösen Führern entnommen (Wenn im Johannesevangelium von den „Juden“ die Rede ist, sind damit die führenden Leute in der Gesellschaft und der Synagoge gemeint). Jesus wandelt in Salomos Säulengängen rund um den Tempelplatz in Jerusalem, da wo heute Streit und Unfriede herrscht. Da wandelt er im Freien wie die alten griechischen Philosophen. Salomo war berühmt für seine Weisheit. Wenn du also auf Weisheit hören willst, so komm und gehe mit – ansonsten kannst du es ja sein lassen. Jesus wandelt im Offenen. Und dann heißt es: „Da umringten ihn die Juden und sprachen zu ihm: Wie lange hältst du uns im Ungewissen? Bist du der Christus, so sage es frei heraus“.

Sie versuchen, die Wanderung zum Stehen zu bringen, ihn zu umringen und zu stellen und ihn den Erwartungen anzupassen, wie Christus, der Messias, der Erwählte Gottes sein soll: „Wie können wir wissen, ob du ein wahrer Vertreter Gottes bist? Beweise es!“

Kurz zuvor hatte Jesus nämlich einen blind geborenen Mann geheilt, dem er auf seinem Weg begegnete. Aber das erfreute niemanden außer den Mann selbst, weil Jesus ihn geheilt hatte. Denn es war an einem Sabbat, einem Ruhetag. Die religiösen Führer finden das äußerst anstößig und wollen, dass sich der geheilte Mann von Jesus distanziert, ansonsten werde er aus der Gemeinschaft ausgestoßen. Aber der Mann sagt zu ihnen: „Ob er ein Sünder ist, weiß ich nicht, aber eines weiß ich: Ich war blind, und nun kann ich sehen“

Da jagen sie ihn weg, und später findet er Jesus. Er hatte ihn nie gesehen, nur seine Stimme gehört – trotzdem fand er hin zu ihm.

Es ist also mitten in diesem Streit, inwieweit es wahr sein kann, dass Jesus der Messias ist, dass von den Schafen gesprochen wird, die die Stimme des Hirten hören. Denn die jüdischen Führer kommen zu Jesus, bringen seine Wanderung zum Stehen und umringen ihn. „Wie lange hältst du uns im Ungewissen? Bist du der Christus, so sage es frei heraus“.

Und Jesus antwortet. „Ich habe es euch gesagt, und ihr glaubt nicht. Die Werke, die ich tue in meines Vaters Namen, die zeugen von mir“.

Und etwas anderes ist da gar nicht zu sagen, weder damals noch heute.

Seht auf die Werke! Seht das Leben Jesu, hört auf die Erzählungen von ihm.  Das ist ja kein Beweis. Die Frage ist immer: Ist das, was wir im Leben Jesu sehen, der Wille Gottes? Gibt es da überhaupt einen Sinn? Die Augen des blind Geborenen zu öffnen, ihm die Freiheit zu schenken, zu gehen, wohin er will, ist das ein Werk Gottes? Wenn es Christus ist, der so handelt, dann ist Christus kein neues Gesetz, kein neues System, um das man sich scharen kann und über das man wachen kann. Dann ist Christus einer, der umhergeht und unerwartete Befreiung schafft.

In dem langen Gespräch, das dem vorangeht, hat Jesus begonnen, von Schafen zu sprechen. Das Schaf ist ein altes Bild für das Volk. Das Volk Israels, das Moses aus der Knechtschaft Ägyptens in die Freiheit führte. Aber Jesus fügt etwas Neues hinzu und sagt von sich selbst: „Ich bin die Tür, durch die die Schafe frei ein und aus gehen: ich bin der gute Hirte, dem die Schafe nicht gleichgültig sind, sondern der seinen Leben gibt für sie“. Das wird zu neuen Bildern dafür, wer Christus ist: Einer, der die Schafe in Freiheit setzt und der sich selbst dafür einsetzt, jedes einzelne von ihnen zu retten.

Wenn Jesus der Christus ist, dann ist Christus eine Tür und ein Hirte, der sein Leben für die Schafe gibt.

„Ich habe es euch gesagt, und ihr glaubt nicht“. Und warum glauben sie es nicht? Vielleicht weil sie erwartet hatten, dass Christus mehr sein sollte und etwas anderes. Da sollte ein System sein, einige Regeln, aber das ist nicht der Fall. Da ist nur ein Mensch, der redet und heilt, ein Mensch, der leidet und stirbt und von den Toten aufersteht und der vergibt. Das ist es, was wir sehen.

Es besteht völlige Freiheit, das zu hören oder es abzulehnen.

Und dann geht er weiter. „Die Schafe stehen noch da und glotzen“, heißt es in einem dänischen Lied – oder auch sie trotten mit. Wenn sie nicht meinen, dass dies ausreicht, um davon zu leben, ja dann müssen sie woanders hingehen. Niemand zwingt sie.

Der blind geborene Mann konnte wieder sehen und gehen wohin er wollte. Aber als er erst Jesus erblickt hatte, nachdem er vorher nur seine Stimme gehört hatte, folgte er ihm: „Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie und sie folgen mir, und ich gebe ihnen das ewige Leben, und sie werden nimmermehr umkommen“.

Das gilt immer auch uns. In dem Augenblick, wo wir das Evangelium hören, die frohe Botschaft, dass Gott in dem umherwandelnden Menschen erschienen ist, in dem Augenblick empfangen wir die Hoffnung darauf, dass dies Auferstehung, Vergebung, Befreiung bedeutet, dann sind wir wie Schafe Christi auf der grünen Wiese. Schafe, die nicht etwas Bestimmtes leisten sollen, sondern nur unter offenem Himmel wandeln und auf den grünen Augen ruhen dürfen – sogar frei von der Angst vor dem Tode, befreit zur Auferstehung. Befreit zum Dasein und Hören auf den Gesang der Vögel und die Stimme des Hirten.

Eine Tür, durch die man frei ein und aus geht. Ein Hirte, der uns ruft und findet, wenn wir nicht sehen können. So begegnen wir Christus. Amen.

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Bischöfin Marianne Christiansen

Ribe Landevej 37
6100 Haderslev

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