Johannes 20,1-18

Johannes 20,1-18

Ostermontag | Joh 20,1-18 | 18.04.2022 | Anne-Marie Nybo Mehlsen |

„Draußen geht ein Sommermorgen, der noch nicht mein ist“.

„Erstes Morgenlicht schleicht durch mein Fenster

       bleich und grau,

Leichter Wind fährt über meine Stirn

       sommerlich lau.

‚Sommerlicht!‘ sage ich nur, ‚schöner Sommertag!‘

       Was er mir bringen mag?“[1]

Da steht sie, Maria Magdalene, im ersten Morgenlicht, sie ist bis zum Ende gelangt.

    Wir denken vom Tod als dem Letzten. Wir achten auf die letzte Zeit, in der wir zusammen sind, wenn jemand von uns geht. „Es geht auf das Ende“, sagen wir, und hoffen zugleich auf Frühjahr und Sommertage, auf unerwartet mehr Leben, mehr Glück. Wir machen Pläne zusammen für künftige Reisen und sind in Gedanken schon unterwegs. Zugleich wissen wir wohl, dass daraus wohl nichts wird, aber wir hoffen! Und die Hoffnung erstreckt sich unbegrenzt auf Zukunft und unbekannte Tage: „Ein Sommermorgen, der noch nicht meiner ist“. 

Wenn wir einen Verlust erlitten haben, denken wir an das Grab als das Letzte. Der letzte Ort, die letzte Ruhestätte und der letzte Ort, an den man zurückkehren und wo man Blumen niederlegen kann, eine Träne weinen kann, ein Lächeln, um eine Antwort zu flüstern, die wir einmal vor langer Zeit gegeben haben. Und die Erinnerung bringt uns unbegrenzt zurück zu glücklichen Tagen, zu Träumen, Plänen, Hoffnungen, die schon erfüllt sind, gelebt, erlebt.

Hin und her gehen wir wie eine zweite Maria, die zum Grabe geht uns es offen vorfindet – und zu den Freunden zuhause zurückkehrt, die mitkommen. Maria sieht zu, wie sie hineinblicken. Sie bleibt allein zurück, als zu zurückgehen. Dann beugt sie sich über das Grab, so als wäre sie kurz davor, selbst hineinzugehen. Da ist Schwerkraft in der Trauer, das ist wie ein Magnetfeld, in das wir fallen.

Vor und zurück, wenden und umkehren. Vor und zurück wandern wir von zuhause zur Grabstätte und wieder zurück, immer wieder. Wir Nachfahren gehen vor und zurück, wie die Nadel nähen wir Himmel und Erde zusammen. Wir nähen die Toten fest an unser Leben und uns selbst an die Toten, so dass wir sie nicht ganz verlieren. Wir sagen, sie leben in unserer Erinnerung, sie sind in unserem Herzen, und wir versprechen, dass wir sie nie vergessen, und wir nähen und nähen.

Die Grabstätten um uns sagen mit ihren fremden Namen und unbekannten Schicksalen, dass der Abstand sich dennoch einfindet. Wir wollen uns erinnern, solange wir leben. Ja, und die Erinnerung verändert sich. Der Verlust ist da noch immer, aber es geschieht etwas mit dem Bild, dem Eindruck, dem Abdruck des Lebens, das wir hatten. Das geschieht, auch wenn die Erinnerung noch immer über uns kommen kann und uns ganz zurückbringen kann, als wäre es gestern. Das Leben fließt ein in die Erinnerungen wie Farbe, die ausfließt, zusammenfließt.

Wir kommen auf Abstand zu unseren Toten. Im guten wie im schlechten Sinne. Gut, weil wir es wohl nicht ertragen können, ein ganzes Leben in er ersten schmerzvollen Trauer zu leben. Der Abstand befreit uns dazu, unser Leben zu leben, das wir noch immer haben. Kein noch so geliebter Verstorbener wird seinen Nachfahren etwas anderes wünschen als dass wir unser Leben zu Ende leben. Es tut aber weh, die Trennung zu spüren, wie sie mit den Jahren wächst, die vergehen, es tut weh, jemanden sagen zu hören; Das ist so lange her …, zum ersten Mal sagen zu hören: Ich kann mich fast nicht mehr daran erinnern. Ist es möglich zu vergessen?

Wir können darum kämpfen, das Vergessene wieder ins Bewusstsein zu bringen. Wir bleiben in den Erinnerungen, gehen zurück in den Jahren, dann wieder voran – vor und zurück. War das das vor oder nach dem Sommer, als …? Wo wohnten wir damals? Wir graben im Gedächtnis und finden das, woran wir uns erinnern können, helfen dem Gehirn, indem wir uns in den Bildern er Erinnerungen umsehen und sie wieder hervorrufen – und etwas Phantasie gebrauchen.  Die Phantasie hilft uns, wenn wir uns erinnern.

Der Erinnerung kann unerwartet über uns kommen, wenn wir einen Schrank öffnen und einen Gegenstand voller Erinnerungen entdecken, vielleicht einen Teller, ein Tischtuch – vielleicht einen Pullover, noch mit dem Duft des Rauches von einem Grillfest im Sommerhaus. Der Geruch eines bestimmten Brotes, ein Stück Musik, ein Nachklang, eine Landschaft, die ähnelt, und gleich sind wir zurück, und die Toten sind uns nahe. Wir sind wieder zusammen, wie wir waren – oft vollkommen den Gefühlen ausgesetzt, so als wäre das alles erst gestern.   Ach, süße Erinnerung, falle über uns, bring uns zurück! Ach, süße Hoffnung, falle über uns, bringe uns zu dem Sommermorgen, der kommt, noch nicht meiner! Lass nicht diese Zwischenzeit, diesen Limbo der langen Abwesenheit, das letzte sein!

Sie haben meinen Herren weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben!“ Die Auferstehung bringt Unordnung in das Sichere und Gewisse. Der Tod ist das Letzte! Nein, warte, er ist das Vorletzte: das Grab, die Erinnerung und der Verlust sind das Letzte! Aber nun! Nun hat nichts mehr Bestand, denn wo sind die Toten abgeblieben? Jetzt ist es wie in einem Krimi! Siehe nach Spuren! Wer nimmt eine Leiche weg aus dem Grab? Wer entkleidet den Toten oder kleidet ihn um und legt die Leichentücher zusammen? Abwesenheit, ausgemessen von Engeln, einer am Haupt, einer an den Füßen. Maria, und wir mit ihr, haben noch immer nur einen Blick für das, was war, oder sein sollte an seinem letzten sicheren Ort …

Maria dreht sich wieder um und sieht Jesus. Der Tote steht helllebendig vor ihr, und sie erkennt ihn nicht! Sie glaubt, es sei der Gärtner. Und wieder dreht sie sich um, verweist auf die Abwesenheit. Dann nennt er sie beim Namen – ein Laut, ein Name, ein Tonfall, eine Stimme, und alles hat sich verändert.! Nun ist der Tod das Drittletzte! Eine Neuigkeit nach der anderen! Aber selbst das ist nicht das Letzte! Sie darf ihn nicht festhalten, nicht berühren, nicht behalten. Da ist Abstand in der neuen Nähe, und da ist etwas, was zu tun ist. Sie soll sich auf den Weg machen mit der Botschaft für die anderen, dass der Tod seinen sicheren Platz in der Welt verloren hat. Da ist nicht mehr etwas Letztes, nur das Vorletzte oder Vor-vorletzte, wer weiß?

„Draußen geht ein Sommermorgen, der noch nicht mein ist, jauchzend ins Land“ (Bonhoeffer)

Und nun sind wir hier zusammen in einer Kirche, österlich gelb, und gezeichnet von den Ereignissen der Woche. Wir haben so viel gesehen, so viel gehört. Auf den Schlachtfeldern des Krieges stehen die Überlebenden, was sollen wir doch ihnen sagen, wenn wir zurückgehen? 

Die Botschaft ist die, dass wir dasselbe Ziel haben, dieselbe Richtung, nämlich meinen und ihren Gott. Gott ist der Letzte! Gott ist der erste und der Letzte! Gott ist das Ganze, was von all dem zu sagen ist.

„Gib mir meine Toten wieder!“, höre ich mich selbst flüstern. Aber ich merke in mir, dass ich die Tatsache respektiere, dass die armen Menschen in meinem jetzigen Leben recht heimatlos wären, so lange danach. Wir haben ja eine „Deadline“ (!) überschritten, unmerkbar, aber sicher!

Es muss jetzt anders sein, es muss neu werden, größer als nur das Meine und die Meinen, Größer als die Erinnerung an eine Umarmung damals an einem glücklichen Frühlingsmorgen, größer als die Summe all des Lebens, das gerade verspielt wird, weggegossen wie Wasser. Von hier aus muss die Richtung zu den anderen sein mit der Botschaft: Ich habe den Herrn gesehen! Er ist auferstanden, der Tod hat seinen sicheren Platz verloren! Und meine Hände lassen de Toten los, um die Lebenden in die Arme zu nehmen. Verwundert verstehe ich, dass wir alle dort sind – von Anfang bis Ende von Gott umschlossen. Frohe Ostern! Amen. 


Pastorin Anne-Marie Nybo Mehlsen

DK-4100 Ringsted

Email: amnm(a)km.dk


[1] Dietrich Bonhoeffer, DBE 8,523, Widerstand und Ergebung, Neuausgabe, 388f. (295). Aus dem Gedicht „Nächtliche Stimmen in Tegel, Juni 1944.

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