Lukas 10,25-37

Lukas 10,25-37

13. So. n. Tri | 11.09.2022 | Lk 10,25-37 | Thomas Muggli-Stokholm |

Wer ist mein Nächster?: Der Predigttext ausgelegt aus der Sicht des Gesetzeslehrer Zenas

Liebe Schwestern und Brüder, darf ich mich vorstellen: Mein Name ist Zenas. Ich bin der Gesetzeslehrer, den der Evangelist Lukas im heutigen Predigttext auftreten lässt. Zugegeben, gerade glücklich bin ich nicht mit der Art und Weise, wie er zwischen den Zeilen über mich urteilt. Wie viele andere erklärt Lukas uns Gesetzeslehrer pauschal zu Feinden Jesu, obwohl einige meiner Kollegen durchaus mit ihm sympathisieren und sich für ihn einsetzen. Ich meinerseits wurde sogar Christ und ein enger Mitarbeiter von Paulus, wie Ihr im Titusbrief, Kapitel 3, Vers 13, nachlesen könnt.

So ist es missverständlich, wenn Lukas zu Beginn schreibt, ich hätte Jesus auf die Probe stellen wollen mit meiner Frage, was ich tun muss, um das ewige Leben zu erben. Es stimmt, ich wollte prüfen, ob ich Jesus richtig verstehe. Eben zuvor hatte er nämlich Dinge geäussert, die mich sehr verwirrten. Zuerst versprach er seiner Jüngerschar, einem Haufen von ehemaligen Prostituierten, Wirtschaftskriminellen und anderen Sündern: «Freut euch, eure Namen sind im Himmel aufgeschrieben! Dann stimmte er ins Lob Gottes ein: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dies vor Weisen und Klugen verborgen, Einfältigen aber offenbart hast. Ja, Vater, denn so hat es dir gefallen.»

Liebe Schwestern und Brüder. Ich versichere Euch: Jesus hatte mich bis dahin fasziniert, mit seinem vollmächtigen Auftreten, mit seiner Predigt, mit seiner Fürsorge für die Kranken und Armen. Ich ahnte: Da begegnet mir mehr als ein Prophet. Aber dass er nun pauschal behauptet, Gott offenbare seine Weisheit nur Einfältigen, das ging mir zu weit. Von klein auf studierte ich die Tora, das Gesetz des Mose. In Ehrfurcht vor Gott bemühte ich mich, die oft so schwierigen Worte zu verstehen, sie auszulegen für meinen Alltag. Und nun soll das alles nichts sein, weil Gott gemäss Jesus seine Weisheit den Einfältigen und Ungebildeten offenbart? Das ist doch nichts als billige Gnade, die zu Chaos und Anarchie führt. Am Ende verkündigt jeder die allergrösste Torheit als Weisheit Gottes und verspricht den Leuten das Blaue vom Himmel herab!

Da musste ich Jesus auf die Probe stellen und prüfen, was er wirklich meint. So wandte ich mich an ihn und sagte: «Schön, nehmen wir an, dass Gott den Seinen alles im Schlaf gibt, wie es schon im Psalm 127 heisst. Doch wozu soll das ganz praktisch führen? Das ewige Leben fällt mir doch nicht einfach so in den Schoss? Was muss ich tun, damit ich es erbe?»

Die Reaktion von Jesus war wieder einmal typisch für ihn. Ich hätte gerne einige Erläuterungen gehört, über die wir diskutieren könnten. Stattdessen stellte er die Gegenfrage: «Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du da?»

Gut: Diese Frage beruhigte mich eines Teils. Ich war erleichtert, dass Jesus die Tora selbstverständlich als Massstab für das richtige Verhalten beibehält. Er ist also kein weltfremder Phantast und Chaot. Zugleich war ich herausgefordert, mit wenigen Worten zu beschreiben, was das Zentrum der Tora ist. Naheliegend war für mich ein Zitat aus unserem Ur-Bekenntnis im 5. Buch Mose:  «Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit all deiner Kraft und mit deinem ganzen Verstand.» Die weiteren Worte aus dem 3. Buch Mose fielen mir zu: «… und deinen Nächsten wie dich selbst.»

Noch während ich aus der Tora zitierte, sah ich, wie Jesus anerkennend lächelte. Ich freute mich, als er mir zustimmte und sagte: «Recht hast du; tu das, und du wirst leben.» Zugleich wurde mir bewusst, dass das mit der Nächstenliebe nicht so einfach ist. Das Gebot bei Mose bezieht sich explizit auf die Israeliten. Nichtjuden sind also keine Nächsten. Ich ahnte, dass Jesus dies anders sieht, hatte er die Seinen doch wiederholt und eindringlich zur Feindesliebe aufgerufen. Genau damit aber habe ich meine liebe Mühe: Den Feind als Nächsten lieben, das ist ein hehrer Vorsatz. Doch schaffe ich das als schwaches Menschenkind. Könnte ich den Mörder meiner Tochter lieben? Und sind wir wirklich herausgefordert, Ausbeuter und Tyrannen in unser Herz zu schliessen? Ja liebe Schwestern und Brüder, wie wollt ihr in Eurer Zeit eine Person wie Putin lieben, der mit seinem sinnlosen Krieg unsägliches Leid über Millionen Menschen bringt? So fragte ich: «Jesus, verehrter Rabbi, wer ist mein Nächster? Wie weit soll und darf meine Liebe reichen?»

Ja, und dann erzählte Jesus die Geschichte, welche Ihr bestens kennt. Dass er eine theologische Frage mit einer Erzählung erörtert, war nicht ungewöhnlich. Unsere Tradition kennt eine Fülle solcher Geschichten. Sprachlos machte mich hingegen, welche Fülle Jesus in wenige Stichworte packte. Der Mann, den die Räuber ausrauben, niederschlagen und halb tot liegen lassen, der Priester, der kommt, sieht und vorübergeht, der Levit, der sich gleich verhält. Der Samaritaner, der ebenfalls kommt, sieht, jedoch Mitleid fühlt und für den Überfallenen sorgt.

All das brach wie eine Woge über mich hin – und noch während ich mir zurechtzulegen versuchte, was Jesus wohl meint, hörte ich ihn schon wieder zurückfragen: Wer von diesen dreien, meinst du, ist dem, der unter die Räuber fiel, der Nächste geworden? Ich konnte nur verdattert stottern: «Derjenige, der ihm Barmherzigkeit getan hat.» «Geh auch du und tue ebenso.» Mit dieser Aufforderung liess Jesus mich verwirrt und sprachlos stehen. Ich kam mir dumm und töricht vor und dachte mir: Vielleicht stimmt es doch, dass Gottes Wahrheit sich aller menschlichen Weisheit verschliesst. Wie können wir sie aber dann erkennen?

In den folgenden Tagen sass ich oft am See Gennesaret und hing meinen Erinnerungen an die Begegnung mit Jesus nach. Sein Beispiel des armen Kerls, der von Räubern ausgeraubt und halb tot geschlagen wird, ist nicht aus der Luft gegriffen. Der Weg von Jerusalem nach Jericho führt mehrere tausend Fuss in die Tiefe, abschüssig und beschwerlich. Und in den Bergen lauern Räuberbanden. Überfälle sind häufig. Das wissen auch der Priester und der Levit, welche den gleichen Weg gehen müssen. Ich beneide sie nicht, denn ihre besten Zeiten sind längst vorbei. Weil der Tempel in Jerusalem an Bedeutung verloren hat, stehen wir Gesetzeslehrer unterdessen viel höher im Kurs. Die Priester und die Leviten können nicht mehr leben von ihrem Dienst im Tempel. Sie müssen ausserhalb Jerusalems wohnen und sich da ein Auskommen suchen. Beide haben so mehr als genug Gründe, am Überfallenen vorbeizugehen. Zum einen liefen sie Gefahr, sich am Blut des Überfallenen zu verunreinigen. Ihren Dienst am Tempel könnten sie dann für lange Zeit nicht mehr ausüben. Zum andern wissen sie nicht, ob hier wirklich ein Opfer von Gewalt daliegt. Vielleicht ist der Kerl gar nicht verletzt, sondern tut nur so als ob. Seine Kollegen lauern hinter den Felsen und warten darauf, bis jemand stehen bleibt, um zu helfen. Ich muss zugeben: Ich verstehe den Priester und den Leviten nicht nur. Ich hätte auch für mich selbst viele gute Argumente gefunden, um schnell weiterzugehen.

Dass Jesus nun einen Samaritaner auftreten lässt, ist eine Provokation für uns rechtgläubige Juden. Wir verachten die Samaritaner als Ketzer und Ungläubige, weil sie den Tempel in Jerusalem ablehnen und Gott auf dem heidnischen Berg Garizim verehren. Ausserdem anerkennen sie nur die fünf Bücher Mose als Heilige Schrift an.

Auch der Samaritaner kommt und sieht den Halbtoten. Doch er geht nicht vorüber. Er bleibt stehen – warum wohl? Jesus erzählt, dass er Mitleid fühlt. Mit-Leid fühlen. Das findet nicht im Kopf statt, sondern im Herzen. Mitleid ist darum eng verbunden mit Barmherzigkeit. Und steht nicht in unseren Schriften an vielen Stellen, dass Gott selbst barmherzig ist? So kann Hosea, einer unserer Propheten, schreiben, dass Gott von uns nicht Opfer will, sondern Barmherzigkeit. Ja, Jesus provoziert: Ausgerechnet der Samaritaner, der die Prophetenbücher nicht als Heilige Schrift anerkennt. Ausgerechnet er verhält sich barmherzig.

Es arbeitet weiter in mir. Ich war immer stolz, über gottlose Sünder und Frevler hoch erhaben zu sein. Ich verachtete diese Menschen dafür, dass sie all ihr Sinnen und Trachten auf ihren eigenen Vorteil ausrichten. Alles, was sie tun, verfolgt einen bestimmten Zweck, dient ihrem eigenen Interesse. Die Begegnung mit Jesus bringt meine Selbstgewissheit ins Wanken: Denke und handle nicht auch ich zweckorientiert? Ich studiere die Schriften und tue Gutes, um mein Ziel zu erreichen, ein Gott wohlgefälliges Dasein zu führen und einmal das ewige Leben zu erben. Eigentlich unterscheide ich mich nicht grundlegend von einem gottlosen Menschen: Auch ich degradiere die Nächsten zu Objekten. Ich tue ihnen Gutes, um vor der Welt und vor Gott besser dazustehen.

Wer ist mein Nächster? Ich erkenne: Jesus hat meine Frage umgedreht: In seiner Geschichte geht es nicht darum, wer die Nächsten des Priesters, des Leviten und des Samaritaners sind, wem sie helfen sollen und wem nicht. Im Zentrum steht der wehrlose, halbtote Überfallene und die Frage, wer ihm zum Nächsten wird. Schritt für Schritt finde ich zur Einsicht, dass ich meine Frage nicht mit dem Kopf, nicht mit klugen und frommen Gedanken, sondern nur mit dem Herzen und den Händen beantworten kann. Darum hat Jesus mich zweimal aufgefordert, zu tun, was ich eingesehen habe.

Liebe Schwestern und Brüder. Sicher könnt Ihr gut nachvollziehen, wie schwierig dieser Weg der Einsicht und Umkehr für mich war. Ich fühlte mich versucht, Jesus, diesen dahergelaufenen Galiläer, innerlich zurückzuweisen, die schicksalshafte Begegnung mit ihm zu vergessen und ins so vertraute Dasein als hoch angesehener Gesetzeslehrer zurückzukehren.

Vielleicht wäre das auch geschehen, wenn ich nicht einige Wochen später Jesus erneut begegnet wäre. Es war zur Zeit des Passafestes, wo ich, es sich wie es sich für einen frommen Juden gehört, nach Jerusalem pilgerte. Hier wurde ich Zeuge der Kreuzigung Jesu. Praktisch die ganze Bevölkerung der Stadt wohnte diesem Spektakel bei. Zuerst nahm ich aus blosser Neugierde teil. Doch als ich dann Jesus sah, wie er unter dem Kreuz fast zusammenbrach, während die Massen ihn anspuckten, schlugen und mit Spott und Häme übergossen, wurde mir die Begegnung einige Wochen zuvor hautnah gegenwärtig, ebenso wie die Frage: Wer ist mein Nächster? Schmerzhaft erkannte ich den halbtoten überfallenen Menschen im geschlagenen und geschundenen Jesus. Wer war nun sein Nächster? Und ist eine Welt, die solch himmelschreiendes Unrecht wie die Kreuzigung eines unschuldigen Menschen nicht nur zulässt, sondern auch noch bejubelt. Ist eine solche Welt noch zu retten?

Ich fühlte Mitleid mit Jesus, litt und weinte mit ihm, hielt es fast nicht aus, was ihm angetan wurde – und fühlte mich ihm zugleich unendlich nahe. Und ich ahnte: Diese Hingabe bis zum Letzten, dieses Dasein für andere, reine Liebe und Güte, die keinen Zweck und Eigennutz verfolgt, die Liebe, die nicht rechnet und kalkuliert. Das ist es, was die Welt retten kann, das und nichts Anderes. Ohne zu wissen, wie mir geschah, stand ich schliesslich in der Nähe des Kreuzes und hörte die letzten Worte Jesu aus dem Psalm 31: «Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist …»

«… du hast mich erlöst, Jahwe, du treuer Gott», betete es weiter in mir – und ja, ich fühlte mich erlöst, befreit und ermächtigt zum Leben in der Nachfolge von Jesus, der mehr ist als ein Rabbi und Prophet, Jesus, der Gottes Sohn ist, weil in ihm das Mitleid und das Erbarmen Mensch werden.

Wer ist mein Nächster?  Liebe Schwestern und Brüder. Ich wünsche Euch, dass diese Frage auch Euch dem Gott nahe bringt, der keine Opfer und äusserlichen Zeremonien von uns will, sondern weiche Herzen und Mitleid mit denen, die auf unsere Nähe und Hilfe warten. Amen.


Pfarrer Thomas Muggli-Stokholm
Reformierte Kirche Fehraltorf, Kirchgasse 4 8320 Fehraltorf
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