Lukas 7,11-17

Lukas 7,11-17

16. Sonntag nach Trinitatis | 24.09.23 |Lukas 7,11-17 (dänische Perikopenordnung) | Marianne Christiansen |

Auferstehung – nicht unsere, sondern der anderen

Das geschieht ja jeden Tag. Das sollte uns nicht verwundern. „Siehe, da trug man einen Toten heraus“.

Siehe –

Ja. „Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras,

er blüht wie eine Blume auf dem Felde;

wenn der Wind darüber geht, so ist sie nimmer da“. (Psalm 103,15-16)

Siehe – was ist da zu sehen? Der tote Körper, und all die Stellen, wo der Tote nun nicht mehr zu sehen ist. Siehe den Verlust. Siehe die Leere.

Aber der Herr sieht mehr. Er sieht den, der weint.

Am letzten Sonntag hörten im Evangelium (Matthäus 6,24-34), dass Jesus sagte: Sorgt euch nicht oder fürchtet den morgigen Tag. Seht auf die Blumen des Feldes und die Vögel im Himmel. „Sie säen nicht, sie enten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel kostbarer als sie?“

Sind wir das? Wie wagen wir es zu sagen, dass wir mehr wert sind als die Blumen des Feldes und die Vögel des Himmels?

Und wagen wir es eigentlich zu sehen, wie sehr wir ihnen gleichen? Jesus verwies auf sie als Vorbild für sorgenfreies Leben. Aber in seinen Worten klingt ja auch das Echo des alten Psalms vom Menschen, der wirklich ist wie die Blumen des Feldes, ob wir das wollen oder nicht, wir verdorren und sterben in derselben Weise. Wenn der Wind über uns bläst, sind wir nicht mehr. Dort wo wir standen, sieht man uns nicht mehr. Und da ist vielleicht nicht einmal ein leerer Platz.

Das ist es, womit man sich nur schwer versöhnt.

Wir können uns darin üben, und mit dem Gedanken daran zu versöhnen, dass wir selbst sterben müssen. Und es macht sehr wohl Sinn, sich mit dem Gedanken zu versöhnen, denn das müssen wir. Viel Zeit wird damit verschwendet, dass man den Gedanken an den Tod übertönt mit hochfliegenden Gedanken von Unsterblichkeit und technischen Lösungen, die die Auserwählten vor dem Tod schützen, oder mit hektischen Verdrängungen: „Das ist nicht auszudenken, wir sollen nur das Leben so lange wie möglich genießen“. Je mehr wir das Bewusstsein davon verdrängen, dass wir sterben müssen, desto mehr wächst die heimliche Angst. Die Furcht vor dem Tode wird einsam, obwohl sie ja gerade allen gemeinsam ist. Die Furcht vor dem Tod macht uns zu Menschen.

Denn wir gleichen zwar den Vögeln des Himmels und den Blumen des Feldes, aber wir gleichen ihnen nur. Wir sind es nicht. Wir sind gerade darin Menschen, dass wir wissen, dass wir sterben müssen. Wir entdecken das in der Regel, wenn wir vier Jahre alt sind, und für den Rest unseres Lebens müssen wir mit diesem Bewusstsein leben sowohl als Furcht als auch als einen Reichtum.

Wenn wir den Gedanken an den Tod nicht von uns schieben, dann ist es eben dieser Gedanke, der uns Weisheit, Aufmerksamkeit und Wachsamkeit angesichts der Schönheit des Lebens und dem Geschenk der Zeit verleiht. „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden“ (Ps. 90,12), heißt es in einem anderen alttestamentlichen Psalm. Lehre mich der Tatsache ins Auge zu sehen, dass meine Tage gezählt sind, meine Tage begrenzt sind – sie ist kostbar und soll nicht vergeudet werden mit Gleichgültigkeit und Leere und überflüssigen Sorgen. Deshalb müssen wir an die Blumen des Feldes und die Vögel des Himmels erinnert werden und uns darin üben, uns mutig mit unserem eigenen Tod zu versöhnen.

Aber der Tod des anderen. Können wir uns auch mit ihm versöhnen?

Die Witwe, die hinter der Bahre ihres Sohnes durch das Stadttor von Nain ging, hat wohl tausend Mal gewünscht und gebetet, dass sie selbst sterben sollte und nicht ihr Sohn. Sie hätte sich wohl gerne zur Ruhe des Todes begeben, wenn ihr Sohn dafür leben dürfte? Ach ja, und nun geht sie da mit einem leeren Leben und einer Verzweiflung, die viel größer ist als die Furcht vor dem eigenen Tod.

Keiner, der um jemanden trauert, den er liebt, kann sich damit versöhnen, dass er sagt: „Ja, ja, das Leben des Menschen ist wir das Gras, es blüht wie die Blume des Feldes, wenn der Wind darüber geht, ist sie nicht mehr da, und ihre Stätte kennt sie nicht mehr“. Denn ganz gleich, wo die Witwe hinschaut, so wird sie sehen, wo er fehlt, die Erinnerung an ihn, die Sehnsucht nach ihm. Der Verlust wird alles sein, was sie seht. Sie gewöhnt sich daran – das muss sie ja. Sie muss die Trauer tragen, aber der Verlust des Sohnes verschwindet nie aus ihrem Leben. Sie Trauer wird ein Teil ihres Lebens, so wie der Sohn ein Teil ihres Lebens war.

Der Mensch ist das Wesen, das weiß, dass wir sterben müssen. Aber der Mensch ist auch das Wesen, das sich nicht mit dem Tod versöhnen kann. Weil wir lieben. Weil das Leben nie allein uns gehört. Wir gehören einander. Wir gehören zusammen. Wenn ein Mensch stirbt, ist das nicht nur wir die Blumen des Feldes, wo die anderen Blumen – soweit wir wissen – weiter blühen, davon unberührt. Wenn ein Mensch stirbt, zerbricht das Leben für die Menschen, die ihn oder sie geleibt haben. Der Tod des Geliebten ist eine weit größere Furcht und Trauer als der eigene.

Das ist die Tauer, die Jesus an diesem Tage in Nain sieht. Und das Wunder, die Auferweckung des Sohnes der Witwe, ist ein Zeichen dafür, dass Gott sieht. „Seid ihr nicht viel mehr wert als die Blumen des Feldes?“ fragt Jesus, und wenn wir in Bezug auf eine Antwort auf diese Frage zweifeln, so wissen wir dennoch, wenn wir den oder die sehen, die wir lieben: Er oder sie ist für mich weit mehr wert als tausend Blumen. In der Liebe liegt der Wert des Menschen. Und Gott sieht jeden Menschen als den von ihm geliebten mit dem Wert, den die Liebe schenkt.

Jesus sah die Trauer der Witwe und heilte den Schmerz. Es gibt Trauer, die nur geheilt werden kann, indem man das wiederbekommt, was man verloren hat. Es hilft nicht, dass man sagt: Die Zeit heilt alle Wunden, und du findest sicher jemand anderes, den du liebst. Denn wir sind das Leben für einander. Niemand kann den ersetzen, der das Leben für mich war.

Die Auferweckung des Sohnes der Witwe geschieht nicht so sehr für den Jungen, sondern für die Mutter. Jesus „gab ihn seiner Mutter“. So ist es – wir sind einander gegeben, und wir leben von einander.

Wenn wir uns daran machen, uns Gedanken zu machen über das ewige Leben und die Auferstehung von den Toten – die phantastische Hoffnung, die Jesus in die Welt gesetzt hat und die die Auferweckung des Sohnes der Witwe zu Nain ankündigt – dann denken wir auch an die, die wir lieben. Bekommen wir einander wieder? Was sind Auferstehung und ewiges Leben wert ohne die, die wir lieben? Da können wir noch so viel spekulieren über Seligkeit und Verwandlung und Wiedergeburt und dass alles ganz anders sein wird als unsere Phantasie das erfasst – und das tut es sicher, denn wir verstehen weder die Ewigkeit noch die Auferstehung. Aber die eigentliche Hoffnung für den, der liebt, liegt darin, den wiederzusehen, den man liebt. Nur dann ist die Trauer geheilt.

Die Hoffnung auf die Auferstehung des Fleisches ist die Hoffnung darauf, dass die Güte und Liebe dieses Lebens aus dem Tode und der Leere herausgerissen werden. Und ich bin nur ich selbst in Gemeinschaft mit denen, die ich liebe. Deshalb kann es bei der Auferstehung niemals allein um meine Auferstehung gehen – die ist ganz gleichgültig. Nein, es ist die Hoffnung auf die Auferstehung des Geliebten, der anderen – die Auferstehung für das gute Leben, die Blumen des Feldes und die Vögel des Himmels, all die Freude und Schönheit und Liebe, die dieses verletzliche Leben enthält.

Jesus gibt sowohl der Trauer als auch der Hoffnung Recht. Er gibt der trauernden Liebe Recht. Da hast das Recht auf Sehnsucht, Schmerz des Verlustes, Trauer, denn der Mensch ist das wert. Und einmal, auf dem Wege aus der Stadt zum Nichts, bekommen wir einander wieder. Wo und wie, das weiß nur Gott, aber wir dürfen denken, dass wir in der Ewigkeit auch die seins, die wir für einander hier waren, auch wenn wir nicht ahnen, was das bedeutet. Jesus gibt der Liebe Recht, und die lässt sich nur trösten, wenn die den Geliebten wiedersieht.

Mögen wir mit der Hoffnung leben können, so als wären wir jeden Tag einander gegeben, als wäre das Leben neu gegeben. So als hätten wir alles wiederbekommen wie die Witwe am Stadttor. Nit der Aufmerksamkeit und der Weisheit, die uns das Bewusstsein von der Auferstehung der Toten schenken, und mit der Freude und der Hoffnung des ewigen Lebens, die Jesus in die Welt gebracht hat. Amen.

Bischöfin Marianne Christiansen

Ribe Landevej 37
6100 Haderslev

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