Matthäus 22,34-46

Matthäus 22,34-46

Was ist Glaube? | 18 Sonntag nach Trinitatis | Matthäus 22,34-46 (dänische Perikopenordnung) | Von Anders Kjærsig | 

Wer ist Christus? Wer ist der Herr? Wer ist Gott? Wen soll man lieben und woran soll man glauben? Und was ist Glaube? Ist Glaube etwas, was man isst, oder etwas, was man tut? Oder beides? Oder ist Glaube vor allem etwas, was man ist, wenn man es ist – wenn man es denn ist und nicht nur darüber nachdenkt. Macht mehr oder größerer Glaube einen Menschen wahrer, treuer, glaubwürdiger?

Im Text steht, dass man seinen Gott lieben soll von ganzem Herzen und von ganzer Seele – und dazu soll man seinen Nächsten lieben wie sich selbst. Ist Liebe dasselbe wie Glaube? Ist Glaube dasselbe wie Treue? Ist Glaube Vertrauen und Mut? Schenkt der Glaube Hoffnung und Zukunft? Die Fragen drängen sich auf:

„Glaube ist festes Vertrauen auf das,

worauf man hofft,

Überzeugung von dem,

was man nicht sieht“.

So kompliziert kann man das formulieren. Der Glaube ist Vertrauen darauf, dass die Zukunft gut wird, ganz gleich, wie schrecklich sie ansonsten erscheinen mag. So verwundbar ist der Glaube, und doch so stark. Der Glaube ist wie ein Staubkorn, eine Feder – und dennoch eine Unerschütterlichkeit, die der Schöpferkraft und Allmacht Gottes entspricht.

Der Glaube ist nach dem isländischen Schriftsteller Halldor Laxness ein Schneesperling im Sturm. In seinem Buch Seelsorge am Gletscher schreibt er:

„Oft scheint es mir. Dass die Allmacht wie ein Schnee-Sperling ist, geg en den sich alle Stürme gewandt haben. Ein solcher Vogel hat das Gewicht einer Briefmarke. Trotzdem weht er nicht weg, auch wenn er sich im freien Orkan befindet.

Hat man jemals das Kranium einer Schneesperlings gesehen, dann wird man wissen, dass er das schwach gebaute Haupt gegen den Sturm wendet mit dem Schnabel zur Erde, die Flügel eng anlegt, aber den Schwanz in die Höhe streckt, so dass der Sturm ihn nicht fassen kann, sondern vielmehr sich teilt und abprellt. Selbst in den schlimmsten Winden rührt sich der Vogel nicht. Er ist geschützt vor dem Wind.“

So ist der Glaube. Eine Unerschütterlichkeit, ein sicherer Sinn für die Richtung. Nicht ohne Zweifel und Trauer und Entbehrung. Nicht ohne Finsternis und Sturm. Vielleicht mit einem Drang zum Aufgeben. Und dann dennoch, dass man in der Spur bleibt, die Richtung einhält und sich nicht aus der Ruhe bringen lässt. Glaube als Treue – wie ein Schneesperling im Sturm.

Der dänische Wissenschaftsautor Tor Nørretranders spricht in dem Buch Daran glauben zu glauben vom Glauben als einer Glut, einer grundlegenden Einstellung zum Dasein, die wir alle Menschen in der ganzen Welt besitzen. Glaube ist eine Lebenskraft in Richtung auf Mut, unabhängig von dem, woran man glaubt. Glaube ist, wie Nørretranders sagt, „ein gutes Schmieröl für das Dasein“. Nicht das, woran man glaubt, sondern dass man glaubt.

Das ist ja sehr gut, was Nørretranders da sagt – aber es genügt nicht. Denn Glaube ist auch an etwas glauben. In Bezug auf etwas treu sein. Das liegt im Wesen des Glaubens, dass er einen Gegenstand haben muss. Eine Richtung und ein Ziel. Und dieses Etwas muss einen Namen haben, eine Gestalt und eine Substanz. Etwas oder am besten jemanden, woran man sich hält und woran man sich klammert. So wie ein Kind an seine Mutter und seinen Vater glaubt.

Allein an seinen Glauben zu glauben – dass ist genauso kümmerlich wie an den Placebo-Effekt zu glauben. Wenn der Glaube einen „Effekt“ haben soll, muss er den Charakter einer Wirklichkeit haben, dann muss der Glaube einen Gegenstand haben. Dann soll letztlich und am besten Gott selbst für den Glauben einstehen. Glaubst du an Gott oder glaubst du daran, dass Gott an dich glaubt – das ist die Grundfrage.

Wenn man in der Literatur darüber etwas lesen will, empfehle ich Das Leben von Pi von Yann Martel (The Life of Pi), eine Geschichte, wie es in der Einleitung heißt, „die ihre Zuhörer dazu bringen kann, an Gott zu glauben“.

Als Pi 16 Jahre alt ist, emigriert er mit seiner Familie aus Indien nach Kanada. Aber das Schiff geht unter. Nur Pi und ganz wenige andere Lebewesen überleben. Wie die Geschichte verläuft, viele Jahre später von Pi selbst erzählt, wird deutlich, dass er ganze 227 Tage an Bord eines Rettungsbootes überlebt mit einer ganzen Menge von Überlebensaussteuer – plus, wie er es formuliert:

„1 bengalischer Tiger, 1 Rettungsboot, 1 Ozean, 1 Gott“ – und vor allem wegen des Letzteren „eine mangelnde Fähigkeit aufzugeben.“

Der Bericht ist phantastisch, aber aus einer kühlen nüchternen Betrachtung ist das ja gelogen. Wo kommt der bengalische Tiger her mitten in einer Geschichte vom Ertrinken? Das wirkt wie reine Phantasie – und dennoch.

Zwei Männer von der Reederei des gesunkenen Schiffs interviewen später Pi und bestehen auf dem, was sie die wahre Geschichte nennen. „Eine Geschichte ohne Tiere, ohne einen bengalischen Tiger“, wie sie sagen. Die erhalten sie. Trockene, kalte Tatsachen. Ein nüchterner Bericht über und mit ausschließlich Menschen an Bord des Rettungsbootes. Und doch viel tierischer und grausamer. Ein phantasieloser und schrecklicher Bericht von Bosheit und Gottlosigkeit. Roh und brutal.

Aber Pi wählt immer die beste Geschichte, denn er kennt wie keiner die schlimmste. Pi hat überlebt. Das steht fest. Zugleich steht fest, dass die beste Geschichte die mit den Tieren ist. Und die mit Gott.

Wie es in der Einleitung heißt: Wenn wir „unsere Phantasie auf dem Altar der eindimensionalen Wirklichkeit opfern“, dann wird das damit enden, „dass wir an nichts glauben und wertlose Träume haben“. Lasst uns nie die Phantasie verabschieden. Lasst uns immer die beste Geschichte wählen.

Was Tor Nørretranders übersieht, ist dies: Glaube ist eine Erzählung. Treue – ein Glaube an die Geschichte. Glaube heißt treu sein. Gott von ganzem Herzen und von ganzer Seele lieben. Und den anderen Menschen nicht nur wie sich selbst lieben, sondern ein bisschen mehr. Deshalb erzählen wir die beste Geschichte, weil sie erbaut und den Menschen Mut und Orientierung gibt. Das ist der Segen und die Freude.

Amen.

Pastor Anders Kjærsig

5881 Skårup Fyn

Emal: ankj(at)km.dk

de_DEDeutsch