Matthäus 25,31-46

Matthäus 25,31-46

Das Weltgericht in Ravenna | Letzter Sonntag im Kirchenjahr | Predigt zu Matthäus 25,31-46 (dänische Perikopenordnung) | verfasst von Marianna Frank Larsen |

In der großen alten Kirche von Ravenna Sant’ Apollinare Nuovo sind die Wände im Schiff bedeckt mit goldenen Mosaiken aus dem 6. Jahrhundert. Oben an der linken Seite sieht man eine lange Reihe von Szenen aus dem Leben Jesu: Die Hochzeit von Kana, wo er Wasser in Wein verwandelt, die Auferweckung des toten Lazarus, die Heilung des Blinden in Jericho – und zwischen all den anderen Motiven Jesus, der da sitzt und die Schafe von den Böcken trennt. Als wäre das nicht nur etwas, von dem er erzählt. Als wäre das auch etwas, was er tut. Er sitzt auf einer kleinen Erhöhung im Grünen. An seiner rechten Seite hat er die weißen Schafe. Ihnen reicht er seine milde Hand, während der Engel hinter den Schafen sein Gericht anerkennt, gekleidet in der roten Farbe der Liebe. Im Gegensatz zu dem Engel hinter den Böcken zur linken Seite Jesu. Er ist in eiskaltes Blau gekleidet mit Flammen und das Haupt. Jesus selbst trägt dasselbe violette Gewand wie auf allen den anderen Bildern in der Kirche und dieselbe Glorie mit einem goldenen Kreuz und Edelstein. Da werden wir daran erinnert, dass der Richter, der zwischen Schafen und Böcken trennt, kein Fremder ist. Es ist zum Glück der, den wir kennen. Er, der der Freude freien Lauf ließ bei der Hochzeit in Kana und der Lazarus hinaus in die Sonne führte und dem Blinden die Augen öffnete.

Die Fresken späterer Zeiten malen das Feuer, die Teufel und die Qual aus. Hier nicht. Die Absicht des Mosaiks ist nicht, uns zu erschrecken. Das ist auch nicht das Ziel des Evangeliums. Aber das Mosaik spiegelt den großen Ernst wider, der in diesem Bild liegt und den Jesus mit seinem Gleichnis heute hervorruft. Der Ernst, der darin liegt, dass wir gerichtet werden, dass wir von einem anderen als uns selbst gerichtet werden. Dass wir also nicht nur jeder für sich unser Leben leben, wie wir es nun für richtig halten – und dann ist das so in Ordnung. Vielmehr ist da einer, der alles sieht, was wir tun, und alles, was wir versäumen, weil wir unser Leben vor seinem Angesicht leben. Er ist es, der uns unser Leben gegeben hat, unsere Fähigkeiten und Möglichkeiten, und er hat uns einander gegeben. Und deshalb ist er in seinem guten Recht, Forderungen zu stellen und ein Urteil über uns zu fällen. Und damit kann es niemals gleichgültig sein, was wir tun oder wie wir einander behandeln. Denn das ist es ja, was ganz deutlich wird, wenn Jesus sein Gleichnis erzählt: das, was er von uns fordert, und das, nach dem er uns richtet – das ist Barmherzigkeit. Das ist sein Wille, sein Sinn mit unserem Leben, und das ist das einzige Kriterium. Ob wir barmherzig gehandelt haben gegen die Menschen, mit denen wir in Berührung gekommen sind. Oder ob wir das versäumt haben.

Das Urteil fällt er einmal, wenn die Welt untergeht oder wenn mein Leben untergeht. Aber er fällt es auch heute, wenn wir das Gleichnis hören und das Bild vor uns sehen. Jetzt stellt das Gleichnis ja seine Frage und fällt sein Urteil über uns. Und das ist tiefer Ernst. Denn die Überraschung ist ja, dass Jesus sagt, dass wir alles, was wir einander getan haben, ihm getan haben. Dass er sich in dieser Weise eins macht mit jedem Menschen, der dürstet oder hungert, friert oder gefangen ist oder leidet. Ja, das ist ja eigentlich keine Überraschung, das geschah ja Weihnachten, als er geboren wurde als ein Säugling von einer Mutter wie die unsere. Und als er starb als ein nackter Mann und ins Grab gelegt wurde wie wir. Eins mit uns, wenn wir am allerkleinsten sind. Damit erhalten alle unsere kleinen Werke und alle unsere Versäumnisse ja ewige Bedeutung. Nichts kann da egal sein. Dann ist es nie nur in Ordnung, dass wir nur tun, was uns passt. Alles, was wir tun, und alles, was wir versäumen in Bezug auf andere Menschen, das tun und versäumen wir zugleich in Bezug auf unseren Herrn.

Wenn wir das Gleichnis so hören und zugleich Angesicht zu Angesicht vor ihm stehen, der uns richtet, dann müssen zu zugeben, was er längst gesehen hat, dass alles in unserem Leben nicht von Barmherzigkeit bestimmt war. Dass da jemand war, den wir nicht besucht haben, und jemand, dem wir nicht die helfende Hand reichten, die sie brauchten. Dass da jemand war, dem wir nicht zuhören wollten oder dem wir uns nicht öffnen wollten, und jemand, den wir im Stich gelassen haben oder nie gemocht haben oder den wir verlassen oder übergangen haben. Und das kann man nie wiedergutmachen. Das ist unsere Schuld. Geht fort von mir, sagt er dann im Gleichnis, und er reicht den Böcken nicht die Hand auf dem Bild, sondern überlasst sie den kalten blauen Engel. Und da können wir nur hoffen, dass dies Bild und die Worte: Geht fort von mir, nicht die ganze Wahrheit sagen.

In der Kirche in Ravenna befindet sich auch eine lange Reihe von Bildern oben auf der rechten Seite des Schiffes. Das sind Szenen von Gründonnerstag und Karfreitag: Das letzte Abendmahl, Judas, der Jesus verrät mit einem Kuss, Petrus, der Jesus verleugnet, Jesus auf Golgatha. Und Jesus, der am Ostermorgen aus dem Grabe aufersteht. Das Bild von dem König, der die Schafe von den Böcken trennt, sagt also nicht alles. Die Bilder vom Leiden und Tod und der Auferstehung Jesu sagen, dass er, der Barmherzigkeit von uns fordert, selbst seine ganze Barmherzigkeit uns erwiesen hat. Und dies, obwohl wir wie Judas uns Petrus versagt haben. Dass er dafür gestorben ist, uns seine eigene Barmherzigkeit zu erweisen statt der, die uns fehlte. Im Unterschied zu dem König auf dem Mosaik sagt Jesus nicht: Geht fort von mir. Er reicht seine Hand den Schuldigen und Verlorenen. Und uns, wenn wir das sind. Und das müssen wir hoffen und glauben, und darum müssen wir beten, und das müssen wir glauben: Dass er uns die Barmherzigkeit erweist, die wir brauchen, wenn unsere eigene Barmherzigkeit nicht ausreicht.

So wie ich das verstehe, so hat das Gleichnis im heutigen Evangelium ein doppeltes Ziel. Das eine ist der Ernst, das Gericht über uns, wenn wir einander versäumt haben, jetzt und einmal in der Zukunft, wenn alles vorbei ist. Nichts kann gleichgültig sein. Das andere ist der Apell, die indirekte Aufforderung an uns, hinzugehen und Werke der Barmherzigkeit hier und jetzt zu tun, weil er dies von uns erwartet. Dass wir uns in seiner Barmherzigkeit spiegeln. Und dann versuchen zu sehen, was die Werke der Barmherzigkeit sind. Das ist ja keineswegs heroisch. Das ist nur, dass man ein Glas Wasser holt für den der durstig ist. Eine Mahlzeit zubereiten für den, der hungrig ist. Eine Jacke finden für den, der friert. Den besuchen, der im Gefängnis sitzt. Das sind ganz gewöhnliche kleine Werke, man braucht nicht besonders erfinderisch zu sein, um auf diese Gedanken zu kommen, und wir alle können das tun. Aber die kleinen Dinge können das Leben erträglich machen für den, der in Not ist. Das wissen wir gut von uns selbst. Was für einen großen Unterschied die Barmherzigkeit eines anderen Menschen machen kann, wenn es uns schlecht geht. Das kann unseren Tag und unsere Lust zu leben retten.

Und deshalb möchte ich schließen an einer anderen Stelle im Mittelalter mit einer sehr schönen Legende. Die ist nicht aus Italien, sondern aus Frankreich. Es wird erzählt, dass ein römischer Soldat mit dem Namen Martin eines Tages in die Stadt Tours ritt. Es war ein eiskalter Wintertag, der Wind führ durch Mark und Bein. Am Stadttor saß ein Bettler, der nichts anderes als seine dünnen Lappen anhatte und vor Kälte zitterte. Da hielt der Soldat sein Pferd an und stieg ab. Er nahm das große Gewand aus Wolle ab, das er selbst anhatte, zog sein Schwert und teilte das Gewand in zwei Teile, ging hin und legte die eine Hälfte dem frierenden Bettler über die Schultern. Selbst nahm er die andere Hälfte zu sich, stieg wieder auf sein Pferd und ritt in die Stadt. In derselben Nacht hatte Martin einen Traum. Im Traum sah er Jesus mit einem halben Gewand über seinen Schultern sitzen. Dieses Gewand habe ich von Martin von Tours bekommen, sagte er. Das verstand Martin ja nicht. Aber wir verstehen es wohl. Denn alles, was ihr einer meiner geringsten Brüder getan habt, habt ihr auch mir getan. Aber einen Gott im Himmel, der sich eins machte mit einem armen Bettler an einem beißend kalten Novembertag hier auf Erden – an ihn musste Marin einfach glauben. Er wurde also getauft und wurde ein Christ – und als die Gänse schnatterten und sein Versteck verrieten, wurde er auch Bischof. Wir glauben an denselben Gott wie Martin. Ab nächsten Sonntag kommt er wieder mit seiner Barmherzigkeit. Amen.

Pastorin Marianne Frank Larsen

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