Matthäus 5,1-12

Matthäus 5,1-12

22.Sonntag nach Trinitatis (Allerheiligen) | 05.11.23 | Matthäus 5,1-12 (dänische Perikopenordnung) | Tine Illum |

Allerheiligen

In Dänemark wird der erste Sonntag im November als „Allerheiligen“ begangen zum Gedenken an die Verstorbenen. Ein Tag, an dem man vielerorts die Menschen zum Gottesdienst einlädt, die im abgelaufenen Jahr einen Angehörigen verloren haben. Bei diesem Gottesdienst werden die Namen aller aus der Gemeinde verlesen, die verstorben sind oder auf dem Friedhof beerdigt wurden. Es kommen aber auch viele in die Kirche, die jemanden verloren haben, der weit weg wohnte, oder jemanden, der vor langer Zeit verstorben ist. Das nehmen wir in der folgenden Weise im Gottesdienst auf:

    Am Eingang zur Kirche können alle eine Karte nehmen und auf dieser Karte den Namen von jemandem schreiben, den man verloren hat. Die Namen werden nicht vorgelesen. Die Karten werden auf den Altar gelegt. Das kann schon vor dem Beginn des Gottesdienstes geschehen, viele kommen an diesem Tag schon frühzeitig, während wir das erste Lied singen (Dybt hælder året i sin gang[1]), ein Lied mit vielen Versen. Man kann die Karte auch mitnehmen, wenn man zum Abendmahl geht, und auf den Altar oder auf den kleinen Tisch mit den Einzelkelchen legen. Auf diese Weise wird deutlich, dass wir über Zeit und Raum hinweg verbunden sind. Die Ewigkeit wird konkret erlebt. Auch haben wir erlebt – und von einigen Kirchgängern gehört – dass das Abendmahl hier im buchstäblichen Sinne eine mehr „bekömmliche“ Mahlzeit ist – nicht restriktiv gebunden an eine dogmatische Tradition, die einige davon abhalten kann, am Abendmahl teilzunehmen. Der eschatologische Aspekt der Abendmahlsfeier wird deutlich – und gegenwärtig.

   Wir feiern Allerheiligen als das, was man anderswo „Allerseelen“ nennt. Das ist eine Herausforderung angesichts des Predigttextes aus den Seligpreisungen. In diesem Jahr habe ich mich dafür entschieden, ihn sporadisch zu verwenden und dafür den Text nur bis zum Vers 10 zu lesen.

   Die Predigt geht unmittelbar über in ein Gebet, das wir deshalb hier mit einbeziehen.

„Das Essen ist fertig!“ Wie oft haben wir das nicht gehört, gesagt, durch das Haus gerufen.

„Sieh zu, ob du nicht etwas essen kannst“, haben wir zu dem Kranken zuhause oder im Krankenhaus gesagt.

Eines Tages klingt dieser Ruf merkwürdig hohl, weil es niemand hört.

Eines Tages ist da ein Stuhl, der so furchtbar leer dasteht, und wir wissen: Er oder sie, die dort gesessen haben, werden da nicht mehr sitzen.

Das haben die meisten von euch erfahren, die ihr hier versammelt seid. Vielleicht in diesem Jahr, vielleicht vor vielen Jahren.

Wenn wir uns zu Tisch setzen und zusammen essen, spüren wir die Gemeinschaft. Vielleicht am allermeisten dort. Und zugleich kann das gemeinsame Essen eine neue Gemeinschaft schaffen.

Wir essen im Leben oft zusammen – und zusammen mit vielen verschiedenen Menschen. Und ich bin sicher, dass jeder von euch mehrere Mahlzeiten nennen könnte, die euch ganz besonders viel bedeutet haben.

Wir haben auch viele Erinnerungen, die sich auf Essen und Mahlzeiten beziehen. Die Pfannekuchen von der Großmutter, die Frikadellen vom Vater, die traditionellen Mahlzeiten zu Weinachten und anderen Festen. Das Salatbesteck, das wir geerbt haben, die Soßenschüssel, das Weihnachtstuch. Und das bedeutet viel von uns. Das ist mehr als nur Essen und Dinge. Das ist Gegenwart.

Den Weihnachtsabend oder der Tag, als er oder sie Geburtstag hatten, weckt auf wunderliche Weise die Gemeinschaft wieder zum Leben. Wir können nicht erklären warum. Das ist nicht logisch – aber das gibt es. Sehr stark sogar gibt es das. Es macht keinen Sinn, und doch ist es von größter Bedeutung.

Wir spüren es: Die Hoffnung kommt zu uns erneut und flüstert uns zu: Es kommt die Zeit, wo ihr, die ihr trauert, Trost findet, wo eure Sehnsucht erfüllt werden wird … ja, wo ihr Gott sehen werdet – so wie wir es zu Beginn gehört haben, als wir indie Kirche kamen.

   Der dänische Dichter Søren Ulrik Thomsen schreibt nicht vom Essen, sondern von einer anderen Tradition, die für ihn etwas ganz Unschätzbares bedeutet in Bezug auf sie oder ihn, die er verloren hat. Im Gedicht heißt es:

„Jedes Jahr an dem Datum,

welches zufällig dein Geburtstag wurde,

nahmen wir den Zug nach Aarhus,

um dein Grab zu besuchen,

welches nun einmal der Ort hier in der Welt wurde,

wo du nicht bist.

Auf dem Weg durch die Stadt kaufen wir Blumen

und reden wie an jedem anderen Tag,

bis wir vor dem Stein stehen.

Und auf dem Weg zurück regnet es immer.

Da nichts von dem Sinn macht

und dennoch stattfindet,

muss es von allergrößter Bedeutung sein.“

Zusammen essen, unsichtbare Gegenwart spüren mit all denen, die wir nicht mehr sehen können, mit denen wir aber zusammen gegessen haben und die etwas für uns bedeutet haben – das macht logisch keinen Sinn und kann nicht wissenschaftlich gezeigt werden, indem wir durch ein Scannen des Gehirns und was weiß ich sehen. Aber es existiert – und ist noch immer von größter Bedeutung.

Die merkwürdigste Mahlzeit, die wir kennen, ist das Abendmahl in der Kirche.

Das Abendmahl ist eine ganz besondere Weise, mit Gott und einander zusammen zu sein. Die es damals aßen, kannten die Erzählungen davon, dass Gott einmal zu einer besonderen Mahlzeit einladen würde, wo alle Ungerechtigkeit und Trauer verschwinden würden und wo Friede sein würde. Und alle sollten Platz haben am Tisch des Reiches Gottes, uns es sollte ein himmlischer Friede darüber sein, und alle sollten satt werden. Hier sollte all das geschehen, von dem wir gerade aus der Bibel gehört haben. Armut, Trauer, Unterdrückung, Hunger und Durst, Verfolgungen sollten verschwinden.

Hier sollten Gott und seine Zeit bei den Menschen sein. So sollte es einmal sein. Das war ihre Hoffnung. Und diese Mahlzeit, das Abendmahl, war und ist von größter Bedeutung – hier kommt die Hoffnung von vorn, hier werden wir gesättigt von einem Krümel vom Brot des Lebens und einem Tropfen vom Becher des Heils.

Ein Kollege hat mir erzählt, dass er einmal mit einer alten Frau über ihre Beerdigung gesprochen hat. Sie meinte, die ließe nicht lange auf sich warten. Sie sprachen über Lieder bei der Beerdigung, und plötzlich sagte sie: „Wenn ich sterbe, möchte ich mit einer Gabel in der Hand beerdigt werden“. Mein Kollege fragte überrascht, warum sie das wollte. „Ja“, sagte sie, „wenn man in Gesellschaft ist und die Teller eingesammelt werden und dann gesagt wird: ‚Behaltet eure Gabeln‘, dann weiß man, es gibt gleich noch etwas Besseres. Ich behalte also meine Gabel“.

Für mich ist das eines der schönsten Bilder für die Hoffnung, dass wir nicht vom Leben zum Tode gehen, sondern vom Leben zu einem größeren Leben.

In der Mahlzeit, die Jesus mit seinen Jüngern einnimmt – und in der Mahlzeit, die der auferstandene Christus zusammen mit uns im Abendmahl einnimmt, ist er zugegen mit einem Vorgeschmack auf ein großes und verwandeltes Leben, so dass Brot und Wein buchstäblich ein „himmlischer Bissen“ werden.

Und da nichts von dem Sinn macht

und dennoch stattfindet,

muss es von allergrößter Bedeutung sein.

Das sind Glaube und Hoffnung und Liebe in einer Handlung.

Hier beim Abendmahl sitzen wir am Tisch mit all denen, die waren und sein werden. Hier sitzen wir zu Tische mit Gott, der sowohl Wirt ist als auch Gast. Ja, wir haben gehört, dass er selbst das Mahl ist. Das Brot des Lebens, das unsere Seele sättigt.

Hier am Abendmahlstisch haben wir Tischkarten hingelegt von einigen von denen, die wir heute vermissen. Wir essen hier sichtbar das Mahl des Reiches Gottes, und essen es unsichtbar im Himmel. Es ist dasselbe Tisch, an dem wir sitzen. Jeder einzelne von uns.

Das ist ein Mysterium und ein Rätsel.

Das Abendmahl ist nicht so, um uns zu erzählen, dass Gott nur hier zugegen ist. Nein, im Abendmahl wird deutlich, was immer gilt: Gott ist nicht fern, sondern mitten unter uns mit seinem Willen zu Leben und Zukunft – für uns, die wir hier leben, und für die, die wir verloren haben.

Lasst uns beten:

Jesus, dir sei Dank, dass du uns Wort und Brot und Wein gegeben hast, wovon wir leben, und dass du sagst, dass Himmel und Erde ewig mit dir verbunden sind.

Komm zu uns an diesem späten Novembertag, erzähle uns wieder, dass du uns einen Stuhl hingestellt und einen Tisch gedeckt hast, und dass du – wenn die Zeit kommt – uns am himmlischen Tisch erwartest.

Du, der aus allen Ecken der Welt alle sammelst, die vor uns gelebt haben, und alle, die nach uns leben werden. Wir danken dir für alle die, mit denen wir in unserem Leben zu Tisch gesessen haben und die wir nun verloren haben. Danke für alle, die uns auf dem Wege begleitet und uns an die Hand genommen haben.

Danke dafür, dass wir glauben dürfen, dass du sie begleitet hast durch den Tod zum Tisch im Himmel – höre uns, wenn wir jeder für sich in der Stille zu dir kommen mit unseren Gedanken und Wünschen.

Wir bitten für alle, die nach uns kommen. Wir bitten um Gerechtigkeit und Frieden in der Welt, für Hoffnung und Mut, für unsere Erde, die Natur und die Menschen.

Zeige uns, wo wir Verantwortung übernehmen müssen für die kommende Zeit.

Wir bitten für alle, die jetzt leben. Für die, mit denen wir zusammenleben, und für die, die wir nicht so oft sehen. Und wir danken dir für alle die, die die Hoffnung am Leben halten für andere, für Lachen und Glauben und Hilfsbereitschaft.

Heute bitten wir vor allem für die, die einen Lieben verloren haben oder verlieren werden. Wir bitten für alle, die sterben werden, und für alle, die ihnen beistehen und sie lieben.

Wir gedenken unserer Toten. Jeden einzigen Tag – und heute denken wir gemeinsam an sie in diesem Gottesdienst. Erzähle uns erneut, dass sie bei dir sind und bei dir aufgehoben sind.

Und wir denken an die Toten, die wir nicht gekannt haben, die aber geliebt waren von anderen.

Sei all denen nahe, die einsam sind und die niemand vermisst.

Sei bei uns jetzt – und wenn unser letzter Tag kommt, führe uns durch das Tor des Todes in das helle Reich des Lichts. Amen.

Pastorin Tine Illum

DK-6091 Bjert

Emal: ti(at)km.dk

[1] Nr. 732 im dänischen Gesangbuch, deutsch im Deutsch-dänischen Kirchengesangbuch: ”Tief sinkt das Jahr in seinem Gang“.

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