Matthäus 5,20-26

Matthäus 5,20-26

6.Sonntag nach Trinitatis | 16.07.2023 | Mt 5,20-26 (dänische Perikopenordnung) | Leise Christensen |

Was ist Sünde?

Neulich war ich bei einem Geburtstag von einer 83 Jahre alten Frau. Es war richtig gemütlich, der Kaffee wurde getrunken bei viel Gespräch und vielem Lachen, und die verschiedenen Themen des Tages wurden aufgenommen und diskutiert. Wir kamen denn auch zu dem Thema, das viele Menschen zurzeit beschäftigt, nämlich ob ihre Kinder die Ausbildung bekommen, die sie gerne möchten, all das, was in diesen Tagen entschieden wird, wo die jungen Leute an ihrem Computer sitzen bis Mitternacht, um die Mail zu sehen, die darüber entscheidet, ob sie für die gewünschte Ausbildung aufgenommen werden oder nicht. Jemand hatte einen Sohn, der gerne an der Handelshochschule studieren wollte, und das fand der betreffende, war eine gute Idee, denn da war er selbst ausgebildet vor etwa 35 Jahren. „Ja“, sagte er, „dann kann mein Sohn meine Aufzeichnungen benutzen“. Darüber wurde am Kaffeetisch sehr gelacht – 30 Jahre alte Aufzeichnungen?? Ehrlich gesagt. Da muss man ja lachen. Da ist seitdem viel geschehen in der Forschung, darin waren sich alle einig. Der Elektriker sah lächelnd zurück auf seine frühere Zeit als Elektriker, wo man das Internetz noch nicht kannte. Er konnte auch nicht den Nutzen von 35 Jahre alten Zensuren sehen.

Ich selbst saß da und schwieg bei den Diskussionen, den ehrlich gesagt, wie das mein Lehrer Professor Johannes Sløk ausdrückte: „In Bezug auf die Lehre von der Erbsünde hat sich in den letzten 30 Jahren nicht viel getan“. Ich konnte hier mit meinem Fach nicht viel beitragen. Ich würde sogar meinen, dass ein junger Theologiestudent alle meine Aufzeichnungen, wenn sie noch immer existierten, völlig veraltet finden würde und ohne Relevanz für die moderne Theologie, oder dass er sie als ungeeignet für heutige Anliegen betrachten würde. Schon gar nicht, was die Sprache angeht, also all das was mit Lateinisch, Griechisch und Hebräisch zu tun hat. Die Theologie ist zwar ein Fach, wo sich die Auffassungen in vieler Hinsicht im Laufe der Jahre verändern und wo sich die Methoden unterscheiden und wo die Einstellung der Menschen zu theologischen Fragen anders sein kann als früher, aber das Anliegen bleibt grundlegend in etwa dasselbe, also die Lehre von Gott, das Verhältnis des Menschen zu Gott in der Welt und überhaupt die Frage nach der Existenz Gottes. Die Antworten auf diese Fragen sind natürlich nicht dieselben, ob man ein mittelalterlicher oder ein spätmoderner Mensch ist, aber die alten Antworten aus der Alten Kirche oder später sind dennoch die Grundlage, von der aus man heute Antworten findet und diskutiert, auch wenn die Antworten anders ausfallen mögen. Was meinten die Kirchenväter zu diesem und jenem? Was Luther? Was meinte Kant oder Kierkegaard oder Sløk oder der Papst oder wer auch immer? Auch wenn Sløk sagt, dass sich im Hinblick auf die Lehre von der Erbsünde in den letzten 30 Jahren nicht viel getan hat, ist das in der Tat eine zentrale Einsicht, auch wenn das an unserem Kaffeetisch wohl nur zum Spaß gesagt wurde.

Die Sünde ist in der Welt in unveränderter Form seit dem Beginn der Menschheit, aber unsere Auffassung von der Sünde hat sich wohl verändert, werden viele wohl sagen. Existiert sie überhaupt als etwas, was in der modernen Welt relevant ist? Ich sehe oft müde Blicke, wenn von der Sünde die Rede ist: „Ist das wirklich etwas, von dem ihr noch immer dort in der Kirche redet? Ich das nicht eine überstandene Stufe auf der Leiter der Evolution?“ Nein, das ist die Sünde so gesehen nicht, kann man sagen. Man braucht nur den Fernseher einschalten und die Nachrichten des Abends zu sehen um zu entdecken, dass die Sünde die Welt wohl noch nicht verlassen hat. Die Früchte der Sünde rollen uns entgegen aus dem Fernseher mit Krieg, Tod, Not und Katastrophen verschiedener Art – direkt am Sofa. Oft hat man den Begriff der Sünde mit der zu jeder Zeit geltenden Moral verwechselt. Z.B. war es vor nicht mehr als 60 Jahren ganz entsetzlich, wenn ein Paar geschieden wurde oder zusammenlebte ohne Trauschein – Sünde schlimmster Art, meinten viele einschließlich von Pastoren der Volkskirche – während man heute nicht geneigt sein würde, solche Leute in irgendeiner Weise mit dem Begriff der Sünde in Verbindung zu bringen. Das ist ja nicht gerade etwas, was Menschen ehrlos macht in der Gesellschaft, wo man auf der Straße mit den Fingern auf die Leute zeigen würde.

Im biblischen Sinn jedoch ist es nicht dieser Typ von „Sünde“, von der Jesus spricht. Er würde vielmehr sagen, dass die Menschen Sünder sind, die den Geschiedenen verurteilen, den Homosexuellen, die Menschen, die ein Leben außerhalb der guten bürgerlichen Gesellschaft führen. Die Sünde hat sich seit der Zeit Jesu nicht verändert, das hat aber also die menschliche Auffassung von dem, was Sünde ist. Die Sunde ist und wird nie das, was wir an anderen auszusetzen haben und damit als besonderen Ausdruck der Sünde brandmarken können. Die Sünde ist eine Grundgegebenheit. Die Sünde ist das, was bewirkt, dass wir alle immer in einem gewissen Sinne im Konflikt mit der Welt sind. Dass die Welt nie so ist wie sie sein soll, wenn man so sagen darf, dass die Welt nie ganz und schön und rund und ordentlich ist. Da ist immer etwas, was abweicht und was anders sein sollte, damit alles gut werden kann. Das ist die Sünde. Der Ausdruck der Sünde in der Welt findet sich überall dort, wo wir einander Idioten nennen oder Raka, was eigentlich „leer“ bedeutet (meine ich jedenfalls von meinen 30 Jahre alten Aufzeichnungen her). Wo wir direkt Mitmenschen angreifen, ohne daran zu denken, was die Menschen durch unsere Angriffe zu erleiden haben. Da, wo die Beziehung zwischen Menschen zerstört wird. Dort wo wir der Wut freien lauf lassen, auch wenn wir Verletzungen verursachen – ganz banal ausgedrückt wie in der Schlange an der Kasse, im Wartezimmer, bei dem Elterntreffen in einer Schule, mit dem Auto beim Überholen, auf Facebook – oder wo wir nun losschlagen mit unserer unbändigen Wut und unserem Drang, jeden einzelnen Menschen einen Idioten zu nennen, der sich nicht ordentlich benimmt so wie ich meine, dass man sich ordentlich aufführt. Alle die, die mir und den Meinen im Wege stehen. In Bezug auf die Sünde, an der wir in anderen Menschen gegenüber beteiligt sind, macht Jesus keinen Unterschied. Wenn wir einem anderen Menschen wehtun. Ist das verkehrt, es ist abartig, es ist Sünde. Sagt also Jesus. Und wir sollen uns versöhnen. Wie das! Naja, um das zu hören kommen wir heute in die Kirche. Teils, dass wir alle Sünder sind ganz gleich, was wir tun, und teils, dass wir verurteilt werden zu den Flammen der Hölle, allein will wird schlecht über unseren Mitmenschen gedacht haben. Man erinnert sich ja wohl im Inneren an alle die Male, wo man im Inneren zu sich gerufen hat: „Halte dich zurück, du Idiot“. Es ist ja ehrlich gesagt nicht sehr trost- und gnadenreich, dies hier. Und wenn man sich sicher weiß, in der Hängematte der Sünde festzusitzen, ja dann endet das leicht in Verzweiflung. Ist das an einem Tag wie heute der Sinn? Dass wir da im Schlamassel sitzen und in der Leere festsitzen, in Verzweiflung und Angst? Leere im Leben, Angst vor dem Gericht, Verzweiflung darüber, dass man nicht das ändern kann, was man getan hat, wenn man dem anderen Mensch en wehgetan hat. Sollen wir so nachhause gehen? Nein, das ist es ja nicht, denn darin wäre ja kein richtiges Evangelium, d.h. frohe Botschaft. Denn Gott lässt nämlich Gnade vor Recht ergehen und beantwortet unseren Mangel an Liebe zueinander eben mit Liebe. Liebe ist das Einzige, was die Not überwinden kann, die innere und die äußere Not. In unserer Taufe ist uns verheißen, dass wir mit der Zukunft der Gnade leben ganz gleich, was uns widerfährt. Das bedeutet, dass wir da sein können jetzt und hier, wo wir sind, und die Liebe und die Freude empfangen dürfen. Das bedeutet, dass wir in die Welt hinausgehen können in Freiheit und das Leben leben dürfen zusammen mit denen, mit denen wir das Leben nun einmal teilen. Das bedeutet nicht, das die Sünde verschwunden ist, sie ist hier wie vor 2000 Jahren, wie vor 30 Jahren. Das bedeutet, dass wir nicht hingehen und uns selbst und andere verurteilen sollen, denn das ist schon geschehen. Von Gott, einem Gott voller Gnade. Amen.

Pastorin Leise Christensen

DK 8200 Aarhus N

Email: lec(at)km.dk

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