Matthäus 6,5-13

Matthäus 6,5-13

Neujahrstag | 01.01.24 | Mt 6,5-13 (dänische Perikopenordnung) | Rasmus H.C. Dreyer |

Vergebung – die einzige christliche Tugend

Ein frohes Neues Jahr! Und war es nicht an der Zeit mit einem neuen Jahr? Wieder und noch einmal ein annus horribilis. Wir dachten, wir hätten die schweren Jahre hinter uns nach Corona. Aber dann kamen die Kriege zurück, die Inflation, und nun schließlich ein Krieg in Palästina und Israel – ein Krieg, der ernste Folgen auch für uns hier hat. Deshalb ist es an einem Neujahrstag angebracht, auf bessere Zeiten zu hoffen.

Heute haben wir gehört, dass Jesus uns erzählt, dass wir keine Heuchler sein und nicht im öffentlichen Raum beten sollen. Jesus kritisiert sowohl Juden als auch Heiden für diese religiöse Show. Seht, wie fromm ich bin! Es ist Heuchelei, mit seinem Glauben zu prahlen, erklärt Jesus. Der Glaube und das Gebet sind nicht etwas Äußeres, womit du dich vor anderen präsentieren sollst. Das Neue Testament ist deshalb zuweilen kritisch gegenüber äußerenFormen von Religion, mit denen seine Autoren das Judentum verbanden. Eigentlich etwas merkwürdig, Jesus war ja Jude. Und wenn wir daran denken, dass der andere Predigttext zu Neujahr nach der altkirchlichen Perikopenordnung die Beschneidung Jesu ist, also dass er als Jude am achten Tag beschnitten wurde, so macht das kaum einen Sinn. Alle jüdischen Jungen werden beschnitten, so wie auch die meisten muslimischen Jungen. Maria und Josef ließen Jesus durch die Beschneidung teilhaben an den tiefst en Sehnsüchten ihres Volkes im Laufe der Zeiten, nämlich die Sehnsucht, zum Volk Gottes zu gehören.

Hier in Dänemark sind die meisten Leute Christen – in unterschiedlicher Weise. Einige sind Kulturchristen, andere sind in ihrer Tradition und Moral Christen, ohne es zu wissen. Aber offen gesagt, so beten wir Dänen zu einer Gottheit, den Sohn Gottes, der Jude war und beschnitten. Ich habe Verständnis dafür, dass viele Dänen dennoch kein Verständnis dafür haben, dass Juden ihre Jungen beschneiden lassen. Aber diese religiöse Handlung ist durch Jesus auch ein Teil unserer eigenen Religion. Wie der amerikanische Schriftsteller Ernest Hemingway an einer Stelle gesagt hat: „Du kannst alles in einer Erzählung auslassen, nur muss die klar sein, dass es dennoch mit dazukommt“ – mit anderen Worten: Wir können noch so sehr verbergen, dass Jesus Jude war und beschnitten, aber wenn wir sein Judentum verachten, verachten wir ihn und damit Gott selbst. Das Jüdische gehört zu der Erzählung über alle uns, die den Gott anbeten, von dem Juden, Christen und Muslime in jeweils ihrer Weise erzählen.

Deshalb müssen wir natürlich jede Form von antijüdischem Denken und jede Tradition ablehnen, die wir im Neuen Testament finden. Wir können die Bibel nicht dazu verwenden, andere herunterzumachen oder sie unmenschlich zu machen, bloß weil sie eine andere Religion haben. Aber wenn wir uns bewusst sind, dass es in unseren heiligen Schriften historischen antijüdischen Stoff gibt, dann können wir sehr wohl die Kritik Jesu an öffentlicher Zurschaustellung von Meinungen, Tugenden und religiösen Einstellungen auf die Gegenwart beziehen. Du darfst deinen Glauben haben, natürlich. Die Glocken läuten das ganze Jahr über zu christlichen Festen. Das Christentum ist auch Teil der Geschichte und des Alltags in Dänemark.  „Gott bewahre Dänemark“, ist der Leitspruch unserer Königin. Aber ich möchte nicht, dass mir religiöse oder moralische Überzeugungen aufgedrängt werden, rein menschlich. Ja, es gibt sogar ein besonderes Wort dafür: Tugendapostel.

Und Tugendapostel gibt es überall in einer Zeit mit sozialen Medien. Wie viele andere Modeworte stammt der Ausdruck aus dem Englischen, value signalling. Die Übersetzung Tugend-Signalisierung beschreibt treffend, worum es sich hier handelt: Man zeigt seine Tugenden vor, um seine eigene Tugend zu beweisen, dass man „besser ist als andere“. Die bildlichen und kurzgefassten Formate in den sozialen Medien regen leicht an zu rascher Signalisierung von sich selbst und seinen besseren Tugenden und Meinungen auf Kosten derer, die etwas anderes meinen.

In Wirklichkeit stammt der Begriff der Tugend-Signalisierung aus der Welt der Theologie. Der amerikanisch-libanesische Schriftsteller Nassim Nicholas Taleb hat auf den heutigen Predigttext verwiesen, oder genauer auf die Zeilen kurz zuvor, wo Jesus davor warnt, seine Gerechtigkeit vor den Augen der Menschen zu zeigen – nur um von anderen gesehen zu werden. „Sie haben ihren Lohn schon gehabt“, sagt Jesus.

Eines ist nämlich, dass man den richtigen tugendmäßigen Zugang und die rechte Meinung hat und sie öffentlich zeigt, etwas anderes ist es, wenn sie auf die Wirklichkeit treffen. Das ist auch ein kirchliches Problem. Es ist leicht, moralisch zu sein und sich auf Christus zu berufen – was aber wenn einem die Wirklichkeit begegnet, also wenn wir Menschen Fehler machen und sündigen? Sollen wir dann auf unseren moralisch korrekten, tugendhaften Haltungen bestehen und den reuigen Sünder zurückweisen? Oder ist die Botschaft Jesu nicht gerade: Richte nicht, dann wirst du selbst nicht gerichtet? Lebt die Vergebung nicht am besten im Verborgenen und persönlich zwischen den Menschen als einzige Regel und Norm für christliche Lebensführung? „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“, sagt Jesus im Vaterunser. Mit Vergebung kann man nicht prahlen, auch nicht mit Sünde und Fehlern. Die Wirklichkeit ist viel schwerer als die bequemen moralischen Statements in der Öffentlichkeit.

Eines der trostreichsten Bücher, auf das ich oft zurückkomme, und auch – gemessen am Maßstab der Wirklichkeit – das ist das Tagebuch von Anne Frank. Das jüdische Mädchen, das dies berühmte Tagebuch über die Zeit in einem Versteck in Amsterdam schrieb. Die Geschichte endete bekanntlich unglücklich, weil die Familie verraten wurde, und Anne Frank wurde im KZ ermordet. Das Tagebuch zeugt aber von einem Mädchen mit Sehnsüchten, Träumen und einer enormen Fähigkeit, trotz aller Widrigkeiten auszuhalten. Die Umwelt signalisierte damals ihre Tugenden in Form von Judenhass und Verfolgungen. Hier erinnert uns das Tagebuch daran, dass jede aktuelle Meinung, jede aktuelle Verfolgung und jedes aktuelle menschliche Leid – ganz gleich auf welcher Seite eines Krieges oder Konflikts – eine Kehrseite haben, dass echte Menschen unter den Idealen anderer Menschen leiden.

Und Annes Leben würden wir nicht kennen, wenn sie ihre Gedanken nicht niedergeschrieben hätte. Deshalb können wir Menschen auf der anderen Seite der Verfolgung begegnen. Zu einem Zeitpunkt hat sich Anne in Peter verliebt, der zu einer anderen jüdischen Familie gehört, die in der Wohnung lebt. Der größte Teil der Aufzeichnungen des Tagebuchs ist der fiktiven Empfängerin Kitty gewidmet – aber in ihrer Verliebtheit in Peter und ihrer Sehnsucht nach ihm schreibt sie an ihn. Und hier blicken wir in das Innerste von Anne.

Anne schreibt:

„Einige Gedanken an Peter. Vieles müssen wir her entbehren, wirklich viel und sehr lange Zeit, und ich vermisse das alles, so wie du. Nun musst du nicht glauben, dass ich von äußeren Dingen rede, damit sind wir hier gut versorgt. Nein, ich denke an andere Dinge. Genau wie du sehne ich mich nach Freiheit und Luft, aber ich glaube, dass wir reichlich Ersatz bekommen für alle unsere Entbehrungen. Ich meine: Ersatz von innen“.

Anne erzählt nun weiter, wie sie sich eines Morgens ans Fenster gesetzt hat, die Gardinen weggezogen und hinausblickte, und dann

„fühlte ich mich eigentlich von Angesicht mit der Natur, und da war ich glücklich, denn – fährt Anne fort – „Reichtum, Ansehen, alles kann man verlieren, aber das Glück in seinem eigenen Herz kann nur vorübergehend verschleiert werden“.

Anne hat Recht. Das Herz ist unverletzlich.  Und darin bestätigt uns Gott – deshalb wenden wir uns auch mit unseren Gebeten an Gott „im Himmel“, wie wir das am Beginn des Vaterunsers tun. Anne, die ja keine Christin war, aber doch an denselben Gott glaubte, sagt etwa dasselbe: Siehe hinaus und nach oben – nicht nur auf die Häuser und die Dächer, „sondern auf den Himmel“. Denn von dort wirst du Ersatz bekommen für alle Entbehrungen und jedes Leiden, erzählt sie, das kann den Mut bewahren, den Glauben, die Hoffnung und die Liebe bewahren trotz aller äußeren Entbehrungen und allem Unglück. Die Erde kann vergehen in Leiden, aber der Himmel ist immer über uns. „Vater unser, der du bist im Himmel!“ Mit andren Worten ist die leidende Erde immer umfangen von Gott, einem Gott, von dem wir glauben, dass er ganz an unserem Leiden teilhat.

Das war damals in Bethlehem zur Weihnacht. Möge dieses neue Jahr uns daran erinnern, dass es hiernach immer Weihnachten in der Welt ist. Weil Gott mit uns leiden und leben will. Ein frohes neues Jahr. Amen.

Adjunkt (Assistenzprofessor), Københavns Universitet

Ph.d. Rasmus H.C. Dreyer

Slagelse, Danmark

Email: rhd(at)teol.ku.dk

de_DEDeutsch