Matthäus 6,5-13

Matthäus 6,5-13

Neujahrstag | Matthäus 6,5-13 (dänische Perikopenordnung) | Von Anders Kjærsig |

Ein göttliches Inferno

Bis zu meinem 15. Jahr wurde Neujahr zu Hause gefeiert. Das war in den 60er Jahren, und zu diesem Zeitpunkt war der Hof der Großmutter in einer der Hochburgen der Erweckungsbewegung in Kibæk in Westjütland. Der Hof wurde von zwei unverheirateten Söhnen bewirtschaftet mit der Großmutter an der Spitze. Da waren Schweine, Hühner, Kühe, Kälber, Tauben und Lämmer. Da war auch ein Pferd, es hieß Ezechiel, benannt nach dem alttestamentlichen Propheten Hesekiel, der von Gott berufen war, um für das Volk zu verkündigen. Einer Berufung kam Ezechiel am nächsten, wenn er fraß. Er fraß wie ein Nilpferd, und wir Kinder liebten es, ihn zu füttern. Der Hof bestand aus vier Gebäuden mit einem großen gepflasterten Hof. In der Mitte des Hofes befand sich ein Brunnen. Hier stand Ezechiel und trank Wasser. Aber nicht an dem Abend. Zu Neujahr packte Großmutter alle Tiere buchstäblich ein in Stroh, damit sie unversehrt ins neue Jahr kamen. Sie sollten auch merken, dass man sich ihrer annahm wie aller der anderen.

Wir kamen um halb sechs an. Alle Vettern und Kusinen waren da, etwa 25 außer den Erwachsenen. Nun sollte gefeiert werden. Wir Kinder waren voll dabei. Wir tauschten Neujahrsfeuerwerk, machten Pläne, wie wir die Erwachsenen erschrecken konnten, banden kleine Knallkörper an die Dochte der Kerzen, die dann explodieren würden, wenn die Kerzen angezündet wurden.

Später am Abend wollten wir hinüber zu den Nachbarn gehen und dessen Schubkarre an der Fahnenstange aufhängen. Das machten wir jedes Jahr. Der Bauer Jensen hatte deshalb Vorsorge getroffen und die Schubkarre vor uns versteckt. Indem er uns so indirekt aufforderte, kam er unserem Drang zu frechen Streichen entgegen und verhinderte dadurch, dass wir auf schlimmere Ideen kamen. Jensen war ein guter Pädagoge: Alles ist erlaubt, aber nicht alles ist ratsam.

Das Essen bestand aus Suppe mit Fleisch und Mehlklößen, die Klara, seit 45 Jahren Hausmädchen für Großmutter, nach allen Regeln der Kunst zubereitet hatte. Klara wog hundert Kilo und war nicht sehr groß. Wenn sie an dem großen Topf stand mit einer blauen Schürze mit aufgekrempelten Ärmeln und Schuppen in den grauen Haaren, erinnerte sie mich an Madam Mim, die alte Hexe, die Suppe aus Fledermausflügeln und Eulenspucke kocht. Für mich war Klara eine Mischung aus Phantasie und Wirklichkeit. Ihre Suppe schmeckte hervorragend, aber was den Geschmack ausmachte, das weiß ich zum Glück nicht. Die Suppe wurde mit Zitronenwasser heruntergespült, denn Wein oder Bier durfte man nicht trinken.

Alkohol, Spiel und Tanz gab es auf dem Hof von Großmutter nicht. Enthaltsamkeit war eine Tugend, und den schmalen Weg der Tugend durfte man nicht verlassen. Tat man das dennoch, wurde man nicht kritisiert, Großmutter fing nur an zu weinen und für einen zu beten. Wer konnte das ertragen? Dann doch lieber auf dem Pfad der Tugend bleiben.

In der Stube war nicht Platz für alle, die Tische waren deshalb der Reihe nach aufgestellt und zogen sich wie in einem Labyrinth durch alle anliegenden Zimmer. Man trank Brause, während man die Suppe in sich schlürfte, so dass die Backen und die Mundwinkel vor Fettperlen und Resten von Mehlklößen leuchteten. Trotz der Enthaltsamkeit war die Stimmung gut, Man kam kaum zu Worte. Alle reifen durcheinander. Manchmal konnte man aus den anliegenden Zimmern hören, wie zwei miteinander aus zwei Räumen diskutierten, die Gespräche gingen quer durch alle Zimmer. Es konnte sein, dass einer der Lautesten eine Serpentine in den Hals bekam. Aber das machte nichts, sie fiel in die Suppe, währen die Worte weiter munter aus dem Mund strömten. Man musste auch aufpassen, dass man nicht von einer Tischbombe getroffen wurde. Die Luft war voll von Konfetti. Überhaupt war das Essen ein großes lärmendes Chaos. Nicht einmal das englische Parlament könnte da mithalten. Hätten die Behörden den Geräuschpegel gemessen, sie hätten das Fest aufgelöst und beendet.

Schon um acht Uhr am Abend war der Hof hell erleuchtet von Neujahrsfeuerwerk, bis hin zu Mitternacht gebadet in Licht. Es erinnerte an die Szene aus der Offenbarung des Johannes, wo das neue Jerusalem aus dem Himmel herabkommt, in Rauch und Dampf. Alle waren ganz aufgedreht.

An einer Ecke stand Peter. Er hatte Raketen zusammengebunden, so dass sie in je ihre Richtung flogen. Die in der Nähe standen, warfen sich auf die Erde, um nicht getroffen zu werden. In der anderen Ecke stand Thomas. Er hatte einen der großen Bomben der Erwachsenen genommen und sie im Auspuff von Großmutters Moped angebracht – mit dem Ergebnis, dass der Auspuff einer gesprengten Trompete glich. Großmutter lachte laut und meinte, dass der Auspuff sich in eine Posaune verwandelt hätte, und nun könne sie ja Gott beim Fahren preisen. Im Vergleich zu der Moral, die mit Spiel, Trinken und Tanz verbunden war, war dies eine Unmoral, die mit dem Neujahrsfeuerwerk zusammenhing. Hier waren keine Grenzen. Das galt auch für gesetzwidrige Mopeds und Autos.

Zu Mitternacht versammelten sich alle mitten auf dem Platz um den Brunnen. Man konnte vor lauter Rauch kaum Luft kriegen. Hier bekamen alle Erwachsenen ein kleines Glas Portwein. Die einzige Flasche, die im Hause war und nur an diesem Abend hervorgeholt wurde, war oben auf dem Dachboden versteckt, nur Großmutter wusste wo. Feierlich prostete man sich zu. Großmutter las aus der Bibel. Dann beteten wir alle das Vaterunser.

Das war spannend und unterhaltsam, vor allem weil das Vaterunser von Großmutter doppelt so lang war wie das, was wir anderen kannten. Kurz vor dem Amen begann Großmutter nämlich all die zu erwähnen, die Gott „beschirmen“ solle. Und das waren viele. Die ganze Familie, die Nachbarn, die Innere Mission, der Vorstand der Kartoffelzüchtervereins – alle namentlich genannt. Großmutter sagte u.a.:

„Lieber Gott, beschirm Onkel Hans und Tante Dagny, Onkel Sigurd und Tante Inga und Aase – und Ezechiel, das Pferd also, und die Ente Didrik und alle Küken – gib ihnen heute ihr tägliches Brot.“ Und sie fuhr fort: „Thomas, Peter, Lorenz und Jens – lasst euch nicht in Versuchung führen“ – mit einer besonderen Ermahnung an Jens, den frechen Kerl.  Und schließlich: Jytte und Klara und Gerda, bewahre sie vor dem Bösen – außer Jytte vielleicht“.

Zum Schluss sangen wir „Sei willkommen Jahr des Herrn“[1] Danach tanzten wir alle in einer langen Kette Hand in Hand um den Brunnen, drinnen im Haus um den Weihnachtsbaum, der in einer der Stuben stand, und dann hinaus durch die andere Tür zum Hof und dem Brunnen. Eine lange Kette von Kindern und Erwachsenen, jubelnd und froh. Als der Tanz beendet war, wünschten wir einander ein richtig gutes Neues Jahr. Wir Kinder wurden ins Auto gepackt, uns es ging nach Hause.

Nach meinem 15. Lebensjahr habe ich nie mehr Neujahr auf diesem Hoff gefeiert. Spiel, Trinken und Tanz hatten so langsam meine Neugier geweckt. Maine Eltern haben mích gelehrt, das alles in Maßen zu genießen, aber sie wollten nicht, dass ich mit Feuerwerk experimentierte oder ein ungesetzliches Moped fuhr. Meine Kindheit war offenbar vorbei. Neujahr war nicht mehr dasselbe. Später trank man viel Wein an diesem Abend, aber der Enthusiasmus wurde dadurch nicht gesteigert. Wir versuchtes es mit Champagner, aber das half nicht. Der Hof von Großmutter existiert nicht mehr. Großmutter ist vor vielen Jahren gestorben. Wie werden wohl meine eigenen Kinder ihren Neujahrsabend erleben, wenn sie einmal davon erzählen. Sollen sie ein Pferd haben, das Ezechiel heißt?

Amen.

Pastor Anders Kjærsig

5881 Skårup Fyn

Email: ankj(at)km.dk

[1] Dänisches Neujahrslied von Grundtvig, Dänisches Gesangbuch Nr.712.

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