Nachbar Judas

Nachbar Judas

Predigt über Johannes 13,21-30 | verfasst von Bernd Giehl | 

Liebe Gemeinde!

Jetzt müssen Sie ganz tapfer sein. So wie Hänsel und Gretel, als sie zum Haus der Hexe kamen. Ich möchte Ihnen von einer Reise durch die Hölle erzählen. Keine Sorge. Ich habe sie nicht allein unternommen. Ich hatte einen Begleiter, einen älteren Herrn, aber ausgesprochen fit. Er habe die Tour schon ein paar Mal gemacht, bemerkte er gleich zu Anfang. Ich müsse mich nicht fürchten.

Sie brauchen es auch nicht. Ich bin ja bei Ihnen. Sie müssen auch nicht mit hinunter, wenn Sie nicht mutig genug sind.  Die Hölle ist mittlerweile auch digitalisiert. Sie können meinen Kommentar per Livestream empfangen.

Ich befinde mich jetzt im fünften Kreis. Ich hoffe, Sie können mich hören und sehen. Die ersten vier sind uninteressant. Da sitzen Leute wie Sie und ich: Bankbetrüger, Mörder, Leute, die ihre Frau mit den kleinen Kindern haben sitzenlassen, weil sie jemanden gefunden haben, von dem sie glaubten, er oder sie passe besser zu ihnen. Im fünften Kreis sitzen die wirklich schlimmen Leute: die Planer des 11. September, Ho Chi Minh, Donald Trump. Im sechsten Kreis sind es drei. Mao, Stalin, Adolf Hitler.

Im letzten Kreis sind wir mit dem Teufel allein. Er ist unbeschreiblich.

Halt. Er sitzt auf … nein, das kann nicht sein. Er sitzt auf einem menschlichen Hocker. Er sagt nur ein Wort: JUDAS!

Und jetzt wissen Sie auch, wer mein Begleiter ist. Bisher hat er sich versteckt gehalten. Die Kamera war ihm suspekt; deshalb haben Sie ihn nicht gesehen. Falsch geraten: es ist nicht Vergil oder die unsterbliche Beatrice. Es ist der Dichterfürst selbst. Dante Alighieri aus Florenz.

Kommen Sie, Signore Dante, die Kamera wird sie nicht atomisieren, falls Sie wissen, was das ist. Eine kleine Verbeugung für unser Publikum.

Dante hat sein großes Werk „Die göttliche Komödie“ Anfang des 14. Jahrhunderts verfasst. Das „Inferno“ ist nur der erste Teil des dreiteiligen Werks, gefolgt vom „Purgatorio“ und „Paradiso“. Ich habe den letzten Kreis insofern etwas verfremdet, als der Teufel bei Dante vier Mäuler hat und in jedem steckt ein Verräter. Im schrecklichsten zermalmt er Judas zwischen seinen Zähnen. Dante war eben ein frommer Christ und Verräter waren für ihn die schlimmsten Bösewichte.

Aber lassen Sie uns für einen Moment innehalten. Wir müssen erst einmal zu einer Definition des Begriffs „Verrat“ kommen, bevor wir Stellung nehmen. Wenn wir der Darstellung der Evangelien folgen, dann bestünde der Verrat darin, dass Judas zu den Feinden Jesu geht und ihnen mitteilt, wo Jesus sich demnächst aufhält. Das ist sicher schlimm genug, aber es hat auch mit dem kindlichen „Verpetzen“ zu tun. Auch Verpetzen ist nicht schön und kann unangenehme Folgen haben, aber muss man dafür gleich ins Maul des Teufels? Das Johannesevangelium scheint immerhin eine Ahnung davon zu haben, dass da mehr sein muss. In dem Moment, als Judas den Bissen nimmt, fährt der Teufel in ihn, sagt das Evangelium.

Es ist wohl nicht nur das Verpetzen. Eher schon die Abwendung von dem, den man einmal geliebt hat. Für den man durch ’s Feuer gegangen wäre. Aber auch nicht nur die Abwendung allein. Noch mehr das Versteck Spiel, das so tut als wäre man immer noch mit Feuereifer bei der Sache. Das Überlaufen zu den Feinden ist nur der letzte Schritt.

Ich habe es in meinem Leben zwei Mal erlebt, dass Menschen, die ich für meine Freude hielt, auf die andere Seite überliefen und mir den Dolch in den Rücken stießen. Es tut unbeschreiblich weh. Aber die Hölle wünsche ich ihnen nicht.

Ob uns das Judas näherbringt? Zumindest macht es ihn menschlicher. Er ist nicht mehr allein mit dem Teufel. Es gibt andere, die ihm gleichen. Gemeinsam ist ihnen wohl die Enttäuschung. Johannes benennt den möglichen Grund quasi in einem Nebensatz. Er spricht vom „Lieblingsjünger“, der beim Mahl an Jesu Brust ruht und die intimsten Fragen stellen darf.

Möglich, dass ich mich irre und das Eine nichts mit dem Anderen zu tun hat. Dass Judas über etwas ganz Anderes enttäuscht ist. Aber möglich eben auch, dass er eifersüchtig ist. Zumindest macht Johannes das durch die Zusammenstellung von Judas und Lieblingsjünger wahrscheinlich.  „Was hat er, das ich nicht habe?“

Gute Frage. Warum hat Jesus bei Johannes überhaupt einen Lieblingsjünger?

Möglich, dass dieses Feuer schon lang in Judas schwelt. Und jetzt brennt es lichterloh. „Wenn er mich verschmäht, soll er auch keinen anderen haben. Nie mehr.“

So könnte der Teufel aussehen, der in Judas fährt.

Unheimlich? Aber gewiss doch. Dieser Judas ist uns schon viel zu nah gekommen. Der ist gar nicht so fremd, wie es anfangs schien. Der sieht aus wie Sie und ich. Der fühlt das gleiche. Den kennen wir viel zu gut. Aber wollen wir das?

Das wollen wir auf keinen Fall. Das tut zu weh.

Also rücken wir ihn lieber noch einmal in die Ferne. Judas, das ist der Mann, der die jüdische Familie im Nachbarhaus denunzierte. Er hatte herausgefunden, dass der Nachbar ihnen Asyl gewährt hatte. Er ging zum Ortsgruppenleiter der NSDAP und danach wurde er befördert. Die Familie wurde nach Auschwitz deportiert.  Judas, das ist die junge Frau, die die Stasi aufsuchte und die Fluchtpläne ihres Freundes verriet. Sie war Mitglied der SED und sah die Denunziation als ihre Pflicht an. Der Freund kam für Jahre nach Hohenschönhausen.

Und wir? So etwas würden wir nie tun. Wie gut, dass wir nicht Judas sind.

Sollen wir es dabei belassen? Dann wäre der Gottesdienst ausnahmsweise früh zu Ende. Die Konfirmanden und Konfirmandinnen würde das sicher freuen. Problem erkannt, Problem gelöst. Aber dann würden wir dem Text Unrecht tun. Sicher: den nächsten Vers des Kapitels habe ich nicht vorgelesen. Das ist von der Ordnung nicht vorgesehen. Aber jetzt lese ich ihn vor. „Als Judas nun hinausgegangen war, spricht Jesus: ‚Jetzt ist der Menschensohn verherrlicht und Gott ist verherrlicht in ihm.‘ “

Aha. Völlig klar. Judas geht los, Jesus ermutigt ihn noch dazu, und am Ende dient das alles der Verherrlichung Jesu und der Verherrlichung Gottes. Noch Fragen?

Man kann es auch anders formulieren. In diesem Moment beginnt die Passion Jesu. Jesus geht seinem Leiden und Sterben entgegen. Eigentlich ist das nichts, was verklärt werden kann. Die Kreuzigung, die Jesus erleiden wird, ist schrecklich. Daran gibt es nichts zu deuteln.

Aber das ist eben nur der eine Aspekt. Für Johannes und die anderen Evangelisten ist es sogar der unwichtigere Gesichtspunkt. Der wirklich wichtige Aspekt ist der: Jesu Leiden, Kreuz und Auferstehen ist von Gott in seinem Plan zum Heil so vorgesehen. Gott will, dass Jesus leidet und stirbt. Nicht, weil er ein Sadist ist, sondern weil er die Menschen untereinander und mit sich versöhnen will. Weil er ihnen einen anderen Weg als den des Lebens auf Kosten von anderen Menschen oder der Natur zeigen will.

Und damit dieser Plan gelingt, braucht Gott Judas. Den Verräter.

Verstehen wir das? Nicht unbedingt. Also lassen Sie uns noch einmal einen Schritt zurücktreten. Die Menschen sind böse von Jugend an, heißt es schon am Ende der Sintflut. Dieses Urteil wird nicht weiter begründet, aber Gott hält an ihm fest und doch nutzen alle Strafen nichts, die er erst über die Menschheit und später über sein auserwähltes Volk verhängt. Die Menschen ändern sich nicht. Allenfalls werden sie trotzig.

Die Philosophen der Aufklärung haben mit diesem Urteil gehadert und es bis auf wenige Ausnahmen für falsch erklärt. Im Kern seien die Menschen gut, erklärten Lessing, Schiller, Kant und andere im 18. Jahrhundert; man müsse ihnen nur die Freiheit geben. 1789 kam die Französische Revolution, 1793 die Ermordung der Königsfamilie und dann der Terror von Robespierre und anderen. Und im 20. Jahrhundert kamen die Weltkriege und die Ermordung der europäischen Juden. Es kamen Stalin und Maos Kulturrevolution. „Judas“ hatte einen großen Lauf.

Ist Gott also mit seinem Plan gescheitert? Zumindest sieht es so aus. Die Menschen sind nicht besser geworden. Eher scheint das Gegenteil der Fall. Sie haben die Atombombe entwickelt. Sie können unseren Planeten hundert Mal in die Luft sprengen. Bisher haben sie’s noch nicht getan, aber wer sagt uns, dass sie’s nicht noch tun werden? Und sei es nur durch Zufall. Dann müsste Gott sich wohl ein neues Volk im Universum suchen.

Ist Gott gescheitert? Man kann es so sehen. Aber womöglich ist das kurzsichtig. Sicher: menschlich gesehen ist das so. Nicht nur die Strafaktionen Gottes haben nichts genützt und nicht nur die Propheten, die Israel den Untergang angedroht haben, sollten sie nicht endlich aufhören, die fremden Götter zu verehren, sind gescheitert. Auch Jesus mit seiner liebevollen Zuwendung zu den Menschen und seinem Verzicht auf Rache scheint keinen Erfolg gehabt zu haben. Seine Zeitgenossen, allen voran die römische Besatzungsmacht schlugen ihn ans Kreuz. Die Römer scheinen ihn für einen besonders perfiden Volksaufwiegler gehalten zu haben. Menschlich gesehen war das ein Scheitern. Daran ist nichts zu deuteln. Aber es gibt eben nicht nur die menschliche, es gibt auch die göttliche Sicht. Die natürlich wiederum von Menschen vermittelt wird. Und die besagt: Jesus ist nicht im Tode geblieben. Der schwere Stein vor seinem Grab wurde wegewälzt. Jesus ist auferstanden und sitzt zur Rechten Gottes. Oder in der Sprache des Johannesevangeliums: Gott hat Jesus verherrlicht, indem er sich zu ihm bekannte.

Seitdem ist die Botschaft von der Versöhnung Gottes mit den Menschen unterwegs. Sie besagt, dass das Heil der Menschen einzig bei Gott liegt. Die Menschen suche Frieden, sie suchen Versöhnung, aber sie suchen oft an den falschen Stellen. Sie brauchen eine Kraft, die ihnen von außen her zukommt. „Von oben her“ würde der Evangelist sagen. Ihre eigene Kraft reicht nicht aus, um den Teufel, der in ihnen wie auch außerhalb von ihnen ist, zu besiegen. Warum es ihn gibt, die Frage wird wohl niemand beantworten können. Aber dass es ihn in irgendeiner Form gibt, das steht wohl außer Frage. Und darum brauchen wir auch Gottes Zuwendung. Wir brauchen es, dass Gott selbst das Böse in Gutes verwandelt.

Damals hat er das getan. Aus Judas‘ Verrat entstand das Heil.

Pfr. Bernd Giehl * Albert-Einstein-Str.9 * 64569 Nauheim

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