Der dem Tragiker Euripides zugeschriebene Rhesos, der mittlerweile als frühhellenistische Tragödie gelesen werden kann, erzählt von den Geschehnissen der sogenannten Dolonie, des 10. Buches der homerischen Ilias, aber im Gegensatz zu dieser nicht aus der griechischen, sondern aus der trojanischen Perspektive. Durch die Art und Weise, wie der Rhesos-Dichter seinen Text gestaltet, wird deutlich, dass er sich von Beginn an mit der literarischen Tradition – vor allem mit Homer und der Gattung der Tragödie – auseinandersetzt und dabei seine Innovationen thematisiert, so dass die Poiesis, das «Gemachtsein», der Tragödie Rhesos auf der Metaebene des Textes zum zentralen Thema wird.
Eine, wenn nicht die Innovation des Rhesos-Dichters stellt der Auftritt einer Muse dar, einer durch die literarische Tradition poetologisch aufgeladenen Figur. Die Rede der Muse, der Trägerin einer textinhärenten Poetik, erweist sich als durchsetzt mit meta- und autopoetischen Reflexionsmomenten, die für das Verständnis der ganzen Tragödie von Bedeutung sind. Im Zentrum dieser Studie steht somit die «neue Muse» nicht nur als eine handelnde Figur im Text, sondern vor allem auch im Sinne des innovativen Schaffens des Rhesos-Dichters.