Predigt zu Lukas 10,23-37

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Predigt zu Lukas 10,23-37

Imitatio Christi – das Leben des Christen | 29.8.21 | 13. Sonntag nach Trinitatis | Lukas 10,23-37 (dänische Perikopenordnung) | verfasst von Rasmus Nøjgaard |

 

Die wohlbekannten Erzählungen und Gleichnisse rufen gerne eine automatische Reaktion hervor, dass wir schon wissen, was wir von ihnen halten sollen, ehe wir sie zu Ende gehört haben. Das gilt nicht zuletzt für das Gleichnis vom barmherzigen Samariter. Schnell sind wir uns darüber einig, den Priester und den Leviten zu kritisieren, die es besser wissen müssten. Oder die mehr raffinierte Reaktion, dass man weder dem Priester oder dem Leviten einen Vorwurf machen könne, denn ihre religiösen Normen verboten es ihnen, den blutenden Mann am Straßengraben anzurühren, nein, glücklich ist der, der nicht an den toten Buchstaben des Gesetzes gebunden ist, sondern frei ist für spontanes Handeln. Da gibt es auch den Jubel darüber, dass da ein Fremder und uns ganz unbekannter Mensch der Held der Erzählung ist. All die uns wohlbekannten Leute, mit denen wir rechnen, sehen nicht hin, denn wir wissen nie, woher unsere Rettung kommt und wer unser Nächster ist. Nicht Status, sondern die Einstellung ist entscheidend. Im Gegensatz zu einer Auslegung, die sie wohl fast als sozialistisch bezeichnen würde, steht die bombastische Auslegung von Margaret Thatcher. Auf einer großen internationalen Konferenz über die Ökonomie der dritten Welt verwandte sie dieses Gleichnis als Argument dafür, dass man die Zustände erhalten solle mit einer gesunden kapitalistischen Politik. Denn wenn der Samariter nicht genügend Reserven gehabt hätte, um für den Notleidenden zu bezahlen, wäre der Arme ja verloren gewesen. So kann auch der barmherzige Samariter Anstoß erregen. Andere Auslegungen, und die können genauso zahlreich und durchschaubar sein, gehen einen ganz anderen Weg und lesen das Gleichnis christologisch. Denn der fremde Samariter wird barmherzig genannt und gleicht darin dem Herrn selbst. Jesus verkleidet sich selbst als der Fremde, der zur großen Überraschung den Verlorenen rettet. Während andere als einen Trumpf die Werte umkehren und den Knecht zum König machen, so dass der Verwundete nun mit Christus am Kreuz verglichen wird, oder richtiger, wir sollten in dem Notleidenden stets den leidenden Christus sehen – auch wenn diese Auslegung im Eifer des Gefechts wohl vergisst, dass Christus der Erlöser ist und nicht die Menschen.

Ich sage nicht, dass auch nur eine dieser Auslegungen falsch ist, aber umgekehrt sage ich auch nicht, dass eine von diesen Auslegungen erschöpfend ist. Meine wichtigste Pointe ist, dass wir vorsichtig sein sollen, wenn jemand versucht, ein Gleichnis eins zu eins auszulegen – dann folgt man wohl seiner eignen Tagesordnung. Wie sehen also ab von der Funktion des Gleichnisses selbst, dass die ganze Erzählung als ganze gesehen die Aufgabe hat, etwas Schwieriges zu beschreiben, das sich eben nicht eins zu eins übersetzen lässt, denn dann hätte Jesus das ja natürlich getan. Das Überraschende ist jedoch, dass er kein Moralist ist – und dennoch Nachfolge verlangt. Hier geht es um das ewige Leben und die Frage, wer mein Nächster ist. Mit anderen Worten, wir erfahren nicht, was das ewige Leben ist oder wer der Nächste ist, aber wir nähern uns dennoch einem Verständnis davon, wie jeder von uns in der Situation erfahren kann, wer unser Nächster ist und wie wir ewiges Leben erlangen. Wir können das nur im Voraus nicht ausrechnen für uns alle und ein für alle Mal. Wir müssen den Weg selbst gehen, oder wie Jesus sagt: „Geh hin und tu desgleichen!“

Wenn du meinst, nicht klüger geworden zu sein, dann hast du vermutlich mehr verstanden als wenn du ein Aha-Erlebnis gehabt hättest. Und wenn du meinst, dass du das ganze viel klarer verstanden hast, dann ist es auch mir wie allen meinen Vorgängern gelungen, das Schwierige einfach zu machen. Augustin hat einmal gesagt, wir sollen hoch vom Tiefen und tief vom Hohen reden. Und das tut Jesus in der Tat.  Ja manchmal so klar, dass es allzu leicht ist, mit ihm fertig zu werden. Die Schwierigkeit besteht nicht darin, das Einfache schwierig zu machen, sondern umgekehrt darin zu vermeiden, dass man das Schwierige zu einfach macht. Jesus bringt mit rhetorischer Eleganz den Schriftgelehrten zu der Feststellung, dass der rechte Wandel gegenüber dem Nächsten Barmherzigkeit ist. Die einzige Weise, dem Gebot Jesu zu folgen, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst, ist mit anderen Worten das Tun der Werke der Barmherzigkeit. In welchem Umfang und gegenüber wem, darauf muss sich der einzelne aus guten Gründen selbst besinnen. Ganz wie der Schriftgelehrte. Trotz seiner Klugheit musste ihm der Weg zum ewigen Leben gewiesen werden in der einfachsten aller Handlungen, der Barmherzigkeit.

Die Geschichte vom barmherzigen Samariter ist durch die Frage des Schriftgelehrten veranlasst, wie man ewiges Leben erlangt. Aber wir erhalten keine Antwort, denn Jesus wendet die Frage so, dass sie von Nächstenliebe handelt, und er beantwortet diese Frage mit einem Gleichnis, also nicht mit einer direkten Antwort, sondern in der Form einer Erzählung, die Selbstbesinnung bewirken soll. Die Lehre vom ewigen Leben, die Dogmatik, wird uns nicht erklärt. Eher ganz im Gegenteil. So ist es immer, wenn Jesus vom ewigen Leben, von der Herrlichkeit und der Verdammnis spricht. Deshalb haben wir uns in der evangelischen Theologie der letzten beiden Jahrhunderte von dem altkirchlichen und mittelalterlichen rechtlichen und wissenschaftlichen Eifer verabschiedet, ein Weltbild zu definieren, das sich zwischen Heil und Verdammnis bewegt. Buchstäblich und ganz konkret verstanden ist es evangelisch unhaltbar und damit unglaubwürdig, davon zu reden, dass der Mensch entweder erlöst oder verdammt wird. Jede Rede von einem sogenannten doppelten Ausgang oder die ganz parallele Vorstellung von der Allversöhnung ist absurd. Das sind historische Gespenster, mit denen sich nur eifrige Ritter der Gerechtigkeit beschäftigen. Biblisch verstanden dient das nicht dem Ziel des Evangeliums, auch nicht dem Evangelium dieses Sonntags. Nun wissen wir vielmehr, dass das ewige Leben erfahren wird durch Barmherzigkeit gegenüber dem Nächsten.

Barmherzigkeit ist eine ganz andere undogmatische Kategorie. Die Barmherzigkeit ist eine evangelische Lehre von der Nachfolge, und sie ersetzt die eschatologische Spitzfindigkeit von dem gerechten Urteil am Ende der Zeiten. Ja, ein solches Gericht gleicht der trickreichen Frage des Schriftgelehrten. Diese große Frage lässt sich aber nur im Nahen beantworten. Das ewige Leben entfaltet sich in der Barmherzigkeit dem Nächsten gegenüber.

Das bedeutet nicht, dass Gott nicht auch Heiliger Geist und Ewigkeit, allmächtiger Schöpfer ist. Hier wird vielmehr festgestellt, dass wir als Maßstab und Vorbild nur das Leben Jesu haben mit seinen Worten und Taten. Alles andere ist Spinnweben.

Gleichnisse und Geschichten mit einer Pointe, die jeder verstehen kann. Es ist aber schwer, sie aufzubrechen und in ihren Einzelteilen zu erklären. Denn nicht die einzelnen Elemente sind entscheidend, sondern die Pointe. Die Gleichnisse haben oft die Funktion, den Glauben zu verbildlichen. Eine sichere Art und Weise, die Verbildlichung zu demontieren, besteht darin, dass man die Erzählung in ihre Einzelteile zerlegt und das Gleichnis uns selbst anpasst, wo es uns in Wirklichkeit auf das aufmerksam machen soll, was wir uns nicht selbst sagen können. Hier die Frage: „Wer ist dann mein Nächster?“ Die Antwort ist so einfach, aber dennoch so offen, dass es uns alle trifft. Es ist „der, der die Barmherzigkeit an ihm tat“.

Es gibt zu denken, dass Jesus vom ewigen Leben reden kann und auch an anderer Stelle vom Gericht, von Tod und Auferweckung, ohne in eine geschlossene und eindeutige Sprache zu verfallen. Die Antwort wird stets uns selbst überlassen, so dass auch wir darüber nachdenken können, wie wir das ewige Leben auslösen, indem wir der Welt mit Barmherzigkeit begegnen. Anders können wir kaum den Versuch machen, Jesus zu gleichen, getrost im Glauben daran, dass er, der Barmherzige, uns versprochen hat, Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Amen.

Pastor Rasmus Nøjgaard

DK-2100 København Ø

Email: rn(at)km.dk

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