Der Waschraum

Der Waschraum

Predigt zu Johannes 13,1-15 (dänische Perikopenordnung) | von Pastorin Christiane Gammeltoft Hansen | aus dem Dänischen übersetzt von Eberhard Harbsmeier |

 

Zwei Menschen treffen sich im Waschraum. Vor wenigen Tagen war der Waschraum ein Waschraum in einem Konzentrationslager. Nun ist es ein Waschraum in einer anderen Welt, auch wenn es derselbe Waschraum ist und er an derselben Stelle liegt.

Es sind die Tage direkt nach dem Ende des Krieges. Die Soldaten des deutschen Vernichtungslagers sind durch Soldaten des Besatzungsheeres ersetzt worden. Für die beiden, die sich begegnen, hat das eine Veränderung mit sich gebracht. Vorher war einer von ihnen einer der Wächter des Vernichtungslagers. Nun ist er Gefangener. Und der andere: Er war einer der vielen jüdischen Internierten. Nun ist er frei.

Der Krieg hat in ihnen tiefe Spuren hinterlassen, bei einem von ihnen auch physisch. Der frühere jüdische Internierte ist krank und liegt in einer der Hospitals-Baracken des Lagers. Zwei Tage nach der Befreiung kämpft er sich aus seinem Krankenbett – er will sich waschen. Und dabei begegnen sie sich. Der Kranke erzählt:

„Als ich die Tür zum Waschraum geöffnet hatte und weiter zum Waschbecken gehen wollte oder vielleicht erst zum Pissoir, hielt ich an und blieb stehen – und mir fällt kein treffenderer Ausdruck ein als diese verschlissene Wendung, denn das war es, was geschah – ich war wie vom Blitz getroffen. Denn am Waschbecken stand ein deutscher Soldat, der seinen Kopf langsam mir zuwandte, als ich hereinkam; und gerade ehe ich umfiel, ohnmächtig wurde, in die Hosen pinkelte vor Schreck, oder wer weiß, was ich sonst getan hätte, wurde ich jenseits der grauschwarzen Nebel meines Entsetzens aufmerksam auf eine Bewegung. Die Handbewegung des deutschen Soldaten, so als winkte er mich heran an das Waschbecken, und in der Hand, die die Bewegung ausführte, hatte er einen Lappen, und er lächelte. Es wurde mir langsam klar, dass der deutsche Soldat nur das Waschbecken scheuerte und dass sein Lächeln Ausdruck der Dienstbarkeit war, dass er das Waschbecken für mich sauber machte.“[1]

Ist es möglich, den Staub von den Stiefeln und die Asche vom Gesicht zu waschen? Ist es möglich, nicht nur zu überleben, sondern mit dem zu leben, was geschehen ist und was getan worden ist? Das ist nicht möglich in dem Sinne, dass die Angst davor, dass es wieder geschieht, nicht mehr da ist. Auch nicht in dem Sinne, dass man die Vergangenheit vergessen oder verdrängen kann. Der ehemalige jüdische Gefangene weiß denn auch sowohl in Bezug auf sich selbst als auch in Bezug auf das Menschsein überhaupt, dass es schwer ist das Misstrauen zu überwinden. Wie eine Fanfare erklang der Freiheitsruf durch das Vernichtungslager. Das Misstrauen, das ist damit nicht gleich weggeblasen.

Aber in der Sekunde, ehe der Kranke – vielleicht oder vielleicht auch nicht – ohnmächtig wird, sieht er eine ausgestreckte Hand und einen Menschen, der bereit ist zu dienen. In einem Augenblick sieht er, dass eine andere Weltordnung eingetreten ist, wo ein Waschraum nicht mehr dazu dient, jemanden für den Tod vorzubereiten, sondern dafür, Menschen für das Leben zu stärken. Und er erfährt, dass etwas Mitmenschliches selbst da entstehen kann, wo der Abstand ansonsten unüberwindlich erscheint.

Heute ist Gründonnerstag, auf Dänisch der „helle“ Donnerstag. Ein Tag wie eine Insel des Augenblicks. Da war Verrat vorher, und da wird Verrat kommen. Da war Verleugnung vorher, und Verleugnung wird es wieder geben. Das gilt für die Geschichte des einzelnen Menschen. Das gilt für die große Weltgeschichte. Und das ist deshalb auch ein Teil der Erzählung in den Evangelien. Aber jetzt sind wir hier, auf der Insel des Augenblicks. Gründonnerstag, der helle Donnerstag. Und Jesus nimmt sich die Waschschüssel. Darin liegt seine ganze Umkehr. Er, der Herr ist, kniet nieder, um dem Menschen zu dienen, den Staub und die Asche abzuwaschen. Und am selben Abend nimmt Jesus auch das Brot und den Wein. Er dankt und teilt es aus, gleichsam als fasse er die Bedeutung seines Lebens zusammen und reiche sie ihnen ihn konzentrierter Form.

Es ist leicht, die dreckigen und schmutzigen Seiten des Menschen in der Welt aufzuzeigen. Sie sind so offenbar, dass es keiner detektivischen Fähigkeiten bedarf, sie zu finden. Aber sich von Mensch zu Mensch begegnen und sich zu einer Gemeinschaft bekennen, sich vertrauensvoll begegnen trotz Verrat und Schuld, das bedarf einer großen Anstrengung und mehr als das.

Gründonnerstag vollführt Jesus die Beinarbeit der Liebe. Er nimmt den Lappen und wäscht, bis etwas Ursprüngliches zum Vorschein kommt. Er offenbart das, wofür wir geschaffen sind und zu dem wir bestimmt sind, und er setzt uns wieder ein in die Gemeinschaft mit ihm und miteinander.

Auf diese Weise vermittelt Gründonnerstag auch etwas Klarsicht. Es geht nicht nur darum, dass wir selbst unseren eigenen Hunger und Durst stillen. Es geht darum, dass wir trotz der Distanz, die wir zueinander haben können, dennoch eins sind. Deshalb kann ein Gefangenenwächter, der mehr auf dem Gewissen hat, als er tragen und ertragen kann, dennoch einen Waschlappen nehmen und dem dienen, der vorher sein Opfer war. Wer weiß, vielleicht macht dieser waschende Dienst auch ihn selbst etwas reiner, aber gleichwie – es ist möglich, etwas für den anderen zu tun, ganz gleichwie wieviel Böses man selbst verschuldet hat. Das ist die Befreiung des früheren Gefangenenwächters. Und das ist die Befreiung des Abendmahls, die Befreiung der Vergebung.

Die Vision des Abendmahls ist Einheit. Die älteste Abendmahls-Form und Abendmahlsliturgie ist die des Paulus. Und bei Paulus geht es um das gemeinsame Leben. Wenn wir uns einander zuwenden, mitlebend, mitleidend, dienstwillig – dann ist das die Wirkung des Abendmahls.

Auf diese Weise kann es auch Abendmahl werden außerhalb des Kirchenraums. Das ist gut zu wissen in einer Zeit, wo unsere Kirchen geschlossen sind wegen der weltumspannenden Epidemie. Wir können das Abendmahl an diesem Tage nicht in der Kirche feiern, aber das bedeutet nicht, dass das Abendmahl für uns nicht eine Realität ist. Diese Wirklichkeit wurde ins Leben gerufen, als Jesus am Gründonnerstag das Brot brach und den Kelch reichte und in Zeichen und Worten zum Ausdruck brachte, dass wir an seinem Leben teilhaben.

In einem Waschraum wird eine Hand gereicht, und auch wenn das nicht die Angst und den Schmerz wegwischt, kann es dennoch das Gefühl wecken, dass die Welt nicht nur ein Ort des Schreckens ist.

In einer Zeit, wo wir Abstand halten müssen und viele in ihren Wohnung eingeschlossen sind, ist es dennoch möglich, einen Nachklang der Worte zu hören: Dies ist der Leib Jesu Christi, für dich gegeben, dies ist das Blut Jesu Christi, für dich vergossen. Der Nachklang klingt vielleicht mit in der Stimme, die tröstend den erreicht, der Angst hat oder krank ist. Oder der Nachklang kann in dem Blick deutlich werden, der einen direkt ansieht und sich zur Gemeinschaft bekennt. Oder in dem Blick, der etwas Wärme gibt in einer Zeit, wo wir einander nicht mit den Händen erreichen.

Es ist Gründonnerstag, und wir leben nicht für uns selbst. Auch auf Abstand sind wir vereint in der Liebe Gottes. Amen.

 

Pastorin Christiane Gammeltoft-Hansen

DK-2000 Frederiksberg

E-mail: cgh(at)km.dk

[1] Kaddisch für ein nicht geborenes Kind, 1990, dt. 1992.

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