Die Theorie über…

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Die Theorie über…

Die Theorie über alles ist die Liebe | Johannes 20,1-18 (dänische Perikopenordnung) | von Leise Christensen | aus dem Dänischen übersetzt von Eberhard Harbsmeier |

Zu Ostern haben wir viel gehört über Corona. Wir haben für Leute und Länder gebetet. Heute geht es nicht um Corona, es geht um alles. Eine Erklärung folgt. Denn es ist nun schon einige Jahre her, dass ich meine Doktorarbeit geschrieben habe, ich schrieb einen Teil davon an der Universität in Cambridge. Ich hatte einen Leseplatz an einer Bibliothek für Exegeten – und das war ich als Alttestamentlerin – und jeden Morgen nahm ich mein Fahrrad und fuhr nach Newham, wo die Bibliothek lag, ganz nahe am Zentrum des unendlich schönen Cambridge. Ich war das geringste ganz kleine Rad in der großen Maschinerie im Dienst an der der Wissenschaft an diesem Ort, zweifellos! Aber manchmal morgens auf meinem Weg nach Newham begegnete ich einem der großen Räder im Dienst der Wissenschaft, nämlich dem Physiker und Mathematiker Stephan Hawking, der aus seinem Haus in Newton in seinem multifunktionellen Rollstuhl angefahren kam. Dieser Professor Hawking ist sicher den meisten bekannt. Vor allem wegen seiner großartigen Entdeckungen in der Physik und der Astrophysik trotz seiner Behinderung, trotz eines ihn behindernden ALS-Syndroms, das ihn seit der Zeit, als er ein 21-jähriger vielversprechender Student war, immer mehr von technischen Hilfsmitteln verschiedener Art abhängig werden ließ. Ihm wurden nur ein paar Jahre Lebenszeit prognostiziert, als die Krankheit bei ihm in jungen Jahren entdeckt wurde, aber er wurde 74 Jahr alt, ehe er vor gut zwei Jahren im März gestorben ist. Er wurde von der schönen alten Kirche aus beerdigt, die dicht am Marktplatz in Cambridge und direkt gegenüber seinem geliebten College liegt, von dem sein großes Lebenswerk ausging. Hawking war gewiss kein bekennender Christ. Er hat sich in seinem langen Leben unterschiedlich darüber geäußert. Schließlich gelangte er wohl zu der Auffassung, dass die Physik keinen Platz für Gott ließ. Er wurde dennoch von einer Kirche aus beerdigt, und sein Grab liegt in einer anderen Kirche zwischen den Gräbern seiner bekanntesten Vorgänger in seiner Professur, nämlich Isaak Newton, dem Mann mit der Schwerkraft und dem Apfelbaum, und einem anderen genauso berühmten Forscher, nämlich Charles Darwin, in der großen Kathedrale von Westminster Abbey in London.

Hawking ist vermutlich in wissenschaftlicher Hinsicht vor allem dafür bekannt, dass er die Theorie über alles finden wollte (deshalb geht es heute um alles), d.h. er wollte die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik kombinieren, als des größte und das kleinste Existierende, wie ich das verstanden haben. Das gelang ihm nicht, aber so wie ich es verstanden habe, ist er derjenige, der diesem ehrgeizigen Ziel am nächsten gekommen ist. Die Theorie über alles! Ja das klingt ehrgeizig. Eines ist, was Hawkings in seinem langen Leben als Physiker erreicht hat mit den großen Entdeckungen und seinen vielen Artikeln und Büchern. Eine andere Sache ist die Frage, was die Theologie oder der Kirchenglaube von der Theorie über alles hält. Denn man kann sagen, jedenfalls theologisch gesehen, dass eben der Ostermorgen die Verwirklichung einer Theorie über alles ist – also dort wo alles in dem Muster seinen Platz findet, das dem Menschen von Anfang an zugedacht war.

Maria Magdalene kommt in den Garten der Toten, um an des Mannes zu gedenken, den sie liebhatte. Wie viele andere vor und nach ihr hatte sie das Bedürfnis, ihre Gedanken zu sammeln nach den großen Ereignissen der letzten Tage. Sie brauchte Ruhe, eine Denkpause, ein Nachbesinnen, die Trauer. Es besteht ja kein besonders großer Unterschied zwischen einem Menschen vor zweitausend Jahren und heute in dem Sinne, dass man auf den Friedhof geht, um nach einem Verstorbenen zu sehen und etwas über dieses und jenes nachzudenken, über die Vergangenheit und die Zukunft, die man sehr wohl fürchten kann kurz nachdem man allein geblieben ist. Ja da erwartet man wahrlich nichts anderes als dass der Tote tot und in seinem Grab bleibt. Das wissen wir, und das wusste Maria Magdalene. Wenn man tot ist, dann ist man tot. Deshalb kann sie sich nichts anderes vorstellen als dass der, dem sie in einem Arbeitshemd begegnet, der Gärtner sein muss – was sollte sie sonst glauben? Und tatsächlich glaube ich, dass dies der Sinn ist. Sie soll glauben, dass der auferstandene Herr, dem sie dort begegnet, ohne es zu wissen, eben Gärtner ist. Das ist der kurze Augenblick, wo die Vergangenheit, nämlich die Schöpfung selbst, der Gegenwart begegnet, nämlich der neuen Schöpfung, wo Jesus auferstanden ist – wo alles wieder neu geworden ist. Denn es war ja so, als Gott seinerzeit im Garten Eden einherging wie ein Gärtner. Er ließ alles wachsen, er sorgte dafür, dass der Garten tatsächlich ein Garten war, den er angelegt hatte (kann man sagen). Hier begegnen sich die beiden Schöpfungsberichte – Gott als der auferstandene Jesus und Maria Magdalene als der Mensch, die im Garten einhergehen. Die Schöpfung wurde in diesem Augenblick wieder aufgerichtet. Sie wurde wieder gut. Man kann sagen, dies ist die Theorie des christlichen Glaubens über alles, die hier zur Sprache kommt. Hier, wo das Größte von allem, nämlich die Auferstehung eines Menschen von den Toten, dem Kleinsten von allem begegnet, einem gewöhnlichen und vermutlich verachtetem Menschen, einer Frau vielleicht zweifelhaften Charakters. Ist Christus wirklich von den Toten auferstanden? Ja, das ist er. Ein Kreuz für das Denken, ein Trost für das Gemüt. Das müssen wir glauben. Klar, wenn man die Auferstehung Jesu von den Toten mit verschiedenen Gleichungen konfrontiert, ja dann ist sie eine Unmöglichkeit. Gleichungen, die möglicherweise die Theorie über alles beweisen könnten, taugen hier nicht. So ist es nicht. Aber wenn man sein Leben und seinen Tod im Lichte von Gleichnissen sieht, dann muss es so sein. Dann ist er auferstanden. Die Theorie über alles, ja die ist in einem christlichen Sinne die Liebe. Sie ist es, die alles in sich enthält, das Kleinste und das Größte. Sie ist der Sinne des Lebens. Das ist eine andere Art von Theorie über alles, nach der Hawking suchte, aber dann doch auch nicht. Er sagte nämlich infolge seiner drei Kinder, dass „es ein eigenartiges Universum wäre, wenn es nicht die Heimat der Menschen wäre, die du liebst“.  Dieser Mensch also, der fast alles wusste, auch wenn  es nicht alles über alles war, aber unglaublich viel wusste von schwarzen Löchern, Explosionen, Relativität und Quantenmechanik, ja der wusste auch sehr wohl, dass das, was den Sinn der Universums trägt, nicht ein Wissen davon ist, wie alles zusammenhängt, sondern Liebe ist. Das ist es, was das Universum interessant macht. Und gut.

Die Auferstehung Jesu zeugt von dieser Liebe, die dem Leben seinen letzten Sinn verleiht. In diesem Sinne ist die Liebe die Theorie über alles, auch wenn sie es nicht im physikalischen Sinne ist. Am Ostermorgen wurde alles neu geschaffen, um uns noch eine Chance zu geben. Das sah Maria Magdalene, und das sollen wir auch sehen. Frohe Ostern. Amen.

Sognepræst Leise Christensen

DK 8200 Aarhus N

Email: lec(at)km.dk

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