Markus 2,1-12

Markus 2,1-12

19.Sonntag nach Trinitatis | Mk 2,1-12 (dänische Perikopenordnung) | Thomas Reinholdt Rasmussen |

Der Gelähmte auf der Bahre – und das Kind bei der Taufe

Einer der Geschichten, die mir am deutlichsten in Erinnerung sind aus meiner Kindheit, ist der Bericht von dem Gelähmten in Kapernaum.

Die Handlung ist von Markus schön erzählt. Die vielen Menschen, die sich um Jesus scharen, um seine Verkündigung zu hören. Sie müssen eng gestanden haben wie Heringe in einer Dose, wie man in Dänemark sagt. Und hier in der dichtgedrängten Menge ergeht das Wort an sie. Das Wort von dem Herren selbst. Das Wort vom Reich Gottes, vom Frieden, von Freiheit und von Freude.

Aber plötzlich – mitten in diesem Gottesdienst, den der Herr selbst hält so wie er alle anderen Gottesdienste in seinem Namen hält – nähern sich vier Männer mit einem Gelähmten auf einer Bahre. Der Mann auf der bahre ist gelähmt. Er wird zu Jesus getragen. So wie Eltern ihre Kinder zur Taufe tragen. Wie das Kind, das unbesorgt darauf vertraut, dass seine Eltern ihm das Beste wünschen, so muss der Gelähmte darauf vertrauen, dass die vier Männer ihre Aufgabe zu seinem besten wahrnehmen.  Und die Aufgabe ist phantastisch. Mitten in der Rede Jesu an die Menge – mitten in dem vollmächtigen Gottesdienst – wird das Dach durchbrochen. Ja, stellt euch vor, das Dach hier in der Kirche würde durchbrochen, weil die Leute hereinkommen wollen. Die vier Männer aber durchbrechen alle Schranken und Hindernisse, sie durchbrechen das Dach und bringen den Gelähmten so zu Jesus. Wie die Eltern eines Kindes, das getauft werden soll mit dem Kinde zu Jesus kommen am Wasser der Taufe, so kommen die Männer mit dem Gelähmten in das haus zu Jesus. Und hier werden wir sogleich überrascht in der Bewegung.

Denn da steht, dass Jesus ihren Glauben sah.

Aber da war vorher nirgends von Glauben die Rede. Wer würde hier an Glauben denken? Würde man nicht an Hartnäckigkeit oder Aufdringlichkeit denken? So würden wir wohl in dieser Situation denken, aber Jesus sieht ihren Glauben, so wie er den Glauben sieht, wenn wir mit den Kindern zur Taufe kommen. Er sieht den Glauben, wo wir vielleicht nur die Ankunft sehen. Aber das ist es, worum es geht.

Ein Glaube, der sichtbar wird, indem Jesus ihn sieht.

Ein Glaube, der dem Gelähmten zugutekommt.

Ein Glaube, der dem Kinde beim Wasser der Taufe zugutekommt.

Was Jesus für den Gelähmten tut, ist dass er seinem Leben eine neue Bewegung gibt, eine neue Richtung. Statt zunächst sein äußerliches Leiden zu beheben, dass er gelähmt ist, bringt Jesus ihn in das rechte Verhältnis zu Gott. Er schenkt ihm die Vergebung der Sünden. Und die Vergebung der Sünden ist ein rechter Beginn. Was aber ist dann Sünde?

Oft hört man ja die Leute sagen, dass sie sich nicht selbst als Sünder betrachten können. Sie tun, was sie sollen, sie tun ihre Pflichten im Leben, und alle bezahlen, was sie schuldig sind. Sie sündigen jedenfalls nicht. Zu denen kann man ja nur sagen, dass das ja gut klingt und dass sie ja durchaus ihren guten Kurs weiterverfolgen sollen. Aber da haben wir noch immer nicht ein Wort über Sünde gesagt. Wir haben etwas gesagt über Moral und Unmoral, und das soll man sich durchaus vor Augen halten, aber Sünde ist nicht einfach dasselbe wie Unmoral und schlechtes Betragen. Sünde ist nämlich etwas anderes. Denn wenn Sünde dasselbe wäre wir Unmoral und schlechtes Betragen, könnten wir uns nur ausammenreißen, und der Tod Jesu am Kreuz wäre dann nur ein Tod für die Unmoralischen und die Schwachen, wogegen die anderen, die das Kreuz nicht brauchen, freundlich auf den gekreuzigten Erlöser blicken könnten, während sie einen Bogen um das Kreuz machen. Nein, Sünde ist etwas anderes.

Das Wort Sünde – sagt man – kommt von dem Wort Sund wie z.B. Öresund. Der Öresund trennt Seeland von Schonen. Zwischen Seeland und Schonen liegt ein Sund – eine Trennung. Zwischen Gott und uns befindet sich auch ein Sund – eine Trennung. Zwischen Gott und uns ist Sünde. Sünde ist, nicht an Gott zu glauben.

Und Sünde kann man erfahren. Sie kann erfahren werden als eine Spaltung in einem selbst. Eine Spaltung zwischen dem, was man ist, und dem, was man sein will. Sünde wird als eine beständige Unruhe erfahren. Sünde wird erfahren als alltägliche Schuld gegen einander. Sünde wird erfahren als grundlegende Unüberschaubarkeit des Lebens. Sünde wird erfahren als ewige Unruhe im Körper. Sünde wird erfahren als das Gefühl, nicht gut genug zu sein, nirgends hinzugehören. Sünde ist Heimatlosigkeit. So wie Seeland nicht zu Schonen gehört. Und Sünde findet ihren Ausdruck im Leben als Hochmut, Lüge und Schwachheit.

Unter der Macht der Sünde zu sein, heißt wie ein Nomade nicht im Leben beheimatet sein. Sünde bedeutet, nicht den Ort zu haben, wo man hingehört. Und Vergebung der Sünde bedeutet, das zu überbrücken, was getrennt ist. Vergebung der Sünde bedeutet, eine Brücke zwischen uns und Gott zu bauen, und das kann nur der große Brückenbauer Jesus Christus. Die Vergebung der Sünden, die in der Taufe zugesagt wird, bedeutet: Du hast einen Ort, wo du hingehörst. Du hast den Ort, wo du recht im Leben beginnen kannst. Und dieser Ort ist bei deinem Gott und Vater, bei ihm, der Herr ist über Leben und Tod. Er, der dich nie verlässt, sondern dafür sorgt, dass dir deine Sünde dich verlässt.

Die Vergebung der Sünde ist das erste im Leben. Das kleine Kind bei der Taufe erhält nicht zuerst einen langen Vortrag darüber, was Sünde ist. Hier heißt es unmittelbar, wie auch bei dem Gelähmten: Deine Sünden sind dir vergeben!

Deutlicher kann es nicht gesagt werden, dass Sünde nicht nur Unmoral ist, denn das Kind handelt ja weder gut noch böse, aber es kann im Glauben und Vertrauen ganz wie der Gelähmte empfangen, und was das Kind bei der Taufe und der Gelähmte auf der Bahre empfangen haben, ist die Gemeinschaft mit dem Schöpfer selbst, die Gemeinschaft durch Jesus Christus.

Der Gelähmte auf der Bahre empfing zuerst die Vergebung der Sünden, weil wir unser Leben von der Vergebung der Sünden her leben. Erst dann, und das geschieht erst dann, heilt Jesus den Gelähmten. Die Heilung wird zur Verdeutlichung der Vergebung. Sie macht sichtbar, was wir Menschen immer brauchen, weil es uns schwerfällt zu glauben.

Ja, das Leben lebt von der Vergebung der Sünden, deshalb müssen wir mit der Menge sagen: Wir haben solches noch nie gesehen, denn das ist das Zeichen für einen neuen Weg. Ein Weg aus der Finsternis. So etwas haben wir noch nie gesehen, denn Gott wagt hier mit dem Evangelium von Jesus Christus mit der Vergebung der Sünde einen neuen Anfang für unser Leben. Und dieser neue Anfang mit der Vergebung der Sünde ist die frohe Botschaft, auf der unser Leben beruht und die es Tag für Tag aufbaut, bis wir, wenn Gott will, in sein leuchtendes Himmelreich eintreten, denn so etwas haben wir noch nie gesehen. Amen.

Bischof Thomas Reinholdt Rasmussen

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