Novembertage

Novembertage

Predigt zu Micha 4,1-3; 1. Korinther 3,10-17; Matthäus 11,25-30 (dänische Perikopenordnung) | verfasst von Margrethe Dahlerup Koch |

Der November hat einen schlechten Ruf. Er geht schwer durch die Stadt, heißt es in einem dänischen Lied. Wintertristesse und Dunkelheit. Selbst der Freitag vorgestern war finster. Das ist ganz ungerecht. Denn die Novembertage können schön und klar sein. Oder magisch pastellfarbig. Und eben weil sie so kurz sind, können die Sonne und das Licht gerade jetzt noch stärker wirken. Man denke nur, es ist da, das Licht. Man denke nur, dass sie es will, die Sonne, aufgehen für nur so wenige Stunden um uns etwas zu erwärmen.

Im römischen Kalender war der November der neunte Monat. Novem bedeutet neun auf Lateinisch. Der neunte Monat. Das ist der Monat, der schwanger ist, berstend vor Leben, Anfang, Unruhe und Ungeduld, Erwartung und Freude auf die Geburt. Das ist der November, von dem wir singen, der uns singen lässt.  Das macht das Kirchenjahr deutlich, das recht besehen nie endet – so wie das Kalenderjahr das tut. Das Kalenderjahr bekommt jedes Jahr einen neuen Namen, eine Jahreszahl, das tut das Kirchenjahr nicht. Das alte Jahr endet sozusagen nicht. Es wird abgebrochen und beginnt wieder von neuem mit dem Kommen des Herrn. Advent.

Aus dem November, dem neunten Monat, entspringen Tage voller Lieder. Deshalb summt es von Leben und Aktivität in den gottesdienstlichen Lesungen aus der Bibel heute, an diesem letzten Sonntag des Kirchenjahres im November. Wir begannen mit der Vision des Propheten Micha von allen Völkern, die sich am Tempelberg versammeln (Micha 4,1-3). Und neben dem Klag von Reden in all den verschiedenen Sprachen kann man auch im Hintergrund den Klang des Schmiedehammers hören. Da ist lebhafte Aktivität, und es gibt genug zu tun, denn alle Kriegswaffen sollen geschmiedet werden zu nützlichen landwirtschaftlichen Geräten, Pflugscharen und Weinbergsicheln. Da wird gehämmert und hartnäckig auf den Ambossen geschlagen, so wie wenn die Kirchenglocken über die ganze sonntäglich schlaftrunkene Stadt bimmeln um bammeln.

Und es geht weiter mit Paulus (1. Kor. 3,10-11), der auch viel zu tun hat. Denn da soll auf dem, was schon gegründet ist, weiter aufgebaut werden. Und dann kommt es: Ihr seid heute der heilige Tempel Gottes. Der Tempel, zu dem nach der Vision Michas alle Völker aufschauen, der Tempel werdet ihr sein infolge Paulus, werden wir sein! Der Tempel, wo die Menschen Gott ehren und die Nähe Gottes suchen – das ist nun nicht mehr ein Gebäude aus Stein. Das sind nun Menschen. Die Leute damals in Korinth, die nicht imstande waren, ordentlich miteinander umzugehen, überhaupt nicht, davon könnt Ihr selbst im 1. Korintherbrief lesen. Und wir jetzt, die wir den Leuten von damals in nichts nachstehen, was Mangel an Phantasie betritt und den Willen, ordentlich zusammen zu leben. Und dennoch kommen wir nicht darum herum. Der Tempel – der Ort der Nähe Gottes, der Ort an dem Gott geehrt wird, das sollen wir sein. Weil wir mit dem Geist Gottes getauft sind, sagt Paulus. Weil Gott gesagt hat, dass er bei uns ist.  Weil Gott gesagt hat, dass er uns brauchen will. Weil sich Gott mit der Menschlichkeit verbinden und darin erkannt werden will.

Wie in einer Episode, von der ich kürzlich in einem Interview las. Um wen es ging, das habe ich vergessen, aber der Betreffende, übrigens ein erklärter Atheist, erzählte, dass er in ganz jungem Alter ganz allein in einem völlig öden Hafen in einer total fremden Stadt saß. Er war einsam, ohne Hoffnung, alles war ihm egal. Und nun war ihm der Gedanke gekommen, dass er ja einfach in den Hafen fallen und ertrinken könnte. Niemand würde das bemerken. Da kam ein Fremder hin zu ihm und hatte um Feuer für seine Zigarette gebeten und sich neben ihn gesetzt und sie geraucht. Keiner der beiden hatte etwas gesagt. Und als der andere fertig geraucht hatte, ging er weg und nickte stumm. Eine Unterbrechung. Eine banale Bitte um einen Gefallen, ein Feuerzeug. Ein Nicken. Eine Menschlichkeit, die eben an diesem Tag lebenswichtig war.

Ist das wirklich etwas, was mit Gott zu tun hat? Ja doch!

Also so. Daran geht kein Weg vorbei. Hier gibt es keine Entschuldigung. Winterträgheit, Müdigkeit und Minderwertigkeitsgefühl. Nichts davon kann etwas daran ändern: „Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und dass der Geist Gottes in euch wohnt?“ Und Paulus spricht im Plural. Es geht nicht um den Einzelnen – es betrifft alle. Der Geist Gottes wohnt nicht privat in einem Einzelzimmer, sondern dort wo wir zusammensind – zusammen singen, reden, beten, uns darum bemühen, das Leben gemeinsam zu meistern. Oder – und da sind wir bei den Worten aus dem Evangelium: Dort wo wir Ruhe finden – gemeinsam.

Denn beachtet. Jesus redet im Plural: „Kommt her zu mir, alle ihr, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken“. Das hier betrifft uns gemeinsam.

Wir wissen wohl jeder für sich, was für Lasten wir tragen. Einige sind neu, andere alt. Das macht sie vielleicht nicht leichter. Die Zeit heilt nicht alle Wunden, und sie bewirkt nicht immer, dass die Lasten leichter zu tragen sind. Alte Wunden, die Schuld, von der nie gesprochen wurde. Die Sehnsucht nach denen, die wir vor langer Zeit verloren haben, so dass andere vielleicht meinen, dass man sich allmählich daran gewöhnt hat, ohne sie zu leben.

Und dann ist da all das, was uns so peinlich ist, dass wir nicht davon reden wollen. Die Angst, in seinem Unvermögen entlarvt zu werden. Die Furcht, dass man nicht gut genug ist. Die Furcht, dass das Geld nicht reicht. Die schwache Psyche. Die Trauer über das, was man nicht erreichte. Die Bitterkeit, die einen nicht loslässt.

Das ist so unterschiedlich, so privat, was wir alles mit uns herumtragen. Und Jesus verspricht nicht, dass uns diese Lasten erspart bleiben. Er bietet nicht an, dass wir sie von uns ablegen und ohne sie weiterleben können. Er verspricht auch nicht, dass er alles für uns richtet. Er tut etwas anderes. „Ich will euch erquicken“, sagt er, und im nächsten Satz verstehen wir dann, was das bedeutet. Nicht dass uns die Lasten erspart bleiben, sondern dass wir Kraft bekommen sie zu tragen. „Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir“, sagt er, „so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen“. Er gibt uns etwas zu tragen. Gemeinsam. In all unserer Verschiedenheit und Privatheit bringt er uns zusammen unter dasselbe Joch: Sein Joch.

Unter dem Joch sein. Ein Joch auf seine Schultern bekommen. Das bedeutet gewöhnlich etwas Negatives. Dass man unterdrückt wird. Aber eigentlich ist ein Joch ja ein Hilfsmittel. Das Schulterjoch verteilt das Gewicht, so dass man dir Bürde tragen kann. Man kann in der Tat mehr mit einem Joch tragen als ohne. Und das Joch über einem Gespann von Ochsen z.B. ist ein Mittel der Steuerung, das bewirkt, das die Ochsen zusammenarbeiten und sich in der Furche beim Pflügen halten können.

Bei Tragen einander helfen, am gleichen Strang ziehen, auf die rechte Spur bringen, das alles liebt im Bild eines Jochs. Im Judentum konnte man in der Zeit Jesu in Anspielung ad dieses Bild das Gesetz, das Gesetz des Moses ein Joch nennen.

Und eben daran spielt Jesus hier an. Er spricht nicht vom Joch des Gesetzes, sondern von seinem Joch. Das Joch, von dem er eine ganze lange Predigt in der Bergpredigt gehalten hat. Das Gesetz, das Joch, dessen wesentlicher Inhalt ist: „Liebt, gebt, vergebt!“ Und diesen drei Verben ist gemeinsam, dass sie nur Sinn machen in einer Gemeinschaft. Nur in sehr schlechten Büchern zur Selbsthilfe kann einem eingebildet werden, dass man sich selbst lieben und sich selbst vergeben kann. Und jeder, der als Kind Weihnachtsgeschenke für sich selbst eingepackt hat, weiß, dass es keine große Freude macht, sich selbst etwas zu schenken.

Das Joch Jesu: „Liebt, gebt, vergebt!“ – das, was uns dazu bringt, die Schwere der Lasten zu tragen, das, was uns dazu bringt, dass wir sehen, dass wir mit all unseren Verschiedenheiten auf demselben Weg sind – das ist sein neues Gesetz. Ein Gesetz, das er erfüllt, indem er selbst liebt, vergibt und gibt. Seine Zeit, seine Kräfte, seinen Mut und sein Leben, bis er alles wegegeben hat, so dass es nun hier mitten in der Welt ist, der er es gegeben hat. Und es ist unsere Aufgabe, das zu sehen, auf das hinzuweisen, Kräfte zu finden darin und Mut und Leben. Dann können wir es weitergeben. An alle und an jeden, die es brauchen. Und dann können wir das geschenkt bekommen. Von allen und jedem, der sieht, dass wir es brauchen.

„Kommt h er zu mir alle Ihr, die ihr mühselig und beladen seid“ ruft er. „Dein Reich komme“, antworten wir im Vaterunser, dem Gebet, das Jesus uns gelehrt hat. Dieses Gebet hält uns daran fest, dass das Reich Gottes kommt, es ist auf dem Wege, und es ist schon hier. In kurzen Augenblicken wie in Novembertagen, kostbar wie die Wintersonne. Das Reich Gottes kommt in Augenblicken, überrumpelnd wie die knallgelben Blüten der Ringelblume in der frischen Dämmerung des Nachmittags; und störend wir eine Frage nach Feuer von einer Morgenröte.

Vom November erheben sich Tage von Gesang und Advent. Das Kommen des Herrn.  Wir sind im neunten Monat. Amen.

Pröpstin Margrethe Dahlerup Koch

Fjord Alle 13

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E-mail: mdk(a)km.dk

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