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Theologisches Seminar | Theologische und Religionswissenschaftliche Fakultät

Die Bibel: Stoff von gestern, Diskussionsstoff für heute

Amira Hafner-Al Jabaji: Konrad Schmid, Sie sind reformierter Theologe sowie Professor für alttestamentliche Wissenschaft und frühjüdische Religionsgeschichte an der Universität Zürich, Sie erforschen die Bibel also wissenschaftlich. Gleichzeitig sind Sie aber auch reformierter Geistlicher – Sie sind ordiniert – und halten gelegentlich die Predigt. Ich stelle mir vor, das ist ein riesiges Spannungsfeld. Bleibt der Wissenschaftler jeweils vor der Kirchenpforte, wenn der Prediger am Werk ist?

Konrad Schmid: Nein, das kann man so nicht sagen, das hängt wahrscheinlich mit der Tradition zusammen, aus der ich stamme. Ich glaube, es ist zunächst einmal wichtig festzustellen, dass im christlichen Gottesdienst die Bibel nicht einfach verlesen wird, sondern dass man über sie predigt: man legt sie aus. Dieser Auslegungsvorgang ist das, womit ich mich selber professionell beschäftige in meinem Beruf an der Universität und wo ich auch meine Studenten darin unterrichte.

Sie können also diese beiden Rollen gut auseinanderhalten. Trotzdem, wie umschreiben Sie Ihre wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Bibel und wie diejenige während einer Predigt?

Ich würde sagen, es ist kein grundlegend anderer Vorgang, die Akzente liegen etwas anders. Vielleicht muss man dazu auch noch kurz anfügen, dass im Protestantismus das Amtsverständnis des Pfarrers ein ganz spezifisches ist. Der Pfarrer hat nicht eine höhere geistliche Kompetenz, er verfügt auch nicht über eine Erleuchtung, er ist auch nicht besonders heilig, sondern er ist dasjenige Gemeindeglied, das Theologie studiert hat, also eine gewisse Kompetenz in der Bibelauslegung hat. Wenn ich mich als Wissenschaftler mit der Bibel beschäftige, dann möchte ich diese Texte verstehen, diese alten Texte, die zum Teil wirklich aus einer fernen Welt kommen und auch in einer fremden Sprache – Hebräisch im Alten, Griechisch im Neuen Testament – geschrieben sind. Dazu braucht es eben ein gewisses Training. Wenn ich über einen Bibeltext predige, dann versuche ich, in den Vordergrund zu stellen: Was treibt eigentlich einen solchen Text um, was will er erklären? Aber das sind Fragen, die dem wissenschaftlichen Umgang nicht fremd sind. Wenn ich das vielleicht an einem Beispiel kurz illustrieren darf: Die Paradiesgeschichte in Genesis 2 bis 3 – das erste Menschenpaar, das vertrieben wird aus dem göttlichen Garten – ist eine Erzählung, die ganz offenkundig erklären will: Wieso leben wir in unserer heutigen Lebenswelt und nicht mehr im Paradies? Weswegen müssen wir arbeiten für unseren Lebensunterhalt? Weswegen gibt es so etwas wie einen Gebärschmerz? Das sind die Dinge, auf die diese Geschichten hinauslaufen. Dieser Fokus spielt natürlich auch in der wissenschaftlichen Auslegung eine Rolle.

Ich stelle mir vor, wenn Sie die wissenschaftliche Herangehensweise praktizieren, dann geht es um das Kontextualisieren (vielleicht ein Stück weit auch um das Dekonstruieren); wenn Sie aber predigen, dann ist doch Ihre Aufgabe auch, „erbaulich“ zu wirken oder Trost zu spenden, Sinn zu spenden. Es scheint mir, das Auseinandernehmen auf der einen Seite und das Zusammenfügen auf der anderen, das sind zwei komplett unterschiedliche Aufgaben.

Das mag so sein, und möglicherweise würden auch bestimmte Kollegen von mir aus anderen christlichen Konfessionen oder Denominationen das anders sehen, als ich das sehe. Ich denke, die große Gefahr, vor der ich mich vor jedem Gottesdienst wirklich versuche zu hüten, ist, betulich zu wirken. Wenn man erbaulich ist, kann man auch „betulich“ werden – man versucht, diesen Kirchenslang zu reproduzieren und vielleicht so etwas wie billige Orientierung zu geben. Für mich ist Religion nicht dazu da, Antworten zu geben oder den Leuten immer etwas mit auf den Weg zu geben. Für mich ist Religion primär dazu da, Fragen offenzuhalten, die Leute zum Selberdenken anzuregen, ihnen einen kulturell vermittelten Umgang zu geben, wie sie mit dem Unverfügbaren, das sie in ihrem Leben trifft, umgehen können.

Ist das jetzt eine ausgesprochen reformierte Position, oder könnte man sagen, es ist die moderne Position eines christlichen Theologen, der nicht einfach Antworten geben, sondern Fragen aufwerfen will?

Ich glaube, die Bedürfnisse und Fähigkeiten von Gemeindegliedern und Geistlichen sind unterschiedlich. Das hängt mit unterschiedlichen Temperamenten und Charakteren zusammen. Meine Position ist wahrscheinlich schon typisch protestantisch, vielleicht auch typisch modern. Das stellt aber überhaupt nicht in Abrede, dass es andere Formen des gottesdienstlichen Umgangs mit der Bibel gibt, die vielleicht andere Personen sehr viel mehr ansprechen. Wenn Sie zum Beispiel eine katholische Messe besuchen: die sieht fast überall auf der Welt gleich aus, und Sie treten in ein Ambiente des Heiligen ein, das vielen Leuten Halt und Trost gibt. Das würde ich überhaupt nicht in Abrede stellen. Aber es ist nicht mein Zugang.

Es ist dann wahrscheinlich auch so, dass das Zentrale in der reformierten Tradition der Text ist. Als Muslimin ist mir das nicht so geläufig: Was ist eigentlich der genaue Unterschied in Bezug auf das Bibelverständnis in der reformierten Tradition und in der römisch-katholischen Tradition?

Seit dem Zweiten Vatikanum – seit Mitte der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts – haben wir uns wissenschaftlich so weit angenähert, dass wir keine Verständigungsschwierigkeiten haben. Das gilt im übrigen auch für das Gespräch mit den jüdischen Bibelwissenschaftlerinnen und Bibelwissenschaftlern. Das ist mittlerweile wirklich eine offene Gesprächsgemeinschaft. Wenn Sie sich das vor Augen führen mit Blick auf die Geschichte der Bibel: Die Bibel gibt es seit zweitausend Jahren, aber erst seit vierzig oder fünfzig Jahren haben wir einen solchen offenen Diskurs. Im Protestantismus ist dieser offene Umgang etwa dreihundert Jahre alt: 1775 ist so ein Stichdatum, als der Aufklärungstheologe Johann Salomo Semler seine Arbeit „Abhandlung von freier Untersuchung des Canon“ veröffentlichte. Dort hat man die Maxime aufgestellt, dass die Bibel auszulegen ist wie jede andere Literatur auch: Wenn ich die Bibel auslege, dann benutze ich dafür kein anderes Instrumentarium als ein Altphilologe, der Homer liest, oder ein Anglist, der Shakespeare auslegt.

Das wäre wahrscheinlich auch eine Abgrenzung zu anderen Lesarten oder Haltungen, die die Bibel noch als ein heiliges Buch betrachten und nicht als ein Buch wie jedes andere. Kommen wir auf Ihre Methode zu sprechen, die historisch-kritische. Was genau versteht man darunter? Wie arbeiten Sie als Wissenschaftler in Ihrer Auseinandersetzung mit dem biblischen Text?

Die historisch-kritische Methode ist so alt wie die Neuzeit, also etwa dreihundert Jahre. Aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts stammt eine schöne Definition von einem Kirchengeschichtler. Hans Lietzmann hat gesagt, die historisch-kritische Auslegung der Bibel ist eigentlich nichts anderes als die Anwendung des gesunden Menschenverstands auf die Texte der Bibel. Sie haben vorhin gesagt, es gibt Personen, die die Bibel „noch“ als Heilige Schrift anschauen. Ich würde sagen, die Bibel bleibt eine heilige Schrift in dieser Herangehensweise, aber man macht nicht eine „doppelte Wahrheit“ auf. Die Entscheidung, die Bibel wie jede andere Literatur auszulegen, ist nicht nur aus humanistischen und aufklärerischen Motiven bestimmt. Das auch, aber sie ist auch aus theologischen Motiven bestimmt, weil man sagt, dass die Wahrheit, von der die Bibel handelt, nicht eine andere ist als die, die der Vernunft zugänglich ist, die uns auch in unserem Leben trifft und mit der wir uns auch sonst auseinandersetzen.

Ich gehe davon aus, dass sich vielleicht doch nicht alle Textstellen in der Bibel gleichermaßen dazu eignen, diese Kontextualisierung, diese Einordnung in ein historisches Umfeld vorzunehmen, beispielsweise, wenn über die Wunder berichtet wird, wie etwa die Brotvermehrung, Jesu Gang über das Wasser oder das Auferwecken von Toten. Wie kann man hier eine historisch-kritische Erklärung oder Interpretation finden?

Eine Erzählung ist natürlich nicht immer eine Eins-zu-eins-Abbildung der Realität, die diese Erzählung beschreibt. Wenn wir Geschichten auslegen, die der naturwissenschaftlichen Wirklichkeit widersprechen, können wir sie trotzdem historisch auslegen, indem wir fragen: Wieso haben Personen diese Geschichten erzählt, etwa vom Durchzug der Israeliten durch das Meer? Wieso haben sie die Geschichte erzählt von der großen Sintflut, die am Anfang der Weltgeschichte die gesamte Erde überschwemmt hat? Dann können wir historisch-kritisch sehen, dass es zum Beispiel bei der Sintflutgeschichte lange Vorläufertraditionen gibt – aus dem Alten Orient, aus Mesopotamien (aus dem Gilgamesch-Epos) –, die offenbar von den biblischen Schriftstellern aufgegriffen wurden, die sie dann zu ihren eigenen Texten synthetisierten. Aber die Texte in der Bibel sind natürlich nicht alles Augenzeugenberichte, und sie erheben auch gar nicht diesen Anspruch.

Es gibt eine große Frage, mit denen sich alle Angehörigen der Buchreligionen auseinanderzusetzen haben, nämlich die Frage: Ist das Buch – und hier meine ich jetzt einerseits die Bibel mit ihren zwei großen Teilen, aber auch den Koran –, sind diese Bücher ganz von Gott, teilweise von Gott, oder sind sie ganz menschlich? Wie können wir diese Frage beantworten, so dass sie gleichermaßen unserem Bedürfnis nach der verstandesmäßigen Einordnung, aber auch nach unserem spirituellen Bedürfnis gerecht werden?

Für die Bibel gibt es zwei mögliche Zugangsweisen. Man kann zunächst mal fragen: Wie präsentiert sich die Bibel selber im Blick auf ihre Eigenschaft als Wort Gottes? Da muss man zunächst einmal wirklich mit aller Deutlichkeit sagen, dass die Bibel über die weitesten Strecken hinweg nicht einfach „Gottes Wort“ sein will in dem Sinne, dass sie von Gott geschrieben ist oder direkt von Gott eingegeben ist; der erste Satz der Bibel lautet ja nicht, „Am Anfang schuf ich Himmel und Erde“ – es ist kein Selbstbericht –, sondern „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde“. Die Bibel ist nicht einfach Wort Gottes, sondern sie bezeugt das Wort Gottes.

Es gibt in der Bibel eine kleine Stelle, wo davon die Rede ist, dass Gott selber etwas geschrieben hat, und das sind die Tafeln mit den Zehn Geboten, die „erste Ausgabe“. Diese Tafeln sind aber alsbald von Mose zerschmettert worden. Ich glaube, dass diese Entscheidung der Bibel – nicht einfach diesen Anspruch aufzubauen, eins zu eins Wort Gottes zu sein, sondern Wort Gottes zu sein in der Vermittlung durch menschliche Schriftsteller – ein sehr weiser Ratschluss gewesen ist. Denn dadurch immunisiert sie sich ein Stück weit gegen ideologische Instrumentalisierung. Es kann nicht jemand einfach kommen und sagen, das steht in der Bibel, deswegen ist diese Position Gottes Wille.

Trotzdem wird ja aber genau das getan.

Ja, ich denke, das ist einer der größten Fehler im Blick auf die Auslegung der Bibel. Gar keine Auslegung vorzunehmen, das ist der fundamentalistische Zugang: wenn ich sage, die Bibel ist ein Text, der keiner Auslegung bedarf; wenn ich wissen will, was Gott mit mir, mit dieser Welt vorhat, dann kann ich einfach in die Bibel hineinschauen und das entsprechend nachschlagen. Ich denke, hier liegt der große theologische Wert eines historisch-kritischen Zugangs zur Bibel, weil er deutlich macht: Die Bibel ist wie jedes andere Buch, ein kulturelles Artefakt, das zu einer bestimmten Zeit, in einer bestimmten Geistigkeit mit bestimmten Überzeugungen niedergeschrieben worden ist. Wir können heute mit ziemlich genauer Sicherheit rekonstruieren, von wann an die Bibel als inspiriertes Wort Gottes gegolten hat und wann diese Vorstellung zu einem Ende gekommen ist. Sie entsteht erst etwa im 1. Jahrhundert nach Christus, ist also im wesentlichen eine nachbiblische Vorstellung. Die Bibel ist nicht geschrieben worden im Blick darauf, dass es sich um inspirierte Literatur handelt. Doch diese Vorstellung hat Bestand gehabt bis in die frühe Neuzeit – bis Baruch de Spinoza, Thomas Hobbes oder eben jenem Johann Salomo Semler, von dem ich am Anfang des Gesprächs berichtet habe.

Es scheint mir, dass diese theologische Position vermutlich jene ist, die sich in den akademischen Kreisen durchgesetzt hat. Wir erleben aber in unseren westlichen Gesellschaften eine Tendenz hin zu diesem wortwörtlichen Verständnis, oder wie Sie es eben umschrieben haben, die Tendenz, das Wort gar nicht mehr auszulegen, sondern es einfach nur für sich so stehenzulassen. Gibt es einen Dialog zwischen diesen unterschiedlichen Positionen zur Bibel, zwischen diesen verschiedenen Auslegungsarten?

Natürlich, dieser Dialog findet ständig statt. Die wenigsten christlichen religiösen Gemeinschaften sind einfach für sich abgeschlossen. Aber man muss sich ganz deutlich vor Augen halten, was für politische Konsequenzen es hat, wenn man auf Bibelauslegung verzichtet und das Wort der Bibel eins zu eins als verbindlich erklärt. Weil die Bibel ein altes Buch ist – mindestens zweitausend Jahre alt –, importiert man so ungefragt das Gesellschaftsmodell der Antike in die moderne Zeit.

Beispielsweise?

Zum Beispiel im Blick auf das Patriarchat. Die Bibel ist in einem patriarchalen Umfeld entstanden. Sie durchbricht an einigen Stellen diese patriarchale Denkstruktur, die ihre Umwelt und eben auch sie selber eigentlich fraglos prägt. Aber an vielen Stellen reproduziert sie auch einfach dieses Element. Deswegen haben evangelikale Gruppierungen in der Regel sozialpolitisch sehr konservative Vorstellungen.

Eine Bibelausgabe – die Bibel in gerechter Sprache – befasst sich unter anderem mit der Frage des Patriarchats. Wie sehen Sie den Wert solcher besonderer Übersetzungen, die eine bestimmte Sprache pflegen, eine bestimmte Absicht verfolgen, vielleicht auch eine bestimmte Klientel erreichen wollen?

Ich glaube, dass solche spezifisch engagierten Bibelübersetzungen geeignet sind, das Bewusstsein zu schärfen für diese Problematik, dass die Bibel tatsächlich aus einem patriarchal geprägten Umfeld stammt. Für mich ist es aber der falsche Weg, das auf der Ebene der Übersetzung zu heilen. Für mich ist es überzeugender zu sagen, die Bibel ist ein altes Buch und sie vertritt eben an vielen Stellen antiquierte Auffassungen – das betrifft nicht nur Gesellschaftspolitik, das betrifft auch Naturwissenschaft, Kosmologie und weitere Fragen. Ich würde sagen, hier stellt sich die Frage der Auslegung. Man muss auf der Ebene der Auslegung klarstellen, auch kritisch klarstellen, dass nicht alles, was in der Bibel steht, theologisch korrekt plausibel ist und stimmt, sondern, dass man dazu eben einen kritischen Zugang braucht. Solche geschlechterspezifischen oder auch sonstige politisch unkorrekte Stellen in der Bibel auszuglätten versuchen ist ein endloses Unterfangen. Die Bibel ist an vielen Stellen von ihrem eigenen Zeitgeist geprägt und steigt eben nicht immer darüber hinaus. Ich ziehe daher Umgangsweisen mit dem Bibeltext im Blick auf Übersetzungen wie diejenige der Zürcher Bibel vor, die sagt, auch wenn der Text schwierig ist, auch wenn er uns nicht gefällt, wir zeigen, was er bringt.

An zwei Punkten würden Sie wahrscheinlich einen gewissen Widerspruch erfahren. Zum einen ist dieses Ausglätten – das sagen zumindest jene, die diese Formen der Übersetzung befürworten – eben nicht ein Ausglätten, sondern ein Zurückführen zu einem Geist der Bibel, nämlich hin zu dieser Botschaft der Gerechtigkeit. Zum anderen: Schaffen wir mit dem Ansatz, den Sie vertreten, nicht gerade wieder das, was Luther eigentlich ausmerzen wollte, nämlich eine Expertengilde, die dann letztlich eben doch der ganzen Bevölkerung erklärt, wie die Bibel zu lesen ist und wie sie zu interpretieren ist?

Im Blick auf das erste, das Sie sagen: Ich glaube, da muss man die Vielstimmigkeit der Bibel wirklich zur Kenntnis nehmen. Es gibt Stellen in der Bibel, namentlich im ersten Kapitel der Bibel, wo von der Gottebenbildlichkeit von Mann und Frau die Rede ist. Das ist eine absolut zentrale Errungenschaft, die da das erste Mal wahrscheinlich gedacht wird in der Geistesgeschichte der Menschheit, etwa 500 vor Christus. Ich würde sagen, vom ersten Kapitel der Bibel her kann man diese Frage der Geschlechterproblematik angehen, aber ich würde nicht sagen, dass man diese Geistigkeit hinter allen Texten, die zum Teil eben auch genderperspektivisch problematisch sind, sehen kann.

Was die Expertenmeinung betrifft, da halte ich an der Position des Protestantismus fest: Es ist eine Urerrungenschaft der Reformation, dass man sagt, die Bibel ist nicht nur Expertenliteratur, sondern jeder und jede kann die Bibel lesen. Aber ich würde auf der anderen Seite auch betonen: Die Bibel ist ein sehr komplexer Text, und es bedarf auch tatsächlich einer intellektuellen Anstrengung, um sie in ihrer Vielgestaltigkeit zu würdigen.

Ihr Forschungsschwerpunkt ist das Alte Testament. Das liegt – zumindest aus meiner Warte – nicht ganz auf der Hand; ich hätte jetzt eher erwartet, dass ein reformierter Theologe sich vor allem mit dem Neuen Testament befasst. Woher rührt Ihr besonderes Interesse am Alten Testament?

Zunächst, die Reformatoren – das gilt für Zwingli wie auch für Luther und Calvin – hatten einen ausgesprochenen Interessenschwerpunkt im Alten Testament. Ich würde auch sagen, dass es eine Grundentscheidung im Christentum gewesen ist (in allen Konfessionen), dass man das Alte Testament und das Neue Testament nicht in einem Über- oder Unterordnungsverhältnis zueinander in Beziehung gebracht hat, sondern in einem spannungsvollen Nebeneinander. Aus diesem spannungsvollen Nebeneinander ergibt sich dann eben auch die Herausforderung, dass jeder und jede selber mit der Bibelauslegung diesem komplexen Ganzen einen Sinn abgewinnen muss. Von daher ist das Alte Testament zunächst einmal nichts Überraschendes. Was mich daran interessiert ist genau diese historische Dimension: Das Alte Testament ist über tausend Jahre hinweg zu seiner jetzt vorliegenden Gestalt angewachsen. Wenn Sie sich das einmal vorstellen: Wir würden gewissermaßen von heute bis ins Hochmittelalter zurückschauen. In dieser Zeit von tausend Jahren hat sich natürlich die Religion, die Gottesvorstellung sehr entwickelt. Mich interessiert diese „Archäologie des Gottesglaubens“, die durch das Alte Testament dokumentiert ist. Und das nicht nur aus historischen Gründen, sondern eben auch aus theologischen Gründen. Ich denke, Religion – was man von Gott denkt – ist immer ein kulturell vermitteltes Gut. Wenn wir in die Geschichte, die das Alte Testament bezeugt, hineinschauen, kann man sehen, wie in diesen Texten Gott immer neu, immer anders und vielleicht auch immer tiefer durchdacht wird. Und das ist ein unglaublich spannender Vorgang.

Ich höre daraus, dass Sie ein Plädoyer dafür halten, sich auch aus christlicher Warte stark mit dem Alten Testament auseinanderzusetzen, und dass auch seine teilweise Abwertung oder die kritische Distanz zum Alten Testament, zumindest aus christlicher Warte, nicht sinnvoll ist. – Wir haben auf der Welt zwei gegenläufige Trends. Wir haben auf der einen Seite bei uns einen dramatischen Rückgang des Wissens über die Bibel. Gleichzeitig haben wir global gesehen rekordverdächtige Zahlen, was den Bibeldruck und die Bibelverkäufe anbelangt. Stellt sich bei uns so etwas wie eine Beliebigkeit ein, denen evangelikale Kreise mit ihrer Bibeltreue doch sehr erfolgreich begegnen?

Das mag so sein. Es gibt von dem Ethnologen Claude Lévi-Strauss eine Unterscheidung zwischen heißen und kalten Religionen. Kalte Religionen sind solche, die auf neue Herausforderungen in der Regel damit reagieren, dass sie auf der Tradition bestehen bleiben. Das wäre die evangelikale Option. Heiße Religionen passen sich an, und das ist, was der moderne Protestantismus macht. Natürlich befindet man sich da auf dem weiten Feld der möglichen Interpretationen der Bibel. Aber ich würde letztlich eben doch sagen, dass es die biblischere Position ist zu sagen, was hier steht – als verdichtete Erfahrung von Menschen, die ihr Leben im Horizont von Gott gedeutet haben –, das ist nicht ein Hammer, mit dem wir andere Leute erschlagen, sondern das ist ein sehr schwaches Angebot, das angewiesen ist darauf, den Lesern einzuleuchten. Das ist ein ausgesprochen evangelisches Moment im Bibelverständnis: Die Bibel ist nicht einfach ein starkes Wort, das auch geometrisch oder rational vordemonstrierbar wäre, sondern die Bibel enthält ein Wort, das auf die Mitarbeit der Leserinnen und Leser angewiesen ist.

Denken Sie, dass die aktuellen Diskussionen zum Koran auch dazu führen, dass man sich hier vielleicht wieder verstärkt mit dem Bibeltext auseinandersetzt und dass vielleicht sogar die Parallelen der koranischen und biblischen Erzählungen letztlich genau so sich miteinander verweben wie Erstes und Zweites Testament in der Bibel?

Die Frage, ob die vermehrte Beschäftigung mit dem Koran auch in Mitteleuropa ein Revival der Bibel auslösen wird, ist sehr interessant, aber wir können sie noch nicht abschließend beantworten. Die Erfahrung in den Zentren für Islamische Theologie, die es jetzt in Deutschland gibt (in Münster, Tübingen, Osnabrück und Erlangen), weisen darauf hin, dass das zu einer intensiveren Wahrnehmung auch der Bibel führt. Ich erhoffe mir natürlich, dass der Prozess auch in die umgekehrte Richtung geht: dass man auch lernt, den Koran als ein geschichtliches Dokument wahrzunehmen. So wie Sie es dargestellt haben, Sie zeichnen auch eine der Grundbedingungen der Entstehung des Korans auf der Arabischen Halbinsel im 7. Jahrhundert nach Christus nach: Der Koran ist wahrscheinlich auch in einer intensiven Begegnung mit Judentum und Christentum und deren Heiligen Schriften entstanden und kann verstanden werden als eine erste Reformation, um das Christentum und auch das Judentum zu universalisieren.

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