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Theologisches Seminar | Theologische und Religionswissenschaftliche Fakultät

«Gott schafft nicht nur Heil, sondern auch Unheil»

Ihr Vater hat schon das Alte Testament in 
Zürich gelehrt. Sind Sie mit Adam und Abraham sozusagen aufgewachsen?

Konrad Schmid: Nein. Als Kind habe ich keineswegs mit mehr Bibelkenntnissen brilliert als meine Schulkameraden.

Wie kam es, dass Sie dennoch in die Fussstapfen Ihres Vaters getreten sind?

Als Maturand habe ich langsam entdeckt, was mein Vater eigentlich macht. Und das hat mich interessiert. Vielleicht hat mir bei meiner Entscheidung auch geholfen, dass ich Hebräisch bereits auf dem Gymnasium gelernt habe.

Das Negativimage des Alten Testaments, dass bereits am Anfang Kain seinen Bruder 
Abel erschlägt, hat Sie nicht abgeschreckt?

Solche Geschichten haben mich überhaupt nicht verstört. Die Geschichte von Kain und Abel sagt nichts anderes, als dass Gott frei ist in seinem Handeln gegenüber den Menschen. Gott ist eben Gott, der sich unserer Vorstellungskraft entzieht. Es hätte mich irritiert, wenn die Bibel ein Bilderbuch einer heilen Welt gewesen wäre. Selbst als Kind wäre mir schnell klargeworden: Dies hat mit unserer Lebenswelt nichts zu tun.

Viele Kinderbibeln klammern den Brudermord als gewaltverherrlichend aus.

Das ist kurios. Jugendliche und Kinder können aufgrund ihres Medienkonsums ohne Weiteres mit Gewalt umgehen, und zwar auch kritisch. Ich finde gerade die Geschichten, die religiöses Debattieren in der Familie auslösen, bereichernd.

Auch Negatives soll dabei diskutiert werden?

Sicher. Dann wird man mit der grundsätzlichen Frage konfrontiert: Wie hat man sich das eigentlich vorzustellen, dass Gott nicht nur Heil, sondern auch Unheil schafft, wie es die Bibel selbst sagt (Jes 45,7)? Denn das Unheil kann nicht von Gott losgelöst werden, wenn man Gott als die alles bestimmende Wirklichkeit verstehen will.

Aber so Geschichten wie diejenige von der Opferung Isaaks können doch nur empören?

Wenn man diese Geschichte als eine Aufforderung liest, Väter sollten auf Geheiss Gottes hin Kinder töten, dann würde ich mit Immanuel Kant sagen: Nein, auf keinen Fall. Aber dass man diese Erzählung überhaupt so deutet, hat meines Erachtens mit ihrer aufklärerischen Rezeption zu tun. Denn die Aufklärer wollen sich von den biblischen Geschichten ethisch belehren lassen. Die Bibel ist indes kein Moralratgeber, sondern ein hermeneutisches Buch, welches das Leben verstehen will. Für ihre konkreten ethischen Anweisungen ist zu bedenken: Die Bibel ist über 2000 Jahre alt. Viele Sachen wissen wir heute besser.

Wenn auch manche Horrorszenarien das 
Gegenteil beweisen, ist es heute ethisch klar: Auf Gottes Befehl hin töten wir nicht!

Was die Geschichte von der Opferung von Isaak betrifft, so glaube ich, dass diese Geschichte nur von einem bestimmten Vater und von einem bestimmten Sohn erzählt werden kann. Über zehn Kapitel hinweg, von Genesis 12 bis 21, wird Abraham versprochen, dass er bald einen Sohn an seiner Seite haben und daraus eine riesige Nachkommenschaft erwachsen wird. Kaum ist der ersehnte Sohn da, soll er geopfert werden. Dahinter steht, dass Isaak das Bindeglied zwischen Abraham und der ihm gegebenen Verheissung ist. Das zeigt: Schon der Ahnvater Abraham war mit dem theologischen Problem der Verdunkelung der Verheissungen Gottes konfrontiert und hatte sich darin zu bewähren.

In meinem Religionsunterricht wurde die 
Geschichte als die Ablösung von Menschenopfern durch Tieropfer ausgelegt.

Eine weit verbreitete Erklärung. Religionsgeschichtlich ist sie nicht haltbar, da es in Israel keine Menschenopfer gab. Hinzu kommt, dass die Geschichte selber voraussetzt, dass Opfer Tieropfer sind: Isaak frägt beim Besteigen des Bergs Morijah seinen Vater nach dem fehlenden Opferlamm. Schliesslich wird Abraham explizit dafür gelobt, dass er bereit gewesen sei, seinen Sohn zu opfern.

Abraham und Isaak werden oft mit Gott und seinem Sohn Jesus gleichgesetzt. Ist es legitim, das Alte Testament als einen Text auszulegen, der auf das Neue Testament hinführt?

Historisch war es eine weise Entscheidung des frühen Christentums, Al-tes und Neues Testament gleich--berechtigt nebeneinander stehen zu lassen. Die beiden Schriften stehen in einem dialogischen Verhältnis zueinander. So ist es legitim, Linien vom Alten zum Neuen Testament zu zie-hen. Umgekehrt ist aber auch das Neue Testament vom Alten her zu lesen. Denn etwa für das Welt- oder Menschenverständnis bietet das Alte Testament grundsätzliche Aussagen, ohne die das Neue Testament leicht missverstanden werden könnte.

Das Dialogische zwischen beiden Schriften tritt einem mit den letzten Worten von Jesus am Kreuz «Mein Gott, mein Gott, warum 
hast du mich verlassen?» markant entgegen.

In diesem Zitat zeigt sich ein gemeinsamer Grundzug: Altes wie Neues Testament wollen uns keine Erfolgsgeschichte verkaufen. Ich glaube, dies ist letztlich der Grund dafür, dass das Judentum und das Christentum überhaupt noch existieren. Denn viele Religionen des Alten Orients mit ihren auf Siege abonnierten Gottheiten kennen wir nur noch aus dem Museum. Aber die Orientierung der Bibel an authentischen Erfahrungen hat sie zum meistgelesenen Buch der Menschheit gemacht.

Nicht den triumphierenden Jesus Christus, sondern den gemarterten Jesus ins Zentrum zu stellen, ist also entscheidend?

Genau dies ist die Leistung der Evangelien, die nicht nur den Auferstandenen verkünden, sondern auch den historischen Jesus in all seiner Angefochtenheit darstellen. Und dass Jesus am Kreuz den Psalm 22 betet, ist theologisch keineswegs nur ein Zeugnis der Gottverlassenheit: Der Psalm unterteilt sich in die drei Teile Klage, Bitte und Lob. So deutet Psalm 22 implizit einen Rettungshorizont an.

Die christliche Bibel hat das Alte Testa
ment von den Juden übernommen, aber die Bücher anders angeordnet. Warum?

Die Umstellung wurde deswegen vorgenommen, damit eine Brücke zwischen Altem Testament und Neuem Testament entsteht. Die christlichen Bibeln stellen die Prophetenbücher an das Ende des Alten Testaments. Dahinter steht die Auffassung, dass die Weissagungen der Propheten auf Jesus hindeuten.

Sie sagten einmal: Gott darf nicht als «Knecht der Gerechtigkeit» missverstanden werden. Haben die Reformatoren mit ihrem Gerechtigkeitsethos nicht Gott verzweckt?

Nein, die grundlegende Entdeckung der Reformation war ja, die Gerechtigkeit Gottes nicht juristisch – jeder bekommt das Seine –, sondern theologisch zu denken: Gott schenkt den Menschen seine Gerechtigkeit und macht sie so gerecht, ohne dass sie dies für sich selbst erwirtschaften müssten. Gerade in diesem neuen Verständnis von Gerechtigkeit – Gott macht gerecht und nimmt die Gerechtigkeit nicht einfach als Massstab – wird Gott nicht als Zweck missbraucht.

Hat Zwingli dies ähnlich gesehen?

Zwingli hat die Gottheit Gottes sehr stark betont: «Was aber Gott ist, das wissen wir aus uns ebenso wenig wie ein Käfer weiss, was der Mensch ist.»

Trotz der unüberwindbaren Kluft zwischen Mensch und Gott hat Zwingli den Zürcher Rat ermahnt, dass in der menschlichen Gerechtigkeit der Abglanz der göttlichen Ordnung durchschimmern soll – eine grosse Differenz zur deutschen Obrigkeitsreformation.

Das lässt sich nicht abstreiten: Zwingli und Calvin haben sozialethisch stark auf das Alte Testament abgestellt. Heute sehen wir das kritisch: Wer die Gesellschaft nach biblischem Vorbild, also nach -einem antiken Buch, gestalten will, erhält ein autoritäres und patriarchales System.

Da spricht der liberale Theologe.

Ja, liberale Theologie ist keine abgeschwächte Form von Theologie, im Gegenteil: Sie ist allergisch gegen alle Formen von religiöser Scharlatanerie und wehrt sich gegen Biblizismus und Dogmatismus. Keiner kann also für sich beanspruchen, im Namen Gottes zu sprechen.

Interview: Delf Bucher

Quelle: reformiert

Delf Bucher