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Theologisches Seminar | Theologische und Religionswissenschaftliche Fakultät

Cicely Saunders: «Es greift zu kurz, nur den Körper zu betrachten»

Bericht im "Pallnetz" zur Tagung «Spiritual Care im Fokus globaler Gesundheitspolitik».

Eine Tagung an der theologischen Fakultät in Zürich widmete sich dem Thema «Spiritual Care im Fokus globaler Gesundheitspolitik». Exakt am Tag der Veranstaltung wäre Cicely Saunders, die Gründerin der modernen Hospizbewegung, 100 Jahre alt geworden. Deshalb ging es auch um ihren Spiritualitätsbegriff.
 

Die britische Pflegefachfrau, Sozialarbeiterin und Ärztin Cicely Saunders gilt als wichtigste Wegbereiterin der modernen Hospizbewegung. Simon Peng-Keller, Professor für Spiritual Care in Zürich, liess in seiner Begrüssung vor ungefähr 70 Tagungsteilnehmenden am Ende Saunders selbst das Wort und spielte ein kurzes Video ab. Um einen schwerkranken oder sterbenden Menschen zu verstehen, müsse man seine Geschichte, seine Werte, seine Zugehörigkeit anschauen. Spiritualität sei mehr als nur religiöse Praxis, gehe tiefer als die Psychologie. Es gehe um das, was den Menschen ausmache, sagte sie. «Es greift zu kurz, nur den Körper zu betrachten.»

Saunders legte sich auf keine exakte Spiritualitätsdefinition fest, wie ihre deutschsprachige Biografin Martina Holder, die Pfarrerin in Riehen BS ist, als erste Referentin am Tagungsmorgen ausführte. «Sie entwarf auch kein fertiges theologisches oder philosophisches Konzept. Sie nahm die Patientinnen und Patienten mit ihren Prägungen ernst.» Dame Cicely Saunders – 1980 verlieh ihr die Queen den Adelstitel – habe ihren eigenen Spiritualitätsbegriff vor allem auf der Grundlage von Patientengeschichten gebildet, von denen sie Tausende für ihre Schmerzforschung sammelte. Modern daran war unter anderem, dass sie sich ebenso auf die Berichte von Angehörigen und Betreuenden abstützte. Sie prägte zum Beispiel den Begriff «Staff’s Spiritual Pain». Holder sagte: «Bemerkenswert, dass Saunders die systemische Sichtweise in die Begleitung hineintrug.»

Saunders liess sich für das St. Christopher’s Hospice, das sie 1967 im Süden London gründete offenbar auch von Institutionen in der Schweiz inspirieren. Martina Holder zeigte Fotografien von einem Besuch Saunders in Grandchamp am Neuenburgersee im Jahr 1961. In dieser Communauté leben noch heute Nonnen verschiedener Konfessionen und Länder zusammen. Cicely Saunders habe sich zwar der christlichen Spiritualität und vor allem ihrem zentralen Begriff der Liebe zugewandt, sagte Holder. Der christliche Glaube habe aber vor allem zu einer Haltung der Offenheit geführt. Die Auffassung von Spiritual Care mit Rückbezug auf die christliche Tradition einerseits, die universale Offenheit für alle Menschen andererseits überlappten sich bei ihr, es gab Schnittflächen.

Gelebte Spiritualität habe für die Hospizgründerin in erster Linie bedeutet, Raum zu schaffen als «Grundlage einer vertrauensvollen Beziehung oder einer Weggemeinschaft». Sie habe die Patientinnen und Patienten nicht primär als Kranke gesehen, sondern als Menschen, denen sie diesen «space» bot. Sie sah ihr Hospiz denn auch als «Herberge für Pilgernde», in dem das Gegenüber trotz seiner zum Tod führenden Krankheit dabei unterstützt werden kann, Hoffnungs- und Heilvolles zu erleben.

Neben Holder gehörte auch Simon Peng-Keller zu den Veranstaltern der diesjährigen Tagung. Er stellte sein aktuelles Forschungsprojekt vor, in dem er untersucht, wie die Weltgesundheitsorganisation WHO dazu kommt, sich mit Spiritualität zu beschäftigen. In der Präambel von 1946 war von einer spirituellen Dimension der Gesundheit noch nicht deutlich die Rede. Es hiess lediglich: «Health is a state of complete physical, mental and social well-being.» Ob im Begriff «mental» auch eine spirituelle Komponente enthalten ist, bleibt unklar. Das «dualistische Modell von materiell und spirituell» sei jedoch immer präsent gewesen, zum Beispiel in einer Rede von Bundesrat Philipp Etter vor der ersten Weltgesundheitsversammlung 1948.

Verschiedene Exponenten, etwa WHO-Generaldirektor Halfdan Mahler, der dieses Amt von 1973 bis 1988 innehatte, aber auch Vertreter muslimischer Länder machten sich dafür stark, in einer Gesundheitsdefinition den spirituellen Aspekt einzubeziehen, führte Peng-Keller aus. Allen voran die Golfstaaten kritisierten, dass der westlichen Medizin die spirituelle Dimension fehle.

1984 verfasste die WHO unter der Federführung Mahlers schliesslich eine Resolution, die den Mitgliedstaaten vorschrieb, in ihre Gesundheitspolitik auch eine spirituelle Dimension einzubeziehen. «Spirituell» trage in diesem Text drei unterschiedlichen Bedeutungen, führte Peng-Keller aus: Erstens grenzt es sich von «religiös» ab. Gerade kommunistische Staaten hätten sich sonst dem Einbezug dieser Dimension verweigert. Zweitens bezeichnet «spirituell» das Gegenteil von «materiell». Die WHO vertiefte also ihr eigenes Verständnis von Gesundheit. Drittens meint es auch das Gegenteil von «egoistisch», knüpft an altruistische Form der Selbsttranszendenz an. «Die Idee eines Rechts auf Gesundheitsversorgung wurde mit einem spirituell geöffneten Verständnis des Menschen verknüpft.»

Mit einem Feuerwerk an klugen Überlegungen und interessanten Modellen schloss die katholische Theologin Hille Haker, die in Chicago lehrt und forscht, den Morgen ab. Sie baute eine Art Brücke zum Nachmittag, an dem dann Expertinnen und Experten über ihre Erfahrungen mit Spiritual Care auf verschiedenen Kontinenten berichteten.

Haker beschäftige sich mit den Zusammenhängen von Spiritual Care, Medizinethik und Ethik. Sie führte in einem kurzen geschichtlichen Abriss vor Augen, dass in der antiken Medizin Pfarrer und Ärzte gar nicht so weit voneinander entfernt waren. «Priester und Nonnen galten als Heiler der Seele.» Ausserdem hielt sich eine der grossen religiösen Erzählungen (der «grand narratives») über die Jahre hinweg, nämlich dass «Leiden allein zur Erlösung führt, dass es ohne Leiden kein Heil gibt».

In der frühen Moderne etablierte sich die Anatomieforschung, der Körper und einzelne Körperteile wurden anhand ihrer Funktionen definiert. Damals zog der Dualismus von materiellem Körper und immaterieller Seele ins Gedankengut ein. Die Medizin wird in der Folge zu einer Interventionsmedizin. Die Medizinethik reagierte darauf, indem sie sagte, man müsse aber bitte den Patienten, die Patientin in den Mittelpunkt stellen.

Heute besteht die Medizin aus Intervention und Interaktion. Spiritual Care hingegen sei vor allem Interaktion, selten auch Intervention, wenn man beispielsweise an «Spiritual Healing» denke, an fernöstliche Therapieformen wie Reiki oder an zweifelhafte religiöse Interventionen wie Exorzismen. Konfessionelle Seelsorge binde zudem immer auf eine Gemeinschaft und ihren Glauben zurück.

Schliesslich kam Haker zu folgender Defintion dafür, was Spiritual Care oder eben Seelsorge sein soll: «Seelsorge und Spiritual Care müssen von der Krankheitserfahrung ausgehen und die Sorge um und für die geistige Verarbeitung von Leiden und Krankheit als intersubjektive Verantwortung fassen.»

Diese Ansicht hätte Cicely Saunders bestimmt unterschrieben. Sie hätte es aber vermutlich mit einfacheren Worten gesagt.

 

Quelle: pallnetz.ch