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Letzte Woche fand in Zürich eine Forschungstagung zum Thema «Erzählen am/vom Lebensende» statt. Theologinnen, Ärzte, Literaturwissenschaftlerinnen und Philosophen tauschten ihre Erfahrungen über Geschichten vom Sterben aus. Dabei zeigte sich: Patientinnen und Patienten sagen Vieles zwischen den Zeilen.
«Die Patientin brach in Indianergeheul aus, wenn Ärzte ihr ihre Diagnose eröffnen wollten», sagte Wolfgang Drechsel. Der Theologie-Professor aus Heidelberg gab am vergangenen Freitag in seinem Referat «Sterbenarrative aus der Sicht klinischer Seelsorge» verschiedene Fallbeispiele zum Besten. Das erste handelte von einer Patientin, die partout nicht über ihren bevorstehenden Tod sprechen wollte. Nach den Ärzten habe die Seelsorgerin ihr Glück bei der Dame versuchen müssen. Auf ein Gespräch mit ihr liess sich die Patientin zwar ein, sie wollte aber ausschliesslich über Literatur sprechen; genauer über «Effi Briest» und «Lotte in Weimar». Ihren Tod erwähnte sie in mehreren Gesprächen nur ein einziges Mal, im Satz «Ich trinke Champagner bis zum Schluss». Nach dem Tod der Patientin stellte sich heraus, dass diese ihren Kindern berichtet hatte, sie könne mit der Seelsorgerin «über alles» reden. Es gebe Patientinnen und Patienten, so Drechsel, die redeten übers Sterben, ganz ohne übers Sterben zu sprechen. Die Beschäftigung mit einem Thema, an dem das Herz der oder des Betroffenen hänge – in diesem Fall mit Literatur – diene der Selbstvergewisserung und gehöre zu den Sterbenarrativen 2. Ordnung. Sie bezeichnen ein indirektes Sprechen über den Tod.
Wichtig sei es, dass die Seelsorgenden der Patientin oder dem Patienten ein offenes Gesprächsangebot machen, sagte Drechsel. Es dürfe keine Absicht dahinter stecken. «Die Seelsorge will nichts.» Man müsse den Betroffenen Wertschätzung entgegenbringen und dürfe das Vorschuss-Vertrauen geniessen, das man als Seelsorger erhalte. Gleichzeitig könnten unheilbar Kranke auch abgeschreckt werden vom Besuch der des Pfarrers. Im Stil von: «Ist es schon Zeit für die letzte Ölung?» Das Sprechen vom eigenen Sterben finde immer in einem krisenhaften Moment statt: im Kontext der Diagnose, des «Austherapiertseins» oder des tatsächlichen Sterbens. Palliativpatientinnen und -patienten würden zudem eher in akuten Schmerzphasen übers Sterben sprechen.
Geschichten aus dem Schützengraben
Häufig schickten Patientinnen und Patienten potenziellen Gesprächspartnerinnen und -gesprächspartnern in einem anderen Zusammenhang Testfragen voraus, eine Art rudimentäre Sterbenarrative. Ihr Zweck ist es, laut dem Theologen, zu fragen: «Erweist du dich in deiner Antwort als Mensch, der mich wirklich ernst nimmt?» Manchmal deponiert der Patient auch seine eigenen Gefühle im Gegenüber. Er provoziert den Seelsorger, damit sich dieser ebenfalls «hilflos und ohnmächtig» vorkommt. Drechsel nannte dies «Gefühlstransplantation». Bekannt ist auch das lebensgeschichtliche Erzählen: Alte Männer etwa, die in einem Krieg gedient haben, erzählten vor dem Sterben oft vom Schützengraben. «Der Blick in die Vergangenheit erweist sich dann als Zukunftsentwurf.»
Manchmal berichten Patientinnen und Patienten – oft verschämt - von Träumen, in denen sie ihr eigenes Sterben erleben. Häufig heisst es im Traum dann: Es ist noch nicht an der Zeit. In den Erzählungen zeigen sich auch die individuellen Vorstellungen vom Jenseits. Viele begegnen darin Familienmitgliedern, Freundinnen oder auch Haustieren. Eine todkranke Frau zum Bespiel, die mit ihrer Schwester ein Leben lang gestritten hatte, bis diese starb, sagte vor dem eigenen Sterben, sie freue sich auf das Wiedersehen mit ihr. Weshalb? «Wenn wir uns sehen, werden wir uns streiten bis ins Jenseits.» Nicht jede Patientin oder jeder Patient «kann mit dem Sterben leben», sagte Drechsel. «Die Akzeptanz, die Stimmigkeit stellt sich manchmal eben auch nicht ein.» Im Sterben fielen Dinge auseinander. Der Moment repräsentiere Bedrohlichkeit und Kontrollverlust. «Als Seelsorgerin oder als Seelsorger muss man in einem solchen Moment eine vertrauensvolle Beziehung aufbauen können, die den Betroffenen trägt.»
Die interdisziplinäre Veranstaltung am theologischen Seminar fand im Rahmen des Schweizer-Nationalfonds-Projekts «Hermeneutik des Vertrauens am Lebensende – Imaginatives Erleben und symbolische Kommunikation in Todesnähe» statt. Es ist Teil des Nationalen Forschungsprogramms NFP 67 «Lebensende» und wird von Simon Peng-Keller, dem neuen Professor für Spiritual Care geleitet.
Sterben wünschen, Leben wollen
Ebenfalls zum NFP 67 gehört die Forschungsgruppe um Heike Gudat. Die Palliativmedizinerin und ihre Kolleginnen und Kollegen ergründeten Sterbewünsche von Palliativpatientinnen und -patienten. Die Frage, die sie dabei antrieb, lautete: Was meinen die schwer kranken Menschen, wenn sie sagen, dass sie sterben möchten? In qualitativen Interviews wurden Patientinnen und Patienten zu ihrer Lebenssituation und –qualität, zu ihren Haltungen, Sorgen und Bedürfnissen befragt. «Sterbewünsche sind komplex und dynamisch», sagte Gudat, leitende Ärztin im Hospiz im Park in Arlesheim.
Aus den Antworten gewannen die Forschenden eine Struktur aus Absichten, Gründen, Haltungen und Funktionen von Sterbewünschen. Absichten können zum Beispiel sein, eigentlich einen Lebenswunsch auszudrücken, das Sterben zu akzeptieren, das Sterben zu wünschen – und entweder zu beschleunigen oder nicht – sowie das Sterben zu wollen. (Wollen impliziert im Gegensatz zum Akzeptieren und Wünschen eine Handlung.) Die Haltung, mit der jemand einen Sterbe- oder Lebenswunsch äussert, kann sein: Man will sein Leben vollenden. Man will den natürlichen Lauf nicht aufhalten. Man will die Kontrolle behalten. Man hofft auf ein Leben nach dem Tod. Oder man empfindet das Leben als Last. Oder man fühlt sich selbst als Belastung für sein Umfeld.
Das Erzählen vom Lebensende beruhe auf Fakten und erfundenen Storys, sagte Gudat. Darin ambivalent zu sein, sei normal. Schliesslich handle es sich um eine instabile und bedrohliche Situation. Das Erzählen könne Sinn zurückgeben, Bedeutung für die eigene Identität haben und einem am Lebensende nicht zuletzt Handlungsspielraum zurückgeben. Es helfe einem, über den Übergang nachzudenken. Für Fachpersonen, die mit Palliativpatient_innen zu tun haben, sei also eine aktive und offene Kommunikation essenziell. Die Frage bleibe aber offen, «wie wir Patientinnen und Patienten begegnen, die die Sprache nicht als Medium zur Verfügung haben oder kognitiv eingeschränkt sind».
Quelle: palliative zh+sh, sa