Simon Peng-Keller zog in der Schlussveranstaltung das Fazit: «Sie hatten in diesem Kurs die besten Dozentinnen und Dozenten, die die Universität Zürich zu bieten hat.» Damit lobte der Professor für Spiritual Care nicht etwa sich selbst und seine Kolleginnen Silvia Köster und Rahel Rodenkirch, die das Modul «Spiritual Care» ein Semester lang angeboten hatten. Sondern er sprach von den Patientinnen und Patienten.
Die Teilnehmerinnen wurden in dieser Lehrveranstaltung nämlich persönlich ziemlich gefordert: Sie hatten die Gelegenheit, eine schwerkranke Person oder ihre Angehörigen zu begleiten. In fünf Gesprächen sollten sie «die Herausforderungen der jeweiligen Krankheits- oder Lebensend-Situation und die mit ihnen verbundenen spirituellen Fragen aus der Perspektive der Patientinnen und Patienten verstehen lernen», stand in der Ausschreibung.
Anaëlle Dentand besuchte ihren Gesprächspartner* in einem Pflegeheim. Die 20-Jährige erlebte etwas, das sie stark bewegte: Der 75-jährige Mann war an einem Unterleibskrebs erkrankt und erwies sich als sehr religiös. Es kam der Medizinstudentin vor, als sitze sie ihrem Opa gegenüber. Dieser war vor sechs Jahren an derselben Krankheit gestorben und ebenfalls überzeugter Christ gewesen. «Diese Parallelen haben mich überfordert. Ich hatte diesen Verlust noch nicht verdaut. Da ich nahe am Wasser gebaut bin, fürchtete ich, dauernd in Tränen auszubrechen.»
Beim zweiten Gespräch hatte sie sich aber so weit gefasst, dass sie sich abgrenzen konnte, wie sie in der Schlussveranstaltung erzählte. Die Gespräche, die sie mit diesem Patienten führte, seien lebendig, interessant und lehrreich gewesen. Der Mann breitete sein ganzes Leben vor ihr aus. Da sie sich in religiösen Belangen nicht kompetent fühlte, stellte sie ihm Fragen kurzerhand Fragen zu seiner Spiritualität, über die er gerne Auskunft gab. Ihre Gespräche dauerten fast immer 90 Minuten.
Das Modul «Spiritual Care» richtet sich sowohl an Studierende der Medizin als auch der Theologie und ist freiwillig wählbar. Von den zwölf Studentinnen in diesem Semester – der Kurs wurde dieses Mal ausschliesslich von Frauen belegt – war eine Theologie-Studentin. Die Teilnehmerinnen sollten sich vor allem kommunikative Fähigkeiten erarbeiten, die es ihnen ermöglichen die spirituellen Bedürfnisse und Nöte von Patientinnen und Patienten zu verstehen und anzusprechen. Sie sollten aber auch Klarheit darüber erlangen, «wo man selbst steht bezüglich seiner Endlichkeit», sagte Peng-Keller.
Annatina Bandli, die sich freiwillig mit existenziellen und spirituellen Fragen auseinandersetzt, ist unter Medizinstudierenden wohl eher die Ausnahme. Sie engagiert sich zum Beispiel in einem freiwilligen Tutorat, wo die Themen Tod und Sterben auch schon zur Sprache kamen. Die 24-Jährige weiss noch nicht, welche Fachrichtung sie im Studium einschlagen wird. Ihre Interessen sind breit gefächert: In Frage kämen für sie Psychiatrie, Neonatologie oder Onkologie.
Bandli traf während ihrer Begleitung auf eine Künstlerin*, die «reflektiert war und eine ähnliche Art hatte, ihre Spiritualität zu leben wie ich». Die beiden trafen sich jeweils im Atelier der Patientin, die noch ziemlich fit war. Von dort aus unternahmen sie Spaziergänge. Die 60-Jährige hatte vor einem Jahr die gravierende Diagnose Bronchuskarzinom erhalten. Obwohl sie ziemlich dünn gewesen sei, habe man ihr die Krankheit nicht angesehen, erzählte die Studentin. «Sie war immer aufgestellt und hat gestrahlt.» Ihr und ihrer Familie sei die Tragweite ihrer todbringen Erkrankung bewusst gewesen, dennoch habe in ihrem Zuhause keine «tötelige» Stimmung geherrscht. Für die Studentin eine positive Erfahrung: «Eine gravierende Diagnose muss nicht heissen, dass danach das ganze Leben schlimm ist.»
«Wir führten einen Dialog auf Augenhöhe», erzählte die Medizinstudentin. Die Gesprächspartnerin wuchs ihr mit der Zeit ans Herz und sie fürchtete sich vor dem Abschied. Vorgesehen waren fünf Gespräche. Sie hatte sich deshalb sogar überlegt, der Patientin anzubieten, sie in ihrem ganzen Sterbeprozess zu begleiten. «Dank des Reflexionsrahmens in diesem Kurs wurde mir aber bewusst, dass das mein Bedürfnis ist und nicht ihres.» Die Patientin sei nämlich rundum abgedeckt und gut betreut. «Ich tendiere stets dazu, mich zu fest zu involvieren. Es war gut, meine eigenen Grenzen zu spüren.»
Beiden Studentinnen half die Übungsanlage also stark, ihre professionelle Rolle zu klären. Sie schätzten den geschützten Rahmen dieses Kursangebots. Supervisionsgespräche mit erfahrenen Palliativmedizinern wie Roland Kunz, Susanne Hedbom, Markus Minder, Christel Nigg oder Stefan Obrist sowie Gesprächsdokumentationen und reflektierendes Schreiben halfen ihnen, ihre in dieser Begleitung einer schwerkranken Person gesammelten Erfahrungen zu beurteilen. «Die Übungssituation erlaubte auch, Fehler zu machen», sagte Studentin Anaëlle Dentand.
Als sie «ihren» Patienten zum vierten Mal im Pflegeheim besuchte, ging es ihm bereits sehr schlecht. Er konnte seine Zunge kaum mehr bewegen und bat sie, seine Kinder über seinen schlechten Zustand zu informieren. Da die Studentin die Angehörigen telefonisch nicht erreichen konnte, schrieb sie ihnen im Auftrag des Patienten eine SMS.
Zum fünften Gespräch kam es nicht mehr: Der Mann verstarb kurz zuvor. «Mich tröstete das Wissen, dass dank meiner Nachrichten die Kinder ihren Vater noch einmal besuchen konnten. Und ich empfand den Tod zum ersten Mal als nichts Negatives: Mein Patient hatte mit dem Leben abgeschlossen, freute sich als gläubiger Mensch auf das Jenseits und ihm blieb weiteres Leiden erspart. Das war auch für seine Familie eine Erleichterung.» Im Nachhinein habe ihr diese Erfahrung sogar geholfen, über den Verlust ihres Grossvaters hinwegzukommen. «Ich glaube nicht an Zufälle», sagt sie.
Die Teilnehmerinnen mussten im letzten Kurs einen Selbstreflexions-Fragebogen zu Spiritualität & Religiosität ausfüllen, zum Beispiel zur Frage, ob Spiritualität/Religiosität einen Einfluss auf die körperliche oder seelische Gesundheit haben können. Im Plenum gaben mehrere Studentinnen an, zwar ihre eigene spirituelle Einstellung im Laufe des Kurses nicht geändert zu haben. «Aber ich kann jetzt besser definieren, was Spiritualität ist. Nämlich etwas, woraus Menschen Kraft zu leben schöpfen können», sagte eine Studentin. Eine zweite ergänzte, ihr sei geblieben, dass die Ärztinnen und Ärzte in den Supervisionen geraten hätten, Palliativpatientinnen und -patienten genau nach diesen Ressourcen zu fragen. Mehrere gaben an, sich jetzt kompetenter zu fühlen, solch schwierige Gespräche zu führen.
Gegen 40 Prozent der Patientinnen und Patienten, die die Studentinnen begleiten durften, starben noch während des Semesters. Annatina Bandlis Patientin hingegen lebt noch. «Sie sagte von sich aus, es würde sie freuen, wenn unser Kontakt nicht abreissen würde», erzählte die Studentin lächelnd.
* Die Patient_innen wurden zwecks Anonymisierung verfremdet.