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Theologisches Seminar | Theologische und Religionswissenschaftliche Fakultät

Simon Peng-Keller ist der erste Schweizer Dozent für Spiritual Care

Simon Peng-Keller hat seit kurzem an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich die erste Professur für Spiritual Care inne. Wir wollten von ihm wissen, welche Inhalte er vermitteln möchte und welche Voraussetzungen er für diese Aufgabe mitbringt.

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palliative ch: Herr Professor Peng-Keller, lassen Sie uns – da es um Spiritual Care geht – mit einer vielleicht schwierigen Frage beginnen: Was genau ist eigentlich Spiritualität?

Simon Peng-Keller: Das kommt darauf an, ob man diese Frage innerhalb oder ausserhalb der Theologie beantwortet. Im christlich-theologischen Kontext, dem der Begriff entstammt, bedeutet Spiritualität «geistbestimmtes Leben», genauer gesagt vom Heiligen Geist inspiriertes Leben – also ganz im paulinischen Sinne, nehmen Sie etwa die Aussagen im Römer-Brief, Kapitel 8. Dabei geht es sowohl um spezifische Erfahrungen als auch um eine konkrete Lebenspraxis. In einem nicht-theologischen, wesentlich weiter gefassten Sinne kann man Spiritualität als einen Lebensmodus der Selbst-Transzendenz bezeichnen. Der Kontrastbegriff dazu wäre dann ein materialistischer und egozentrischer Lebensstil. Spiritualität ist in diesem Sinne also ein altruistisch geprägter Lebensentwurf, die Suche nach einem umfassenden Sinn.

 

Gibt es also auch Spiritualität ohne Religion?

Es gibt viele respektable Ansätze einer Spiritualität jenseits der Religionen, man denke etwa an die Philosophie Platons, die Stoa oder in gewisser Weise auch den Zen-Buddhismus. Es gibt eine ars spiritualis, die sich nicht religiös versteht. Es gibt also durchaus einen Lebensvollzug, der sich auf einen grösseren Sinnhorizont ausrichtet, ohne dabei in einem spezifischeren Sinne religiös zu sein.

 

Gilt dieser nicht-religiöse Spiritualitätsbegriff auch für die Spiritual Care?

Bei der Spiritual Care ist die Rede von Spiritualität sogar noch einmal weiter gefasst, da die Spiritual Care nicht eine bestimmte spirituelle Praxis wie etwa geistliche Übungen oder Meditation voraussetzt, sondern es darum geht, Menschen in extremen Situationen wie Krankheit, Sterben und Tod abzuholen und sie in ihrem Leiden ganzheitlich zu begleiten. Hier sind sozusagen auch Vorformen von Spiritualität im Blick. Auch Menschen, die sich vielleicht vorher nicht als spirituell bezeichnet haben, können spirituelle Bedürfnisse entwickeln oder von spirituellen Fragen umgetrieben sein, wie derjenigen, was der Sinn ihres Lebens und Leidens ist.

 

Spiritual Care setzt also keine spirituelle Praxis voraus …

Im Einzelfall nicht unbedingt. Ohne lebendige spirituelle Traditionen ausserhalb des klinischen Bereichs würde sich Spiritual Care jedoch auf einem sehr dünnen Fundament bewegen. Spiritual Care ist allerdings nicht mit einer Anleitung zu einer spirituellen Praxis zu verwechseln, auch wenn sie gelegentlich auch das umfassen kann. Auf Seiten der «Caregiver» geht es zunächst einmal einerseits um Grundhaltungen wie Mitgefühl und Respekt und andererseits um eine Wahrnehmungskompetenz: um einen Sinn für Sinnfragen. Diese Haltungen und Kompetenzen sind bei jedem Patienten angebracht, egal, wo er oder sie spirituell steht. Auf der Patientenseite finden wir ein breites Spektrum zwischen hochreligiösen Menschen, die etwa nach einer ganz bestimmten Form von Unterstützung wie z. B. einer Krankensalbung verlangen, bis hin zu spirituell eher indifferenten Menschen, die sich aber in der Situation ihrer schweren Krankheit mit Sinnfragen konfrontiert sehen.

 

Ich höre heraus, das Spiritual Care an Palliative Care gekoppelt ist: Es geht um Menschen mit schweren Erkrankungen, die potenziell tödlich sind. Oder ist das ein zu enger Begriff von Spiritual Care?

Sofern man auch den Begriff der Palliative Care entsprechend weit fasst und auch bei kurativen Behandlungen eine palliative Komponente möglich ist, kann man von einer engen Verbindung zwischen Spiritual Care und Palliative Care ausgehen. Spiritual Care sollte jedoch nicht auf den professionellen Bereich eingehegt werden. Auch Angehörige und Nahestehende der Patientinnen und Patienten können zum Spiritual-Care-Giver werden. Faktisch geschieht das oft, ohne dass die Betreffenden den Begriff Spiritual Care verwenden.

 

Wo liegt denn jetzt der Unterschied zur traditionellen kirchlichen Spitalseelsorge?

Die Spitalseelsorge ist eine spezifische Form der Spiritual Care, die auch weiterhin sehr wichtig ist. Der Unterschied liegt darin, dass Spiritual Care ausdrücklich als eine interprofessionelle Aufgabe wahrgenommen wird. Sie bedarf eines Zusammenspiels von Seelsorgenden, Ärztinnen und Ärzten, Pflegenden, der Psychoonkologie und Sozialarbeiter. Von der Sache her ist auch das nicht neu, doch wird es nun unter dem Leitwort «Spiritual Care» konsequenter institutionell verankert.

 

Spiritual Care ist also keine Konkurrenz für die klassische kirchliche Spitalseelsorge?

Das kommt darauf an, wie sich die Verhältnisse in der Schweiz entwickeln werden. In Holland gibt es eine solche Konkurrenzsituation. Dort herrscht ein freier Markt der Anbieter von Spiritual Care. Letztlich entscheidet dann die jeweilige Institution, also beispielsweise das Spital, welche Anbieter von Spiritual Care zugelassen werden. Das dürfte dann wohl auch nicht selten mit Kostenfragen verbunden sein. Im Moment haben wir in der Schweiz noch eine ganz andere Situation, es muss auch nicht in diese Richtung gehen. In den USA, um ein anderes Beispiel zu nennen, haben sich Modelle von Spiritual Care etabliert, in denen die kirchliche Seelsorge sehr gut integriert ist.

 

Sie haben jetzt die Professur für Spiritual Care inne. Was bringen Sie als Voraussetzungen dafür mit?

Es gibt eine wissenschaftliche und eine praktisch-seelsorgliche Linie, die mich in meine aktuelle Aufgabe hineingeführt haben. Mein wissenschaftliches Schwerpunktgebiet, in dem ich habilitiert habe, ist die Theologie der Spiritualität.
In den letzten Jahren bekam die Spiritualität im Kontext von Gesundheit, Krankheit und Lebensende eine immer grössere Bedeutung in meiner Forschungstätigkeit. Die praktisch-seelsorgliche Linie geht biografisch weit zurück: Meine Berufsoptionen nach der Matura waren Pflege, Medizin oder Theologie. Ich habe mich zunächst in der Pflege ausprobiert, mich dann aber für die Theologie entschieden mit einem  besonderen Interesse für Seelsorge am Lebensende. Und jetzt kommt das beides zusammen.

 

Und wie kam es zu dieser Professur?

Die Initiative ging meines Wissens von der römisch-katholischen Landeskirche Zürich aus. Sie konnte die evangelischreformierte Landeskirche Zürich für das Projekt gewinnen, so dass nun beide die Professur für zunächst einmal sechs Jahre finanzieren. Die Professur ist der Theologischen Fakultät angegliedert und arbeitet in einer festen Kooperation mit der Medizinischen Fakultät zusammen. Ich werde an beiden Fakultäten unterrichten und auch interdisziplinäre Forschung betreiben.

 

Spiritual Care ist also kein eigenständiges Fach?

Es ist ein interdisziplinäres Fach- und Forschungsgebiet innerhalb bereits bestehender Ausbildungs- und Forschungsfelder. Was das Studium betrifft, ist Spiritual Care im Moment ein Wahlfach der Theologie und ein Wahlpflichtfach der Medizin. Ich fände es nicht besonders sinnvoll, Spiritual Care jenseits bestehender Ausbildungsgänge zu konzipieren – mein Wunsch geht dahin, dass sie stärker ein Teil der Medizin und Theologie wird.

 

Was sind die Lehrinhalte?

Zum einen gibt es ein Forschungsseminar, das bereits begonnen hat und sich mit Sterbenarrativen beschäftigt, einem Thema, dem auch unser Fortsetzungsprojekt im Rahmen des NFP 67 «Lebensende» gewidmet ist. Zum anderen gibt es ab diesem Semester ein Wahlpflichtangebot für Theologie- und Medizinstudierende. Es soll ihnen erste und reflektierte Erfahrungen in der Begleitung Schwerkranker und Sterbender ermöglichen. Das Lehrpensum beträgt drei Semesterwochenstunden, was einer 50 %-Professur entspricht.

 

Was ist der «Mehrwert», wenn man Sie hört?

Innerhalb vom Medizinstudium gibt es nach meiner Wahrnehmung zu wenige Angebote, die den unmittelbaren Kontakt zu Schwerkranken und Sterbenden zulassen und in denen man lernen kann, in anspruchsvollen Gesprächssituationen auch spirituelle Aspekte anzusprechen. Man kann sich in dem geplanten Modul also Kompetenzen in einem Bereich erwerben, der später für viele Sparten des Mediziners von Bedeutung ist. Ähnlich ist es in der Seelsorge, auch da bestehen während des Studiums nicht so viele Möglichkeiten, sich in direktem Kontakt mit schwer kranken Menschen auf zukünftige seelsorgliche Aufgaben vorzubereiten.

 

Vielen Dank für dieses Gespräch und viel Erfolg!

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Quelle: palliative.ch

 

Christian Ruch