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Theologisches Seminar | Theologische und Religionswissenschaftliche Fakultät

Was heisst eigentlich «Spiritual Care»?

Seit Oktober 2015 gibt es ein neues Lehrfach an der Universität Zürich: Spiritual Care. Der Lehrstuhl wird von beiden Landeskirchen finanziert. Doch was verbirgt sich hinter dieser Bezeichnung genau? Wir haben dem ersten ordentlichen Professor für Spiritual Care, Simon Peng-Keller, zehn Fragen zu seinem Fach gestellt.

Simon Peng-Keller, bisher kannte man vor allem den Begriff Palliative Care, aber sie betrifft nur den physischen Menschen, oder?
Nicht allein. Palliative Care umfasst neben der Sorge um die physischen Nöte und Bedürfnisse von schwer erkrankten Menschen auch die psychische, soziale und spirituelle Dimension. In diesem Sinne wird Palliative Care auch vom Bundesamt für Gesundheit vertreten. Spiritual Care ist ein vertiefendes Moment von Palliative Care.


Spiritual Care heisst spirituelle Sorge oder Pflege – wie
lässt diese sich abgrenzen von der Spitalseelsorge?

Spitalseelsorge ist eine spezifische Form von Spiritual Care. Spitalseelsorger sind die Spezialisten für Spiritual Care. Diese kann jedoch in je professionsbezogener Weise auch von Ärzten und Ärztinnen, Pflegefachleuten, Psychologen und Sozialarbeitern wahrgenommen werden. Ein wichtiger Punkt dabei ist die fachübergreifende Zusammenarbeit. Das erfordert klare Rahmenbedingungen und eine gute Kommunikationskultur.

Seit wann gibt es denn Spiritual Care überhaupt?
Als interprofessionelle Aufgabe in einem säkularen und pluralistisch geprägten Umfeld ist Spiritual Care ein relativ neues Praxisfeld. Es hat sich in den letzten Jahrzehnten insbesondere im Rahmen der Hospizbewegung und der Palliative
Care entwickelt. Der Sache nach gab es Spiritual Care allerdings schon viel früher. Die Aufgabe, kranke und sterbende Menschen auch spirituell zu begleiten, wurde von Seelsorgern, Ärzten, Krankenschwestern auch in früheren Epochen
wahrgenommen. In der durch naturwissenschaftliche Forschung und technologische Entwicklungen bestimmten Medizin des 20. Jahrhunderts trat dieser Aspekt stark in den Hintergrund. Spiritual Care ist ein Versuch, etwas Verlorengegangenes wieder in die professionelle Unterstützung von Kranken und Sterbenden einzubinden.


Wie wurde man bis anhin ausgebildet, zum Beispiel auch Sie selbst?
Das Theologiestudium vermittelt breites Hintergrundwissen. Die spezifischen Themen von Spiritual Care haben besonders in der Praktischen Theologie ihren Ort. Für mich selbst war die Vertiefung in die Theologie der Spiritualität
prägend. Was die praktische Ausbildung angeht, gibt es seit vielen Jahrzehnten das Clinical Pastoral Training, das viele Anliegen von Spiritual Care vorwegnahm. Es entwickelte sich zunächst in den USA und erreichte dann über die Niederlande in den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts die Schweiz. Für mich selbst war es ein äusserst hilfreicher Einstieg in die Welt klinischer Seelsorge.


In welchen Zusammenhängen haben Sie selbst Spiritual Care praktiziert?
Meine ersten Erfahrungen in der Spitalseelsorge machte ich in der Psychiatrie. Darauf folgten Erfahrungen in einem Akutspital und in mehreren Altersheimen.

Aber zuvor muss es ja einen Beweggrund gegeben haben, der Sie zur Spiritual Care gebracht hat?
Vor meinem Theologiestudium hatte ich mir überlegt, Medizin zu studieren. Ich habe daraufhin ein Pflegepraktikum gemacht. Die Erfahrung, beim Sterben eines Menschen dabei zu sein, hat mich stark bewegt. Seither habe ich eine Affinität
zur klinischen Welt.

Reagiert Spiritual Care nur auf die Ängste und Fragen Todkranker in Bezug auf das Sterben und das Danach – oder generell auf Sinnfragen?
Spiritual Care ist nicht nur in Lebensendsituationen gefragt, auch wenn sie dort am dringlichsten ist. Es geht dabei besonders darum, genau hinzuhören und wahrzunehmen, was jemanden umtreibt. Aufgabe der Begleitpersonen ist es, einen sicheren Raum anzubieten, Erzählräume zu eröffnen und offen zu halten. Erzählen kann helfen, sich von bedrängenden Erlebnissen zu distanzieren, sie zu ordnen und verschüttete Ressourcen zugänglich zu machen.

Aber ist Spiritual Care als akademisches Fach an der Universität am richtigen Ort?
Will man Spiritual Care gut im klinischen Feld verankern, ist es nötig, sie in den medizinischen, seelsorgerlichen und pflegerischen Ausbildungsgängen in angemessener Weise zu verorten. Zugleich braucht es auch gute Forschung. Wissenschaftliche Forschung trägt zum besseren Verstehen dieses Praxisfeldes bei. Gerade ein neues Lehrfach muss sich darum bemühen, auch eigene Forschungsansätze zu entwickeln.


An Studierende welcher Disziplinen richtet sich das Lehrangebot? Ist es obligatorisch oder nur fakultativ?
Das Lehrangebot an der Universität Zürich richtet sich zunächst an Medizinund
Theologiestudierende. Darüber hinaus wird ein Forschungsseminar angeboten, das auch für Doktoranden aus anderen Fakultäten offen steht. Es handelt
sich dabei um Angebote im Wahlpflicht und im Wahlbereich.


Ist das Sinnkonzept christlich – der Lehrstuhl wird ja von den beiden Zürcher Landeskirchen finanziert – oder kann man Spiritual Care auch als Nichtchrist vermitteln?
Für Spiritual Care brauchen professionelle Begleitpersonen bestimmte kommunikative Kompetenzen und eine Bereitschaft, spirituelle Fragen ernst zu nehmen. Es ist nicht unbedingt nötig, dass sie selbst einer spirituellen Lebenseinstellung verpflichtet sind, sei sie christlich oder beispielsweise
buddhistisch. Es geht in Spiritual Care nicht um die Vorstellungen und Überzeugungen der Begleitpersonen, sondern um jene der ihnen anvertrauten Patienten. Eine eigene spirituelle Praxis kann jedoch eine wichtige persönliche Ressource für diese Aufgabe darstellen. Historisch gesehen ist Spiritual
Care der christlichen Tradition entwachsen. Der Begriff der Spiritualität bezog sich hier zunächst auf das lebensverändernde Wirken des Heiligen Geistes und eine dadurch bestimmte Lebenspraxis.

von Andreas Nentwich in

den Zeitschriften «Doppelpunkt» und «Sonntag», Heft 04/2016 erschienen.

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Andreas Nentwich