1. Korinther 13,9–12

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Lebens-Geschichten: Skizzenbuch | 1. Korinther 13,9–12 | Wolfgang Steck |

Markuskirche München

Universitätsgottesdienste der Universität München im Wintersemester 2001/2002

Paulus schreibt in seinen Briefen an die Korinther:

Unser Wissen ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin. (1. Korinther 13,9-12)

1. ‚Was wir wissen, ist nur Stückwerk‘ – das hört sich wie der Stoßseufzer eines Ermittlungbeamten in einem ‚Tatort‘-Krimi an. Die Kommissare sitzen mit ihren Pappbechern um den Tisch und legen alles zusammen, was sie in mühevoller Kleinarbeit gesammelt haben: ein paar verwischte Fußspuren, undeutliche Fingerabdrücke, vage Zeugenaussagen, ein widersprüchliches Protokoll. Alles ‚dunkle Bilder‘, die entschlüsselt werden wollen. Und alles nur Bruchstücke, aus denen am Ende ein fertiges Puzzle entstehen soll. Aber wie sie es auch drehen und wenden, die Teile passen nicht zusammen. Und so bleibt die Geschichte, die sich in Bremen abgespielt hat, lange im Dunkeln: Was geschah wirklich am Tatort; was geschah in den Tagen davor? Wer war das Opfer, wer der Täter? Was war sein Motiv?

Heute abend um viertel vor zehn werden wir es wissen. Da werden die Masken fallen. Der Täter wird der Hauptkommissarin Inga Lürsen gegenüberstehen, von Angesicht zu Angesicht, und als der erkannt, der er wirklich ist.

Aber wenn es ein Krimi von der neuen Sorte ist, dann bleiben auch am Ende Fragen offen. Früher, als die Farbfilme noch nach dem Schwarz-Weiß-Schema aufgebaut waren, da schien die Welt noch in Ordnung. Es gab Gute und Böse, Lichtgestalten, die es zu etwas gebracht haben und mit Recht stolz auf sich sein können, und Dunkelmänner, die anderen das Leben nehmen und damit auch ihr eigenes Leben zerstören. Und dazwischen die Kommissare, die gelernt haben, die Indizien zu deuten, in den Gesichtern der Menschen wie in Spiegeln zu lesen, die Fäden einer verschlungenen Geschichte zu entwirren und Klarheit ins Dunkel zu bringen. Sie trennten die Böcke von den Schafen, brachten den Schuldigen hinter Gitter und legten den Fall zu den Akten.

Heute geht die Ermittlungsarbeit den Tatortkommissaren nicht mehr so leicht von der Hand. Moderne, psychologisch geschulte Detektive geben sich nicht mit der kriminaltechnischen Feldarbeit zufrieden. Sie verfolgen den Täter an ihren Computern bis tief in seine Vergangenheit. Und wenn es dabei spät wird, dann kommen die Lebensforscher ins Grübeln. Je mehr sie sich in das Schicksal des Mörders vertiefen, desto undeutlicher werden die Rollen. Irgendwie läßt sich zwischen Tätern und Opfern nicht so recht unterscheiden. Das Leben macht sein eigenes Spiel; und manchem Täter hat es genauso übel mitgespielt wie seinem Opfer.

Es gibt nicht nur die eine Lesart der Geschichte, die glatte, in der sich alles nahtlos ineinanderfügt und die Rechnung ohne Rest aufgeht. Will man eine Lebensgeschichte nicht nur oberflächlich protokollieren, sondern in ihrer Tiefenschärfe verstehen, dann muß man sie gegen den Strich bürsten. Man muß die Brüche in der Lebenslinie entdecken, wo etwas unwiderruflich zu Ende ist; und keiner weiß, wie es weitergehen soll. Und man muß die Wendepunkte markieren, wo sich das Leben vom Kopf auf die Füße stellt und noch einmal von vorne beginnt, bis es wieder in einer Sackgasse endet.

Keiner hat nur eine Geschichte. Jede hat mehrere Leben: vergangene Glückszeiten, denen sie nachtrauert: ‚Warum kann ich nicht mehr so sein wie damals, so heiter und beschwingt?‘ und künftige Leben, von denen sie träumt; aber das Leben geht so schnell vorüber. Noch bevor wir richtig damit angefangen haben, neigt es sich schon seinem Ende zu. Und dazwischen die Gegenwart, das unentwirrbare Ineinander von Tatkraft und Lähmung, himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. Das Leben hat viele Gesichter. Man muß sie wie in einer Galerie nebeneinander stellen. Sonst wird man das eine dunkle Bild für die ganze Wahrheit halten und am Ende so wenig wissen wie am Anfang.

2. Im wirklichen Leben geht es so zu wie in einem waschechten Krimi. Jeder spielt eine Doppelrolle, den Täter und das Opfer. Als Kind gerät man leicht in die Rolle des Opfers. Da wird einem kräftig in das eigene Leben hineingeredet. Die Erwachsenen führen Regie im Lebensspiel. Die Kinder sind die Komparsen. Sie haben zu folgen. Und wenn sie es nicht tun und dabei ertappt werden, dann spielen sich Szenen ab, wie wir sie aus dem Fernsehen kennen: Verhöre, Spurensicherungen, Zeugenaussagen und Indizienbeweise. Am Ende droht Hausarrest oder – noch schlimmer – das vernichtende Urteil des Familienrats: ‚so kann es mit dir nicht weitergehen!‘

Aber es ging genauso weiter. Als wir ein paar Jahre älter wurden, bekamen wir die Ohnmacht des Jugendschicksals zu spüren, die Ohren voller gut gemeinter Lebensweisheiten; auf SMS-Format gestutzte Moralpredigten, die einem den Spaß am Leben verderben können. Manchmal warnten einen die Eltern regelrecht vor dem Leben, so als stünde man mit seiner Abenteuerlust ständig mit einem Bein im Gefängnis. Aber das legte sich mit den Jahren. Wir drehten den Spieß um und wechselten auf die andere Seite der Bühne. Die Spielräume wurden erweitert, notfalls mit den Ellenbogen. Manches ging dabei in die Brüche. Aber wer weiterkommen will, der muß auch Verluste in seine Lebensrechnung einkalkulieren.

Und wenn einer dann mit 40 immer noch nicht weiß, was er aus seinem Leben machen soll, und sich ständig in den Schatten der anderen stellt, dann sollte er einmal Bilanz ziehen, einen Strich unter sein bisheriges Leben machen und seiner Lebenslinie eine andere Richtung geben, vom Opfer zum Täter. Wir kennen solche Ratschläge. Wenn sich eine in ihrer Ratlosigkeit einer guten Freundin anvertraut, dann bekommt sie den Ruf zur Umkehr zu hören: ‚Jetzt lamentier nicht ständig über das, was andere mit dir machen, tu selbst was für dich! Tritt auf die Bühne deines Lebens und mach dein Spiel!‘

Aber das ist leichter gesagt als getan. Nicht weil die aktiven Rollen längst vergeben sind. Das Lebensspiel hält für jeden Akteur und für jede Lebensepoche das passende Skript bereit. Und mit den Jahren haben ja auch die meisten gelernt, ihr Leben tatkräftig in die Hand zu nehmen, ihr privates Glück nach ihren Wünschen zu gestalten und ihre berufliche Karriere auf Erfolg zu trimmen. Aber wer mit der Rolle des Täters einige Erfahrung gesammelt hat, der weiß, daß einem auf der Tour d´vie vieles in die Quere kommt. Und es sind nicht nur die anderen, mit denen sich unsere Wege kreuzen und die uns dabei aus der Bahn werfen können. Wir kommen mit uns selbst nicht zurecht.

Einmal merken wir, wie uns etwas in uns treibt und treibt: ‚Auf zu neuen Ufern!‘ Wir folgen der inneren Stimme. Aber wir können das Tempo nicht halten. Wir fallen hinter uns selbst zurück und müssen zusehen, wie unsere andere Hälfte am Horizont verschwindet, in ein Land, das uns verschlossen bleibt, vielleicht für immer. Wir haben es einfach nicht geschafft.

Das andere Mal geht es uns genau umgekehrt. Wenn wir wieder einmal weit ausholen und zum Sprung nach vorne ansetzen, dann spüren wir plötzlich, daß es nicht weiter geht, als hätte mir einer Fußangeln angelegt. Wie gelähmt bleiben wir stehen. Und dann merken wir, warum der Lebenslauf ins Stocken gerät. Als spielte ich eine Doppelrolle, so stehe ich mir selbst im Weg. Und wenn ich aus meinem eigenen Schatten heraustreten will, dann zieht der dunkle Doppelgänger mit. Wenn ich ihm eine lange Nase mache, dann macht er es auch. Ich bin ich selbst; und ich bin der andere, der Fremde. Er sieht genauso aus wie ich, dieselbe Gestik, dieselbe Mimik. Und doch ist er mir unheimlich. Ich kann ihm nicht über den Weg trauen, und ich komme ihm auch niemals auf die Schliche. Es ist der andere in mir, der mir die Prügel zwischen die Beine wirft, in einem Stück, das ich mit mir selbst spiele.

3. Aber das ist noch nicht alles. Bevor wir uns versehen, stehen wir in einer dritten Rolle auf der Bühne unseres Lebens. Erst spielt einer den Täter, dann sein eigenes Opfer; und als hätte er mit der Doppelrolle nicht schon genug zu tun, nun setzt er sich auch noch als Privatdetektiv auf sich selbst an und spielt den Ermittler in eigener Sache.

Wenn uns die Regie über unser Leben entgleitet und das Leben aus dem Ruder läuft, dann fangen wir zu recherchieren an. Wie die Spurensicherung, so fahnden wir nach dem geheimen Fremden in uns, nach dem Drahtzieher, der hinter den Kulissen die Fäden in der Hand hält und einen wie eine Marionette zappeln läßt. Ich weiß, daß ich den Unruhestifter im eigenen Haus zu suchen habe, in mir selbst. Aber er hält sich gut versteckt, irgendwo im tiefsten Dunkel. Man hat alle Hände voll zu tun, um ihm auf die Spur zu kommen, seine Taktik herauszufinden und ihn dingfest zu machen.

Da werden Schubladen mit alten Erinnerungsstücken aufgezogen; vielleicht findet sich hier ein Hinweis auf den anderen in mir. Da wird der Unrat aus Jahrzehnten ausgegraben; vielleicht läßt sich das Durcheinander doch noch auf die Reihe bringen. Da werden die Einbrüche in den Seelenhaushalt früher Jahre wieder aufgerollt; vielleicht ging damals etwas verloren, was mir mehr bedeutet, als ich mir eingestehe. Und je länger wir nach dem geheimnisvollen Fremden in uns fahnden, desto mehr zweifeln wir daran, daß wir es sind, nach dem wir suchen. Es muß ein anderer gewesen sein, einer, der ich einmal war, aber längst nicht mehr bin. Und doch: es gibt ihn noch, den Doppelgänger aus vergangenen Zeiten. Wir wollen ihn abschütteln, hinter die Kulissen schieben, wegschließen. Aber es nützt nichts. Das alter ego ist allgegenwärtig, am Tag als ungebetener Gast und in der Nacht als bedrohlicher Feind.

Manche warten nicht, bis es soweit kommt. Sie schätzen präventive Maßnahmen und setzen auf permanente Selbstkontrolle. Sie führen laufend Protokoll über ihr Leben, zeichnen wichtige Daten auf, schreiben Geschichten in Tagebücher und füllen Skizzenblöcke mit kritischen Anmerkungen und guten Vorsätzen. Andere, die Kopfrechner, verwalten ihr Leben in Gedankenspielen. Wieder andere kramen gerne in vergilbten Erinnerungen, betrachten Fotoalben aus vergangenen Welten und suchen damit ihre Spuren zu sichern. Etwas typisch Protestantisches soll das sein, der biographische Aufklärungsdrang, das Eintauchen in die eigene Geschichte.

Aber das geschriebene Leben ist nicht anders als das gelebte. Man kann sein Leben so oder auch anders gestalten; es wird nie der große Wurf, das Leben aus einem Guß. Das Leben spielt sich auf einer kleinen Bühne ab. Da läßt sich nicht alles realisieren, was einem so vorschwebt. Und man kann die Geschichte seines Lebens auf vielerlei Weise schreiben, aus ganz verschiedenen Blickwinkeln: als Erfolgsgeschichte oder als Krisenbilanz, als die Erfüllung eines großen Kindheitstraums oder als eine Liste vieler offen gebliebener Wünsche, als ergreifenden Liebesroman oder als erschütternde Tragödie. Aber man sieht nie alles auf einen Blick. Immer wird vieles, das meiste, ausgeblendet. Wie immer wir unser Leben in Szene setzen, es bleibt ein Fragment, nichts Ganzes und nichts Halbes.

4. Gibt es also das eine, das in sich runde Leben gar nicht? Nicht im Rückblick, wenn wir die Rätsel der Vergangenheit lösen wollen; aber die Schlösser lassen sich nicht knacken? Nicht im gegenwärtigen Augenblick, wo sich das Leben so schillernd ausnimmt, so zwiespältig, so irritierend und diffus? Nicht in der Zukunft, in der alles besser werden soll; aber dann gehen unsere Träume in die Brüche? Und auch nicht, wenn wir versuchen, die verschiedenen Leben miteinander zu verknüpfen, das vergangene, das gegenwärtige und das zukünftige? Daß sich einer mit den Jahren verändert, das bringt der Lauf der Dinge so mit sich. Aber daß er heute gar nicht mehr der ist, der er früher einmal war, daß es keinen roten Faden gibt, der sich durch die Wechselfälle des Lebens hindurchzieht, kann das wirklich so sein?

Man sagt immer: Erst vom Ende her können wir das Ganze überblicken. Wenn das Buch des Lebens geschlossen wird, dann rundet sich das Leben. Aber da sind wir nicht mehr dabei, nicht mehr am Leben. Da ist unser Tagebuch längst in fremde Hände gefallen. Da blättert dann ein anderer in unseren Skizzenblöcken, sortiert die Bruchstücke eines unvollendeten Lebensprojekts und macht sich seinen eigenen Reim darauf.

Ein anderer? Oder doch ich selbst? Paulus bringt mit seinen Briefzeilen Bewegung in die Szene. Was wir von uns selbst wissen, ist Stückwerk, so lange wir leben. Aber das muß nicht so bleiben. Und es wird auch nicht so bleiben. Wenn das Vollkommene anbricht, dann wird das gestückelte Leben aufhören. Dann erkennt jeder die Gestalt seines Lebens.

Man weiß auf den ersten Blick nicht so recht, was damit gemeint sein soll. Aber das kann auch nicht anders sein. Denn unser Wissen ist immer nur Stückwerk. Da können uns auch die gelehrten Theologen nicht weiter helfen, selbst Paulus nicht. Aber wir ahnen, was Paulus im Sinn hatte, als er seine Briefzeilen diktierte. Denn keinem von uns ist der Traum vom vollkommenen Leben fremd, von dem anderen Leben, das wir ewig nennen, himmlisch, wolkenlos und weit. Wenn unser gebrochenes Leben zu Ende geht und die dunklen Bilder in uns verschwinden, dann wird Klarheit herrschen. Dann ist es mit der stückweisen Erkenntnis vorbei. Dann werde ich mich so erkennen, wie ich wirklich bin, so wie ich in den Augen Gottes bin, aus der anderen, aus seiner Perspektive.

Aber das ist noch nicht alles, was Paulus in seine Sätze vom gebrochenen und vom klaren Leben gepackt hat. Wir brauchen gar nicht in den Himmel zu schweben, um zu entdecken, wo das Geheimnis unseres Lebens verborgen ist. Wir können das himmlische Leben im irdischen erkennen, wenn wir den richtigen Blick dafür entwickeln. Wenn wir mit dem finsteren Blick in den Spiegel unseres Lebens schauen, dann sehen wir nichts als dunkle Bilder: verschwommene Vergangenheiten, von denen wir uns nicht lösen können, eine trübe Gegenwart, die sich niemals so recht erschließt, und düstere Zukunftsaussichten. Alles gebrochen und verzerrt, eben spiegelverkehrt. Keiner von uns hat jemals sein wahres Gesicht sehen können, immer nur das Gegenbild, eine verkehrte Ansicht.

Aber wenn wir an den Tag zurückdenken, an dem alle Menschen und damit auch wir ins Leben gerufen wurden, dann bekommt der Spiegel des Lebens eine andere Bedeutung. Es war der sechste Schöpfungstag, an dem Gott zu sich selbst sprach: Ich will Menschen schaffen, Bilder, die mir gleichen. Am Abend dieses Tages sind sich dann Gott und Mensch zum ersten Mal begegnet, ‚von Angesicht zu Angesicht‘. Und als sie sich in die Augen blickten, da war es, als würden sie beide in einen Spiegel schauen. Ich bin Gottes Spiegelbild. Und er ist das meine.

Von da an waren Gottes Leben und mein Leben für immer miteinander verbunden. Von da an behielt Gott mich im Auge. Er trauerte um sein Spiegelbild, wenn wieder einmal ein Stück meines Lebens in die Brüche ging. Er freute sich mit mir, wenn plötzlich ein Glücksmoment im Spiegel aufblitzte. Er behielt mich im Auge, wenn alles um mich herum zu schwanken anfing. Und er wird sein Abbild auch dann nicht vergessen, wenn der Bau meines Lebens einmal endgültig in sich zusammenfällt. Wenn wir diesen Spiegel nicht hätten, wüßten wir nicht, wer wir sind: Ebenbilder Gottes, Menschen, die sein Antlitz tragen.

Unser Lebenswissen bleibt Stückwerk, solange wir leben. Aber unser Lebensglaube läßt uns das Ewige im Irdischen erkennen, Gottes Leben im Menschenleben, das Vollkommene in jedem einzelnen Bruchstück. Wenn wir auf unserem Weg die Spuren Gottes entdecken, dann fangen wir zu leben an.


Prof. Dr. Wolfgang Steck