
1. Petrus 5,5b-11
„In the eye of the lion“ | 15. So. n. Trinitatis | 28.09.25 | 1.Petr 5,5b-11 | Martina Janßen |
- Manchmal kommt es mir so vor, als würde alles um mich herum lauter und greller werden. Ich vermisse die leisen Töne, die zarten Bilder, die feinen Nuancierungen zwischen Schwarz und Weiß, Ja und Nein, meins und deins. Die allgegenwärtige Rhetorik der Macht mit all ihren Machtworten erschlägt mich. Färbt das auch auf mich ab? Stimme auch ich da mit ein – ungewollt, unbemerkt? Wenn ich schreibe, will ich niemanden mit Worten erschlagen; wenn ich rede, will ich niemanden übertönen. Und ich will auch nicht, dass andere das mit mir tun. Ich suche das Feinsinnige in all dem Grobschlächtigen um mich herum: das Sensible und das Subtile, das Subversive und das Skeptische. Ich habe das Gefühl: Der Ton wird rauer – in der Politik, in den Medien, im alltäglichen Miteinander. Mir klingt zu vieles nach biergeschwängerten Stammtischparolen und ich sehne mich nach der durchdachten Luft einer Studierstube. Doch um mich herum verbales und mediales Aufrüsten, wohin man nur schaut. Mächtige und symbolträchtige Bilder springen mir ins Auge: Trump reitet den Löwen, Putin den Bären und den Tiger gleich mit. So eine Inszenierung von toxischer Männlichkeit erstreckt mich, schreckt mich ab, stößt mich ab: Ich brauche auch das Zärtliche, das Zerbrechliche, das Zerrissene. Nicht nur „Basta“, auch mal „vielleicht“. Nicht immer nur ablehnen und abwürgen, sondern auch mal abwägen. Ich will nicht hinter jeden Satz drei Ausrufezeichen setzen, sondern auch mal ein Fragezeichen stehen lassen. „Dafür ist jetzt nicht die Zeit“ – sagt ein Freund zu mir. „Du siehst doch: Die Stimmung ist gereizt und aufgeheizt. Jetzt kommt es darauf an, mutig aufzutreten, Stärke zu zeigen, sich klar zu positionieren . ‚Hier steh‘ ich nun und kann nicht anders‘. Sonst geht man k.o. Wir brauchen das Herz eines Löwen, den Mut eines Löwen. Du musst lauter brüllen als die anderen. Sonst wirst du überhört, übersehen, überfahren.“ – Ich möchte nicht brüllen. Ich will singen, trösten und manchmal auch schweigen.
- Lesung 1 Petr 5b-11
5b Alle aber miteinander bekleidet euch mit Demut; denn Gott widersteht den Hochmütigen, aber den Demütigen gibt er Gnade. 6 So demütigt euch nun unter die gewaltige Hand Gottes, damit er euch erhöhe zu seiner Zeit. 7 Alle eure Sorge werft auf ihn; denn er sorgt für euch. 8 Seid nüchtern und wacht; denn euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlinge. 9 Dem widersteht, fest im Glauben, und wisst, dass ebendieselben Leiden über eure Brüder und Schwestern in der Welt kommen. 10 Der Gott aller Gnade aber, der euch berufen hat zu seiner ewigen Herrlichkeit in Christus, der wird euch, die ihr eine kleine Zeit leidet, aufrichten, stärken, kräftigen, gründen. 11 Ihm sei die Macht in alle Ewigkeit! Amen.
III. Wie ein brüllender Löwe geht der Widersacher umher. Ein starkes Bild. Eine brenzlige Situation, eine, die Angst macht. Wenn ein Löwe brüllt, möchte ich nicht in der Nähe sein; und wenn er sich still von hinten an mich heranschleicht, erst recht nicht. Doch der Löwe ist ja nicht an sich böse. Er steht für Mut, Kraft und Stärke. Er ist ein beliebtes Wappentier, ein Machttier – jederzeit und an jedem Ort. In der ägyptischen Mythologie besitzt die menschenköpfige Sphinx einen Löwenkörper. In der biblischen Thronwagenvision symbolisiert der Löwe die außergewöhnliche Kraft des Himmlischen (Ez 1,10; 10,14); der Löwe dient dazu, Mut und Stärke von Helden (2 Sam 1,23; 17,10; Hebr 11,33), Gerechten (Sprüche 28,1), Jesus (Offb 5,5) und Gott selbst (Jes 31,4; Hos 11,10) zu veranschaulichen. Doch das, was den Löwen ausmacht, kann auch negativ genutzt werden. Ich habe mich dem Löwen angenähert, vorsichtig, neugierig. Die Bibel zeichnet ihn als gewaltiges und oft gewalttätiges Tier. Löwen reißen Tiere aus Herden (Mi 5,7), ihr Brüllen ist wie ein Donner (Jer 25,30), sie kommen aus dem Dickicht und sie lauern an verborgenen Stellen; ihre Gewalttätigkeit ist gewaltig (Nahum 2,12). Unterdrücker werden als Löwen charakterisiert – seien es Reiche, die Arme ausbeuten (Sir 13,19), seien es feindliche Fremdvölker, die Israel bedrohen (Jer 2,14f; 4,7; Jes 5,29; Dan 7,4), seien es Mächtige, die Gerechte verfolgen (Ez 22,25, Ps 7,2f; 35,17). Der Löwe ist überall und er ist ein starker und mächtiger Gegner. Ihn zu bezwingen, gehört in der griechischen Mythologie zu den zwölf Aufgaben des Herkules. Der Löwe ist starkes Tier, der König der Tiere, ein Raubtier, ein Kampftier. Wie Bären und Tiger. Wer darauf setzt oder sich darauf setzt, ist bereit zum Kampf und Kräftemessen: „It’s the eye of the tiger, it’s the thrill of the fight / Risin‘ up to the challenge of our rival“ (Survivor, 1982).
- Wie ein brüllender Löwe geht der Widersacher umher. Wie bändigt man den Löwen? Wie lebt man angesichts der Gefährdung? Ich habe mich dem Löwenbändigen angenähert, neugierig und wissbegierig. In der Zeit, als der erste Petrusbrief geschrieben wurde, waren die Christen verfolgt, waren Gewalt und feindlicher Macht ausgeliefert und ihrer eigenen Schwäche. Wie ein brüllender Löwe geht der Widersacher umher. Der Löwe steht für das gefährliche Böse, aber auch für staatliche Aggression und Repression (z.B. Hebr 11,32f; Offb 13,2): Kaiser Nero, der Christenverfolger, galt als Löwe (Euseb 2,22,4), Tiberius auch (Jos.Ant. 18,228). Paulus war im Rachen des Löwen (2 Tim 4,6-8.17). In der Offenbarung des Johannes erhebt sich ein mächtiges Monster mit einem Löwenrachen gegen die Gemeinde, sucht sie, versucht sie, sucht sie heim(Offb 13,2). Wie lebt man dieser Gefährdung? Ich finde beim Lesen des ersten Petrusbriefes erste Antworten, die auch heute Potenzial haben, die Spirale des Dominanzgebarens und der Drohengebärden aufzubrechen und den ewigen Wett- und Überlebenskampf zu beenden, bei dem gilt: der Stärkere gewinnt, der Lautstarke hat Recht, der Rechthaber hat Macht. Es geht auch anders. Es geht auch anders als gegen den Löwen in den Ring zu steigen, Auge in Auge, Zahn um Zahn; es geht auch anders als dem Löwen mitten in sein Maul zurück zu brüllen und so zu werden wie er. „Es sind nicht immer die Lauten stark, nur weil sie lautstark sind. Es gibt so viele, denen das Leben ganz leise viel echter gelingt (…) Die schreiben nie Lieder, die sind Melodie. So aufrecht zu gehen, lerne ich nie.“ (Konstantin Wecker: Album: Liebesflug 1981).
1) Ihr wisst, dass ebendieselben Leiden über eure Brüder und Schwestern in der Welt kommen. Empathie und Solidarität sind wichtige Schlüssel, damit Leben „in the eye of the lion“ gelingt. Bedrohung und Bedrängnis betreffen nicht mich allein, anderen geht es wie mir. Das kann eine Chance sein, kann aber auch zur Gefahr werden. Angesichts von Gefährdung zusammen zu halten, ist nicht selbstverständlich. Angst kann das Miteinander auch vergiften, kann Misstrauen säen und Hass ernten. Wenn das passiert, hat der Löwe gewonnen. Er muss weder brüllen noch lauern. Die Angst vor dem Löwen hat bereits die Arbeit des Löwen gemacht. Der Löwe braucht nur abzuwarten und zuzuschlagen. Wo Angst herrscht und man einander zusetzt, kann man dem Löwen nichts entgegensetzen. Das muss nicht sein: Man kann auch zusammenhalten, die Bedrohung zusammen aushalten, einander halten und die Angst klein halten. Gemeinsam ist Bewältigung des Leidens leichter, gemeinsam ist das Überwältigen des Löwen möglich. Man kann ihn zähmen, ihm die Zähne ziehen, ihn im Zaun halten. Ein äthiopisches Sprichwort sagt: „Wenn viele Spinnen weben, können sie den Löwen zähmen.“ Es besteht kein Zwang, den Löwen mit Gewalt zu bezwingen. Man kann den Löwen zähmen. Wer weiß – vielleicht ist der Löwe gegen das Gute nicht immun, vielleicht lässt der Löwe sich anstecken von der Güte, vielleicht wird der Hochmütige sanftmütig, der Feind zum Freund. „Güte kann Haare aus des Löwen Schnurrbart ziehen.“ (afrikanisches Sprichwort). Nicht immer klappt das, doch manchmal klappt das, am Ende klappt das immer. Wenn Gottes Güte um sich greift und alle und alles gut macht. Am Ende der Zeiten wird es immer so sein. „Da wird der Wolf beim Lamm wohnen und der Panther beim Böcklein lagern. Kalb und Löwe werden miteinander grasen, und ein kleiner Knabe wird sie leiten. Kuh und Bärin werden zusammen weiden, ihre Jungen beieinanderliegen, und der Löwe wird Stroh fressen wie das Rind.“ (Jes 11,6f; vgl. auch Jes 65,25).
2) Dem widersteht, fest im Glauben. Vertrauen statt Angst – auch das hilft beim Leben und Überleben. Angst macht den Löwen größer als er ist. Angst macht den, der Angst hat, passiv oder aggressiv. Sie lähmt einen oder lässt einen ins offene Messer laufen. Dann frisst die Angst einen auf noch bevor es der Löwe tut. Es gibt eine Alternative zur Angst. Der Autor des ersten Petrusbriefes ermuntert zum Vertrauen in den, der stärker als alle Löwen ist. Alle eure Sorge werft auf ihn! Ihm sei die Macht in alle Ewigkeit! Das Brüllen des Löwen ist nicht das Ende. Darauf vertraue ich, deshalb traue ich mich zu leben. Das letzte Wort hat Gott. Das höre ich aber nicht als lautes Machtwort von Himmel herab gedonnert. Das ist eher wie als leise Melodie, die mir von Ferne entgegen klingt wie das Echo einer Liebe. Der, der das erste Wort hat, hat das letzte Wort. Das verändert alles. Ich muss weder vor Angst erstarren noch aus lauter Angst mitten in die Höhle des Löwen in mein Verderben rennen. Ich kann meinen Weg gehen, kann Gottes Zukunft entgegen gehen. „Ich setzte den Fuß in die Luft und sie trug.“ So hat es einmal die Dichterin Hilde Domin gesagt. Ein schönes Bild für Vertrauen. Ich setze auf den, der mich bewegt und der mich trägt, wenn ich falle. „Wir alle fallen. Diese Hand da fällt. // Und sieh dir andre an: es ist in allen. // Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen // unendlich sanft in seinen Händen hält.“ (Rainer Maria Rilke). „Der HERR hält alle, die da fallen, und richtet alle auf, die niedergeschlagen sind.“ (Psalm 145,14).
3) Seid nüchtern und wacht. Achtsamkeit und Wachsamkeit – damit ist man in freier Wildbahn auf der sicheren Seite. Man kann dem Löwen mit der Schläue eines Fuchses begegnen, man muss nicht in die Falle des Löwen laufen. Die antike Fabel weiß das: Ein Löwe war sehr alt geworden und konnte nicht mehr jagen. Da lud er alle Tiere in seine Höhle ein, dass sie ihn besuchen, und fraß sie eins nach dem anderen auf. Auch der Fuchs kam, war aber vorsichtig und wartete ab. Da sagte der Löwe mit schmeichelnder Stimme zu ihm: ‚Komm auch in meine Höhle.‘ Der Fuchs sagte: ‚Nein, ich traue dir nicht. Denn ich habe viele Tiere hingehen sehen, aber keines ist wieder herausgekommen.‘ Der Fuchs ist nicht auf die List des Löwen reingefallen, weil er klug war und abgewartet hat. Seid nüchtern und wacht – ob der Löwe nun brüllt oder mit schmeichelnder Stimme einen in die Falle lockt. Wachsam sein. So kann man dem Löwen begegnen. Nicht auf sein Brüllen hereinfallen. Nur weil etwas laut gebrüllt wird, muss es noch lange nicht wahr sein. Man muss sich davon nicht beeindrucken lassen, man muss sich nicht ducken und bei jedem Brüllen zusammenzucken. Mit Klugheit kann es gelingen, die falschen und leeren Phrasen hinter dem lauten Brüllen zu entlarven und ihnen nicht auf den Leim zu gehen. „Intelligenz lähmt, schwächt, hindert? Ihr werd’t euch wundern! Scharf wie’n Terrier macht se.“ (Arno Schmidt). Es sind nicht immer die Lauten stark, nur weil sie lautstark sind. Es gibt so viele Weise, denen das Überleben trotz allem immer wieder gelingt.
- Wie ein brüllender Löwe geht der Widersacher umher. Wie lebt man, wie überlebt man, wie lebt man miteinander „in the eye of the lion“? Vielleicht braucht es alles zusammen: die Klugheit der Schlange und die Unschuld der Taube (Mt 10,16), das Vertrauen der Vögel unter dem Himmel und die Schönheit der Lilien auf dem Felde (Mt 6,26-28): Alle eure Sorge werft auf ihn! Die Fragen der ersten Christen haben heute nichts an Relevanz verlorenen. Ihre Antworten auch nicht. Von so vielen Seiten streift uns Bedrohung: Krisen, Kriege, Kulturkampf. Es ist laut geworden und unsere Gesellschaft ist polarisiert. Und doch glaube ich, dass Pragmatik unsere Probleme besser löst als Populismus, dass Ideen uns voranbringen und nicht Ideologien und dass uns Denken und Diskurs gut tun würden – und Demut. Alle aber miteinander bekleidet euch mit Demut; denn Gott widersteht den Hochmütigen, aber den Demütigen gibt er Gnade. Ich muss nicht brüllen. Es geht auch anders. Ich vertraue dem Halt der feingesponnenen Spinnweben, ich setze auf die Klugheit der Füchse und den Mut der Terrier. Ich gehe fest im Glauben. „Wenn ich mich fürchte, so hoffe ich auf dich.“ (Psalm 56,4). So lebe ich und will nicht anders.
Amen
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PD Dr. Martina Janßen
Hildesheim
Martina Janßen, geb. 1971, Privatdozentin für Neues Testament (Universität Göttingen), Pastorin der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers