
1. Samuel 24,1-20
Nur ein Wort | 4. Sonntag nach Trinitaris | 23.6.2024 | 1Sam 24,1-20 | Nadja Papis |
Hast du gehört? David hat Saul verschont – in der Höhle von En-Gedi.
Was? Ist der blöd? Der hätte den Thorn in den Händen gehabt!
Ja, aber so ist er eben nicht, der David.
Was ist denn passiert?
Saul musste sich erleichtern und ging dafür genau in die Höhle, in der sich David und seine Männer versteckten.
Das ist jetzt ein bisschen peinlich, oder? Der König bringt sich beim Urinieren in Lebensgefahr. Er ist und bleibt eine tragische Figur.
Nun ja, David hat nur ein Stück von Sauls Mantel abgeschnitten, statt ihn zu töten.
Er ist wohl weich geworden. Nun wird ihn Saul weiterverfolgen.
Na, anscheinend haben sie miteinander gesprochen, dort bei der Höhle.
Und sie leben beide noch?
Ja, klar. David nannte Saul «Vater» und der ihn «Sohn».
Tönt nach einer Versöhnung.
Nein, soweit ging´s nicht, aber Saul anerkannte Davids Anspruch auf den Thorn – nach seinem Tod natürlich.
Also, ich weiss nicht, das tönt zu idyllisch. Kann ich mir bei den beiden Hitzköpfen gar nicht vorstellen.
Hauptsache sie vergessen nicht, die Philister zu bekämpfen, DAS ist ja eigentlich unser Problem.
Ja, liebe Gemeinde,
als ich die Geschichte im 1. Samuelbuch las, konnte ich diese Stimmen aus dem Volk direkt hören. Da kämpfen zwei um den Königstitel. Neid, Machtansprüche, Angst, Gewalt herrschen. Zur äusseren Bedrohung durch die Angriffe der Philister ist eine innere gekommen: Der junge, charismatische David läuft dem alten, kranken König Saul den Rang ab. Und hier hätte David die Sache klar machen können. Hat er aber nicht getan. Warum?
Geschichtsschreibung geschieht immer aus der Sicht dessen, der schlussendlich gewinnt. Und im Blick auf diejenigen, die hervorstechen. David wird König, er wird ein grossartiger König, einer, wie´s ihn in Israel kein zweites Mal gibt. Er eint das Reich. Und es ist allen klar: Das steht ihm auch zu. Die Samuelbücher belegen das – durch die Königssalbung und durch Geschichten wie diese hier. David nimmt sich sein Königtum nicht, er bekommt es, er ist berufen dazu. Gott selber spricht es ihm zu. Indem er die Salbung Sauls achtet und ihn verschont, legitimiert er seine eigene Stellung als zukünftiger König.
Nun gut. Aber das ist jetzt mehr Geschichtsunterricht oder Marketingstrategie als Predigt. Bemerkenswert, aber noch nicht sehr bewegend.
Wo spricht der Text mich an? Und worin?
Eine andere Geschichte:
Meine Grossmutter kann nicht mehr alleine wohnen. Sie schafft es zwar irgendwie gerade noch, ihren Haushalt zu führen, aber dafür hangelt sie sich den Möbel entlang. Und sie geht nicht mehr aus der Wohnung, weil die Treppen sie daran hindern. Einkaufen, Bankgeschäfte, ja sogar die Termine bei der Ärztin hat sie alles bestens organisiert. Aber wir als Familie finden: Es geht nicht mehr. Sie dagegen meint: Es geht wunderbar. Sie will nicht aus der Wohnung, in der sie ihr halbes Leben verbracht hat. Keine Chance – bis der Sturz passiert ist. Vom Krankenhaus geht´s direkt ins Pflegeheim und nie wieder heim. Die Trauer um die Wohnung ist nur kurz, es gibt da so viel zu tun und zu entdecken am neuen Ort: der gemütliche Handarbeitstreff, das gemeinsame Kochen, bei dem sie bereits nach wenigen Malen den Ton angibt, die interessanten Ausflüge, die schönen Spaziergänge, Vorführungen und Tanzabende. «Hast du gewusst, was die hier alles machen?» Ja, ich habe es gewusst, denke ich und sage nichts, sondern geniesse es einfach, wie sie aufblüht.
Machtwechsel – Machtumkehr.
Das ist nicht nur das Thema von Königen. Oder Regierenden.
Es ist ein Familienthema.
Wenn die Eltern sich die Fürsorge der Kinder gefallen lassen müssen.
Wenn die klaren Rollenverteilungen nach der Pensionierung durcheinandergeraten.
Wenn Kinder erwachsen werden und die Verantwortung für ihr Leben übernehmen.
Und ein Thema im Beruf.
Wenn die Leitung wechselt.
Wenn das Unternehmen eine neue Strategie erarbeitet.
Wenn ich ausfalle und merke, wie ersetzbar ich bin.
David hat auf die Möglichkeit verzichtet, die Macht definitiv an sich zu reissen. Vielleicht in der Gewissheit, dass er sie früher oder später sowieso bekommt. Er hat auf Rache verzichtet, denn Saul wollte ihn töten und hätte wohl nicht gezögert. Aber ein Heiliger ist David trotzdem nicht. Die Demütigung, die Saul durch ihn widerfährt, ist nicht ohne. Diese Stück Mantel musste sein.
Machtwechsel, Machtübergabe, Machtumkehr.
Keine einfache Sache. Das können wohl die meisten «Kinder» bezeugen, welche alte Eltern zu betreuen haben. Das können auch die alten Eltern selber bezeugen, die gerne unabhängig und selbständig bleiben möchten. Und erst recht die «Kinder», die als Erwachsene ihr Leben ohne die elterlichen Ratschläge in die Hand nehmen.
Das zeigt auch die Unsicherheit in einem Unternehmen, in dem ein Machtwechsel stattfindet. Und es mag mich schon, wenn meine Aufgaben andere machen, sogar gut machen.
Wer bin ich? Und was bin ich nicht mehr?
Was gibt mir Halt? Und wo verliere ich ihn?
Wie geht es weiter? Und was geht nicht mehr?
Saul ist die tragische Figur in dieser Geschichte. Es ist klar: Seine Macht geht dem Ende entgegen. Und es ist schon einer da, der ihn ersetzen und übertreffen wird. David verzichtet auf seine Möglichkeit, endgültig aufzusteigen. Er weiss wohl: Es ist nicht nötig. Seine Zeit wird kommen. Er hat also einen Halt. Ich denke an die Segnung, die er durch Samuel bekommen hat. Segnen können übrigens auch wir uns lassen – in unseren Übergänge, in den anstehenden Machtwechseln und in den Situationen, wo eine Machtumkehr stattgefunden hat. Der Segen spricht uns Hoffnung, Halt und Würde zu. Auch wenn du abgeben musst, auch wenn du loslassen musst, auch wenn du ersetzt wirst, du bist gesegnet. Auch wenn du aufstrebst, wenn du übernimmst, wenn du anpackst, du bist gesegnet. Gesegnet finden wir würdige Wege, auch wenn es schwierig ist.
Das Würdige ist mir persönlich ein Anliegen. David spricht Saul mit «Vater» an. Diese Anrede an eine ältere Person meint nicht die biologische Elternschaft, sondern ist Ausdruck eines segensreichen Beziehungsverhältnisses, eine Würdigung des Väterlichen, des Fürsorglichen, des Gesegneten im anderen. Mit dieser Anrede durchbricht David für mich die gewaltbereite Atmosphäre, dieses ganze Gerangel um Macht und Vorherrschaft. Es ist für mich der starke Moment in diesem Text. Nicht das Abschneiden des Mantels, nicht der Beweis für die Überlegenheit, sondern dieses eine Wort: «Vater». Die Anrede bewegt etwas in Saul, sie berührt ihn. Er antwortet ebenso: «Sohn» sagt Saul zu David und anerkennt, was sie mal verbunden hat.
Ob uns das auch gelingt? Im grössten Ärger, in den ärgsten Machtkämpfen eine würdige Anrede zu finden und einander an die gegenseitige Verbundenheit, ja noch weiter an die Geschöpflichkeit zu erinnern? Eine gegenseitige Achtung und Beachtung. Eine Anerkennung, dass du wie ich ein Recht auf Würde haben – trotz unseren Differenzen.
Ich stelle es mir vor – zwischen Eltern und ihren Kindern – zwischen der Chefin, die geht, und derjenigen, die kommt – zwischen den Alten und den Jungen – zwischen den Regierenden. Nur so ein Wort, so eine Anrede.
Es macht mir Mut. Die Konflikte bleiben, das sind sie ja auch zwischen David und Saul, aber es schwingt etwas Gesegnetes mit, etwas Verbindendes trotz allem. Und die Hoffnung, dass es gut kommt.
Amen
—
Pfrn. Nadja Papis
Langnau am Albis
Nadja Papis, geb. 1975, Pfarrerin in der ev.-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich/Schweiz. Seit 2003 tätig im Gemeindepfarramt der Kirchgemeinde Sihltal.