
1. Samuel 24,1-20
Was wäre, wenn | 4. Sonntag nach Trinitatis | 23. 06. 2024 |1Sam 24, 1-20 | Katharina Wiefel-Jenner |
Von dort ging David nach En-Gedi und hielt sich in den Bergfestungen versteckt. Als Saul von der Verfolgung der Philister zurückkam, erreichte ihn die Nachricht: »Pass auf, David ist jetzt in der Gegend von En-Gedi!« Da nahm Saul 3000 Mann mit sich, es waren die besten Soldaten aus ganz Israel. Mit ihnen machte er sich auf die Suche nach David, der mit seinen Leuten bei den Steinbock-Felsen war. Dort waren auch Pferche für die Schafe. Als Saul an ihnen vorbeikam, sah er eine Höhle und ging hinein. Denn er musste sich dringend erleichtern. In der hintersten Ecke der Höhle aber hielten sich David und seine Männer versteckt. Da flüsterten Davids Männer ihm zu: »Es ist so weit!Das ist der Tag, von dem der Herr zu dir gesagt hat: Ich gebe deinen Feind in deine Hand. Tu mit ihm, was du für richtig hältst!« Da stand David auf, schlich sich heran und schnitt einen Zipfel von Sauls Mantel ab. Hinterher bekam David ein schlechtes Gewissen, weil er Saul den Mantelzipfel abgeschnitten hatte. Daher sagte er zu seinen Männern: »Nie und nimmer, das schwöre ich beim Herrn, werde ich Hand an den Gesalbten des Herrn legen. Ich werde Saul, meinen Herrn, nicht antasten. Denn er ist der Gesalbte des Herrn!« So wies David seine Leute in die Schranken und verbot ihnen, sich an Saul zu vergreifen. Saul hatte sich erhoben und die Höhle verlassen. Als er schon ein Stück gegangen war, trat David aus der Höhle und rief Saul hinterher: »Mein Herr und König!« Als Saul sich nach ihm umschaute, sank David auf die Knie und verneigte sich. Dann sagte David zu Saul: »Warum hörst du auf das Gerede der Leute, die sagen, David habe Böses gegen dich im Sinn? Heute hast du mit eigenen Augen sehen können, dass das nicht stimmt. Als du heute dort in der Höhle warst, hat der Herr dich in meine Hand gegeben. Man wollte mich dazu drängen, dass ich dich töte. Doch ich habe dich verschont, ich habe gesagt: ›Ich werde Saul, meinen Herrn, nicht antasten. Denn er ist der Gesalbte des Herrn!‹ Schau her, mein Vater, was ich in der Hand halte! Hier ist ein Zipfel von deinem Mantel! Ich hätte dich töten können, hab’s aber nicht getan, als ich diesen Zipfel von deinem Mantel abschnitt! Deshalb kannst du dir ganz sicher sein, dass ich nichts Böses will und kein Verbrechen begehe. Nie habe ich mich gegen dich gestellt. Du aber jagst mich und willst mir das Leben nehmen. Der Herr soll zwischen dir und mir entscheiden! Er selbst soll dich dafür strafen, was du mir antust. Ich aber werde mich nicht an dir vergreifen.So heißt es ja in einem alten Sprichwort: ›Verbrecher verüben Verbrechen!‹ Ich aber werde mich nicht an dir vergreifen. Hinter wem ist denn der König von Israel her? Hinter wem jagst du her? Hinter einem toten Hund, hinter einem einzelnen Floh! Der Herr soll Schiedsrichter sein. Er soll zwischen dir und mir entscheiden. Er soll meinen Fall untersuchen und mich vertreten. Er soll mir dir gegenüber zum Recht verhelfen.« Als David ausgeredet hatte, fragte Saul: »Ist das nicht deine Stimme, mein Sohn David?« Und Saul begann laut zu weinen. Dann sagte er zu David: »Du bist mir gegenüber im Recht! Denn du hast Gutes an mir getan, ich aber habe dir Böses angetan! Gerade heute hast du bewiesen, dass du Gutes an mir getan hast. Du hast mich nicht getötet, obwohl der Herr mich in deine Hand gab.Wenn einer auf seinen Feind trifft, lässt er ihn dann in Frieden seinen Weg ziehen? Nein! Du aber hast das heute getan! Der Herr soll dich dafür belohnen, dass du mich an diesem Tag verschont hast. (Übersetzung der Basisbibel).
Ihr Lieben!
Mitten im Geschehen folgt ein Schritt dem anderen. Taten haben Konsequenzen. Die Konsequenzen treiben neue Taten und Worte an. Aus dem einem erwächst das Nächste. Aber hätte es auch anders sein können? Was wäre geschehen, wenn sich David anders entschieden hätte?
Was wäre, wenn – Szenario 1:
David hätte auf seine Mannschaft gehört
Davids Truppen sind Männer, die die Dinge im Kampf klären. Taktik und Strategie sind ihre Sache nicht. Sie schauen nicht darauf, was als nächstes kommt. Sie halten sich an das, was sie vor Augen haben: Saul kommt zu ihnen. Wo sie sind, können sie losschlagen: auch in der Höhle. In ihrer Welt ist der Kampf logisch. Alles spricht dafür, Saul im Dunkel der Höhle zur Strecke zu bringen. Saul ist schwach und schutzlos. So ist das: wer Schwäche zeigt, wird angegriffen.
Was wäre passiert, wenn David nicht nur den Mantelzipfel abgeschnitten hätte, sondern Saul getötet hätte?
Es hätte ein Blutbad gegeben. Davids Männer hätten sich nicht damit begnügt, dass der Feind ihres Befehlshabers tot ist. Sie wären aus der Höhle in Sauls Lager gestürmt, hätten Sauls Männer überrascht, überwältigt, getötet.
Nach dem Blutbad wären sie die Sieger gewesen. Ob sich die Anhänger Sauls damit abgefunden hätten? Gewalttätige Auseinandersetzungen wären wie ein ständig wiederkehrendes Fieber mal hier, mal da ausgebrochen. Niemand würde ruhig schlafen, immer herrschte Alarmbereitschaft.
Für die, die auf Israels Schwäche hofften, wäre das ein ideales Szenario geworden. Die Philister und Amalekiter hätten die Uneinigkeit Israels genutzt. Die Philister waren ohnehin viel stärker als Israel. Sie hatten mehr Waffen, mehr Truppen, neuere Technologien, waren reicher und hatten größeres Ansehen in der Welt. Die Amalekiter hätten Israels Uneinigkeit gefeiert. Sie hätten diese ihnen lästigen Leute aus Israel endgültig in die Schranken gewiesen. Vielleicht sogar für alle Zeiten das Problem mit ihnen gelöst.
Hätte es auch anders kommen können. Was wäre geschehen, wenn David im Dunkel der Höhle geblieben wäre?
Was wäre, wenn – Szenario 2:
David hätte nichts getan.
Wäre David sitzen geblieben, hätten sich seine Männer gewundert, gemurrt, ihr Unverständnis gezeigt. Aber Davids Autorität galt. Ohne seine ausdrückliche Zustimmung, wären sie nicht gegen Saul vorgegangen. Er hätte auch einfach von Saul unbemerkt in der Höhle warten und Saul weiterziehen lassen können. Für die Friedliebenden wäre der Verzicht auf einen Angriff auf Saul eine verführerische Option. So würde man den Streit nicht weiter nähren, man würde abwarten, bis der Konflikt sich von selbst gelegt hätte. Man würde hoffen, dass der Verfolger irgendwann aufgibt und einlenkt. Hätte das dem Frieden gedient? Wäre es auf diese Weise gut für David ausgegangen? Saul wusste, dass David in der Gegend ist. Er hatte eigens seine Truppen verstärkt – es ist die Rede von 3000 Männern. Saul wollte den Rivalen jagen und ihn stellen. Er wollte seine Macht verteidigen – auch mit äußerster Gewalt. Es hätte keinen Frieden gegeben, wenn David nichts getan und ihm nicht nachgerufen hätte. Saul wollte keinen Frieden. Er wäre aus der Höhle zu seinen Leuten zurückgekehrt und hätte seine Truppen weiter in Stellung gebracht. Sein Geheimdienst hätte ihm bald danach die genaueren Koordinaten von Davids Aufenthaltsort genannt und Saul wäre zur Höhle zurückgekehrt. David hätte die Eskalation des Konflikts mit Saul nicht durch Nichthandeln verhindern können. Es wäre womöglich erst recht zu einem Blutbad gekommen. Eine Garantie für den Frieden wäre Davids Verzicht keinesfalls gewesen.
Was die Bibel so harmlos erzählt, lenkt eigentlich davon ab, dass Davids Auftritt riskant war. David hat Saul provoziert. Das hätte auch anders ausgehen können.
Was wäre, wenn – Szenario 3
Saul hätte David angegriffen
Zwei erbitterte Konkurrenten treffen aufeinander. Saul fühlte sich durch David gedemütigt. Da waren die Jubellieder der Frauen: „Saul hat 1000 erschlagen, aber David hat 10.000 erschlagen“ (1Sam 18,7). Sauls Wut auf David war groß. Seit seinem Sieg über die Amalekiter wusste er, dass er ein König auf Abruf war. Er hatte Gott nicht gehorcht. Er sollte alles Amalekitische restlos vernichten und tat es nicht. So war er zu einer tragischen Figur geworden. Gott hatte ihm die Königswürde entzogen. Er war ein Gesalbter – ein Messias, das würde niemand von ihm nehmen. Aber Anführer von Israel konnte Saul nicht mehr bleiben. Verstanden hatte Saul nie, was Gott mit dieser harten Forderung erreichen wollte, als er alles Amalekitische zerstören sollte. Aber damit ist er nicht allein. Es gab Gründe – nur erschließen sich die nicht auf dem Schlachtfeld. So steht Saul also vor David, seinem Konkurrenten und einstigem Ziehsohn und sieht den, der alles hat, was ihm fehlte. Den Zipfel seines Mantels – seines Königsmantels – hatte der ihm abgeschnitten. Das war keine Kleinigkeit. Es war, als ob er ihm schon ein Stück seines Königtums weggeschnitten hatte. Gott, Israel und sogar seine eigene Familie liebten David mehr als ihn. Samuel, sein einstiger Berater und Coach, weigerte sich, ihn zu unterstützen. Er ist die Vergangenheit. David ist die Zukunft. Welche Optionen blieben Saul noch? Es hätte losschlagen können. Ein kleines Handgemenge und die Unterstützung durch seine Männer hätten genügt.
Was wäre geschehen, wenn Saul, der schwankende König, seine letzte Karte, die der tödlichen Gewalt gegen David, ausgespielt hätte? Er hätte nicht nur seine eigene Zukunft – die längst besiegelt war – sondern auch Israels Zukunft in den Abgrund gestoßen. David war die Zukunft Israels. Wenn die Hoffnungsträger Israels und Lieblinge Gottes zu Fall kommen, folgt für Israel großes Elend. Die Geschichte Israels erzählt davon – sogar in jüngster Zeit.
Was wäre, wenn … ? Alle alternativen Szenarien hätten zu Gewalt, Krieg und Tod geführt. War Davids Handeln also alternativlos? Die Bibel erzählt uns eine zweite, ganz ähnliche Geschichte. Hier schleicht sich David nachts in Sauls Lager und tötet Saul auch dieses Mal nicht, sondern entwendet ihm nur den Speer und einen Wasserkrug (1Sam 26). Ein weiteres Mal verzichtete David darauf, sich seines ärgsten Widersachen zu entledigen. David hatte sich beide Male entschieden in Saul den zu sehen, zu dem Gott ihn gemacht hatte. David hat Saul als den Gesalbten und nicht als den tödlichen Gegner angesehen.
Warum erzählt uns die Bibel das gleich zwei Mal?
David hütete sich, den Gesalbten Gottes anzutasten. Er schützte Israel und warnt es zugleich. Hätte David Saul ermordet, hätte er gewaltsam die Identität Israels preisgegeben. Saul war Gottes Gesalbter. Saul stand mit seiner ganzen Person für Israels Weg mit Gott. Saul war der erwählte Mensch, der zeigte, wie groß und wie gefährdet Menschen sein können, die ihren Weg mit Gott gehen. Wir sehen an Saul das Scheitern und das Gelingen, die Liebe zu Gott und die Sehnsucht nach Gott. Wir sehen das Versagen, die Verzweiflung und Seelenfinsternis, die alles verdunkelt, wenn sich Gott entzieht. Wir können uns in Saul wiederentdecken. Wir sind wie er – königliche und von Gott geliebte Kinder. Saul ist wie wir in unserem Suchen und Fragen nach Gott. Wir sind gefährdet wie Saul, wenn wir Gottes dunkles Schweigen nicht mehr ertragen.
Und warum hören wir heute diese Geschichte
David wählte den Weg, der Frieden und Versöhnung möglich macht. David zeigte sich dem, der ihn bedrohte und machte sich angreifbar. So rettete er diesen großen und verzweifelten Saul. Der konnte für den einen Moment erkennen, was dem Frieden dient. Indem David mit seinem Verzicht auf Gewalt Israel vor dem Abgrund bewahrte, rettete er auch uns.
Was wäre geschehen, wenn David eine der Alternativen gewählt hätte? Bei jedem anderen Szenario gäbe es weder Israel noch uns. Es gäbe keinen Davidssohn und die unzugänglichen Berge von En-Gedi wären kein Ort, an dem man nach Hoffnung und Frieden Ausschau halten könnte.
Amen.
—
Dr. Katharina Wiefel-Jenner
Berlin
Katharina Wiefel-Jenner, geb.1958, Pfarrerin i.R., bildet als Dozentin für Liturgik und Homiletik Ehrenamtliche für den Verkündigungsdienst aus.