1. Timotheus 3,16

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«Pst, ein Geheimnis!» | Christnacht | 24.12.2024 | 1Tim 3,16 | Nadja Papis |

Anmerkung: Vor der Predigt wird ein sehr bekanntes, voll klingendes Weihnachtslied gesungen.

Liebe Gemeinde,

wow, wie das gerade geklungen hat! Ein überwältigender Gesang! Die Kirche dröhnte beinahe mit! Aus vollem Herzen gesungen – die Botschaft von Weihnachten. Wie schön ist das!

Aber eigentlich ein Gegensatz zu unserem heutigen Bibelvers, der spricht von einem Geheimnis:

Und anerkanntermassen gross ist das Geheimnis der Frömmigkeit:

Er, der offenbart wurde im Fleisch, gerecht gesprochen im Geist,

geschaut von den Engeln verkündigt unter den Völkern,

im Glauben erkannt in aller Welt, aufgenommen in Herrlichkeit.

(1.Tim 3,16)

Das Geheimnis der Frömmigkeit – das Geheimnis des Glaubens…

Ein Geheimnis…

Das kannst du nicht einfach so in die Welt heraus posaunen!

Oder im überwältigenden Gesang aus voller Kehle schmettern!

Ein Geheimnis ist etwas ganz Stilles, Schweigendes. Pst! Es ist ein Geheimnis!

Das wird nicht ausgeplaudert, oder wenn, dann nur unter vorgehaltener Hand oder im vertrauten Kreis. Das musst du doch für dich behalten!

Weihnachten ist ein Geheimnis.

Ja… Nein, sicher nicht. Alle Welt weiss, was Weihnachten ist. Und was es bedeutet. Und was damals geschehen ist. Oder?

Nun ja, unser Vers sagt es ja auch: kurz und knapp zusammengefasst:

Er, der offenbart wurde im Fleisch, gerecht gesprochen im Geist,

geschaut von den Engeln verkündigt unter den Völkern,

im Glauben erkannt in aller Welt, aufgenommen in Herrlichkeit.

Ist doch jetzt allen klar, was Weihnachten bedeutet.

Oder vielleicht doch nicht.

Hm, es ist nicht so einfach zu erfassen, dieses Weihnachtsgeschehen. Es wird ja auch nicht wirklich beschrieben, was in jener Heiligen Nacht geschehen ist. Also klar, ein Kind kam zur Welt. Wie das geht, wissen wir, seit Geburten im Fernsehen oder auf social media live übertragen werden. Aber das kann es ja nicht gewesen sein. Es kommt so manches Kind zur Welt. Nein, nur die Geburt, das wäre kein Grund für einen Festtag.

Weihnachten ist mehr: Der Messias, der Retter, der Erlöser, der Sohn Gottes kam zur Welt. Aha. Aber was war denn an diesem einen Kind so besonders? Woran haben die das gesehen? Was haben sie erlebt, um diese Botschaft verkünden zu können? Das Wort wurde Fleisch, das Licht kam in die Finsternis, Gott wurde Mensch.

Ich kann nichts machen: Es bleibt ein Geheimnis, was da geschehen ist. Ich verstehe es nicht wirklich.

Und das macht ja auch nichts: Ein Geheimnis ist etwas Spannendes für mich. Ich habe es gern, wenn ich überrascht werde, wenn andere sich etwas ausdenken für mich. Die Weihnachtsvorbereitungen sind oft geheimnisvoll. Da wird im Versteckten gebastelt, eingepackt und vorbereitet. Liebevolle Überraschungen werden ausgeheckt. Ich bin ein schrecklich neugieriger Mensch und liebe es, den Spuren und Ahnungen nachzugehen, die ich von diesen geheimniskrämerischen Unternehmungen habe. Genauso geht es mir mit Geheimrezepten, welche in vielen Familien Tradition haben. Sofort will ich mehr wissen: Was ist denn da so Besonderes drin? Was muss ich tun, um das Rezept zu bekommen? Wir haben mittlerweile eine ganze Sammlung solcher Geheimrezepte von Familien für besondere Leckereien und Gerichte und freuen uns darüber. Weitergeben dürfen wir keines, aber sie wurden uns anvertraut, weil wir so begeistert davon waren und nicht lockergelassen haben. Geheimnisse schaffen Verbundenheit: Die, welche sie kennen, werden durch sie verbunden.

Und dann sind da noch die anderen Geheimnisse, die Weihnachten zu einem unerträglichen Fest machen können: die unausgesprochenen, leidvollen, verstörenden Familiengeheimnisse. Das, was nie erzählt oder erwähnt werden darf, aber trotzdem im Raum steht. Verschwiegene Familienmitglieder, verborgene Geschehnisse in der Vergangenheit, verdeckte Wahrheiten und Abgründe, unausgesprochene Differenzen. Das Geheimnisvolle bekommt hier einen ganz anderen Charakter, hat nichts mehr mit Neugier, Überraschung, Zuneigung und Verbundenheit zu tun, sondern mit Unterdrückung, Unehrlichkeit und Verdrängung. Diese Art von Geheimnis beschwert das Leben aller, die damit in Kontakt sind.

Psst, ein Geheimnis!

Und anerkanntermassen gross ist das Geheimnis der Frömmigkeit:

Er, der offenbart wurde im Fleisch, gerecht gesprochen im Geist,

geschaut von den Engeln verkündigt unter den Völkern,

im Glauben erkannt in aller Welt, aufgenommen in Herrlichkeit.

Unser Bibelvers ist ein Christushymnus, also ein gesungener Lobpreis, laut gesungen. Und trotzdem spricht, singt er vom Geheimnis des Glaubens, verkündet Worte, die menschliche Möglichkeit, um zu beschreiben, was in dieser Heiligen Nacht geschehen ist.

Wenn wir genau hinschauen, wird in drei Gegensatzpaaren das Himmlische und das Irdische einander gegenübergestellt: das Fleisch – dem Geist; die Engel – den Völkern; die Welt – der Herrlichkeit. Das Geheimnis von Weihnachten lässt sich in wenige Worte fassen: Himmel und Erde sind zusammengekommen, Göttliches und Menschliches hat sich verbunden, das ewige Wort wurde in einem Menschen erlebbar. Es ist kein Geheimnis, es ist zur Frohen Botschaft geworden. Es ist kein Geheimnis, es wird laut verkündet, gesungen, gepredigt, beschrieben. Und doch verstehe ich es nicht. Es bleibt ein Geheimnis. Es bleibt eine Ahnung, eine Spur, der ich gerne nachgehe, die ich aber nie ganz erfassen kann. Es bleibt ein Geheimnis des Glaubens. Unfassbar, aber erlebbar – in der uralten Geschichte von der Geburt im Stall, in jedem Lied, das mir so zu Herzen geht, in all den kleinen und grossen Überraschungen und Traditionen, die Weihnachten bereithält. Und manchmal auch in dem Wunder, das geschieht, wenn eines dieser bedrückenden und verstörenden Familiengeheimnisse endlich laut ausgesprochen werden darf.

Für mich hat der Glaube immer einen Geheimnischarakter, denn das grösste Geheimnis ist «Gott» für mich. Wir reden oft so, wie wenn wir Gott kennen würden, wie wenn wir Gott sehen, hören, denken und begreifen könnten. Gerade an Weihnachten wird mir klar, wie unmöglich das ist. Ich kann vertrauen, ich kann glauben, ich kann auch spüren und manchmal erleben, wie das Göttliche wirkt, aber es bleiben Ahnungen, Spuren, oft auch Überraschungen und manchmal Wunder. Wer unter uns kann wissen, wie Gott ist? Oder denkt oder fühlt?

Niemand hat Gott je gesehen, aber wenn wir einander lieben, bleibt Gott in uns und die göttliche Liebe ist in uns vollendet.

Was ist also Weihnachten? Ein Geheimnis des Glaubens? Oder einfach das Fest der Liebe? Der lautstarke Gesang oder das geheimnisvolle Schweigen? Spielt das überhaupt eine Rolle?

Ich bin überzeugt: Die Botschaft dieser Heiligen Nacht findest du nicht nur in der Krippe im Stall. Du findest sie auch in deinem Herzen, in der Liebe und Verbundenheit mit anderen, im gemeinsamen Schmettern von Weihnachtsliedern und im geheimnisvollen Schweigen. Ich wünsche dir, dass du von diesem weihnächtlichen Geheimnis berührt wirst, das es dich bewegt – hin zu mehr Menschlichkeit, zu mehr Liebe, zu all dem Himmlischen, welches das Leben für dich bereithält.

Amen


Pfrn. Nadja Papis

Langnau am Albis

nadja.papis@refsihltal.ch

Nadja Papis, geb. 1975, Pfarrerin in der ev.-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich/Schweiz. Seit 2003 tätig im Gemeindepfarramt der Kirchgemeinde Sihltal.