1. Timotheus 3,16

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Mit allen Sinnen staunen | Christnacht | 24.12.2024 | 1Tim 3,16 | Sabine Handrick |

Liebe Gemeinde zur Heiligen Nacht,

ihr habt euch zu später Stunde aufgemacht, damit wir miteinander hier in der Kirche die Christnacht feiern. Die gemütlichen Weihnachtsstuben und die fröhlichen Familienrunden habt ihr getauscht gegen einen Spaziergang durch die Nacht. Manche haben sogar einen längeren Anfahrtsweg auf sich genommen. Es ist etwas Besonderes, Geheimnisvolles an dieser Heiligen Nacht, die sich heraushebt aus allen anderen Nächten des Jahres.

Meine Lieben, was hat euch getrieben?

War es der Wunsch, die Worte der Erzählung aus dem Lukas-Evangelium zu hören, damit nach Festschmaus und Bescherung nun auch das Herz genährt werde? Sind es die vertrauten Lieder – denn ohne das gemeinsame Singen von «Stille Nacht» und «Es ist ein Ros entsprungen» … würde dir etwas fehlen? Oder bist du dem stillen Plan gefolgt, der in eurer Familie einfach da ist – einer guten, alten Tradition?

Vielleicht hast du’s zuhause nicht mehr ausgehalten, die Stille und Einsamkeit und die Traurigkeit – heute noch einmal unter Menschen sein … und nicht allein?

Auf der Suche nach Zuspruch, nach Worten, die du dir nicht selber sagen kannst, möchtest du etwas spüren, das deine Seele ins Schwingen versetzt …

Wie es auch sei … und ein wenig von alledem könnte dabei sein. – Ich hoffe, dass du findest wonach du dich sehnst. Schliesslich ist doch heute die Nacht, an der sich Wünsche erfüllen sollen, oder?

Meine Lieben, ich möchte mit euch versuchen, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen, das sich mit der Heiligen Nacht verbindet.

Es gibt einen uralten Hymnus – heute ist es der Vers für die Predigt. Er besteht aus einem einzigen Satz, der in seiner griechischen Struktur kunstvoll verschränkt und verdichtet ist und dessen Rhythmus sich kaum ins Deutsche übertragen lässt. Im 1. Timotheus-Brief wurde uns diese Liedstrophe überliefert. Von den frühen Christen wurde sie gesungen. Sie klang in ihnen nach, die konnten sie in- und auswendig. Knowing by heart.

Und immer wieder mögen sie sich daran festgehalten haben, wenn diese Worte aus der Seele aufstiegen und ins Bewusstsein kamen in Momenten, wo das Leben schwer und trostlos schien. Der Glauben war ihnen Kraftquelle und Halt. Sie brauchten nicht viele Worte, um das Geheimnis des Glaubens zu beschreiben. Sie sangen von dem Mysterion, dass Gott Mensch geworden war. So lebte dieses Lied in ihnen, viele Generationen trugen es weiter.

Können auch wir darin etwas für uns entdecken?

Es ist ein wahres Weihnachtswunderjubellied:

Und wie groß ist diese Wahrheit! Wie einzigartig ist das Geheimnis, auf das sich unser Glaube gründet! Er, der zu uns kam als Mensch von Fleisch und Blut, der als Sohn Gottes beglaubigt wurde durch Gottes Geist und der den Engeln erschien in seiner Macht – er wurde verkündet unter den Völkern, im Glauben angenommen in aller Welt und im Himmel mit Herrlichkeit gekrönt. (NGÜ)

Von unseren Liedern kommt dem RG: 395 am nächsten, lasst uns singen:

  1. Lobt Gott, ihr Christen, alle gleich, in seinem höchsten Thron,
    der heut schließt auf sein Himmelreich, und schenkt uns seinen Sohn, und schenkt uns seinen Sohn.
  2. Er kommt aus seines Vaters Schoss und wird ein Kindlein klein.
    Er liegt dort elend, nackt und bloß in einem Krippelein, in einem Krippelein.

Liebe Gemeinde, zum Glück gibt es Künstler/innen, die mit Worten, Bildern und Musik etwas von dem Geheimnis hörbar, sichtbar und fühlbar machen. Ich will es heute Abend nicht zerreden oder theologisch analysieren. Viel lieber möchte ich, dass wir das Staunen üben, dass wir neu hören und sehen und entdecken, was wir schon seit Kindertagen kennen.

So lade ich euch ein, mit mir virtuell nach Italien zu reisen. In den Uffizien von Florenz ist ein Bild von Gerrit van Honthorst ausgestellt, vor dem wir jetzt stehen bleiben. 1 (Bild einblenden!)

Gott wird ein Kind! Wenn das nicht zum Staunen ist!

Wer kann das fassen? Eigentlich niemand.

Aber doch – das Unfassbare geschieht und wird sozusagen greifbar – begreifbar.

Der ferne, unsichtbare, unerkannte Gott, der Schöpfer des Himmels und der Erde, den wir so oft nicht verstehen und der uns oft ungerecht und grausam dünkt, dieser Gott überbrückt die himmelweite Entfernung zwischen uns. Gott kommt uns nahe, hautnah, ein Mensch aus Fleisch und Blut! Zärtlicher, liebevoller, sanfter, vertrauensvoller, wehrloser und entwaffnender können wir uns Gott kaum denken.

Ich habe dieses Gemälde des niederländischen Caravaggio-Schülers aus dem 17. Jahrhundert ausgewählt, weil uns aus ihm das Geheimnis der Menschwerdung Gottes entgegen leuchtet. Alles Licht geht von dem Neugeborenen aus, das nackt und rosig auf seinem Strohbettchen liegt. Es wirkt selbst wie eine Lichtquelle, in deren Widerschein die anderen Personen auch strahlen.

Maria beugt sich von oben her leicht über das Neugeborene, ihre Züge sind entspannt und glatt. Im Lichte des Kindes verschwindet jede Anstrengung der Geburt. Hinter ihr erkennt man den älteren Josef, ebenso lächelnd das Kind betrachtend. Ihn beleuchtet der helle Schein weniger, er bleibt im Dunklen, im Hintergrund.

Offensichtlich ist der Maler viel mehr an den beiden Hirtenbuben interessiert, die genau in der Blickrichtung des Kindes stehen. Auf ihren Gesichtern spiegelt sich das Licht des Kindes wieder.

Die ganze Szene wirkt schlicht, keine Spur von himmlischen Heerscharen oder Heiligenscheinen. Mit ihren eifrig-roten Wangen und ihre weichen Locken strahlen die kindlichen Gesichter völlig natürlich. Ihr spontanes Lächeln genügt. Mehr braucht es nicht. Die Umstände der Geburt waren schmucklos und armselig: Eine Handvoll Menschen, etwas Stroh, eine Windel und Licht erzählen vom Geheimnis der Heiligen Nacht.

Schaut: Welche Freude! Die von den Engeln angekündigte Freude ist wirklich auf den Gesichtern der Knaben zu sehen.

Vorbei – die Schrecken der endlosen Nächte, vorbei das Sorgen und die Mühe um die anvertrauten Tiere, vorbei – die Schlaflosigkeit und die Kälte, vorbei – die schlotternden Knie als ihnen der Engel erschien. Kostbar der Augenblick, das Neugeborenen zu sehen – Freude herrscht!

Die jungen Hirtenbuben bilden mit dem Kind in der Krippe das Zentrum dieses Bildes.

Ihr ansteckendes Lächeln lässt uns mitstrahlen: „Ich sehe dich mit Freuden an und kann mich nicht sattsehen…2 Sie bestaunen das Kind, ihre Augen leuchten, ihre ganze Körperhaltung, ihre betenden Hände zeugen vom Geheimnis des Glaubens.

Teilen wir ihre Freude und stimmen wir ein in den Jubel des Liedes RG: 401,1-2

  1. Fröhlich soll mein Herze springen dieser Zeit, da vor Freud alle Engel singen.
    Hört, hört, wie mit vollen Chören alle Luft laute ruft: Christus ist geboren!
  2. Heute geht aus seiner Kammer Gottes Held, der die Welt reißt aus allem Jammer.
    Gott wird Mensch, dir, Mensch, zugute, Gottes Kind, das verbindt, sich mit unserm Blute.

Beim Betrachten dieses Weihnachtsbildes gehen mir auch Worte des erwachsenen Jesus durch den Sinn: „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir folgt, wird nicht in der Finsternis umhergehen, sondern das Licht des Lebens haben.“ (Joh. 8,12).

Der Künstler malt die Hirtenbuben so, dass wir ihnen abnehmen: Diese halbwüchsigen Kinder haben in jener Nacht das Licht ihres Lebens gesehen. Sie werden dieses Licht in ihren Herzen bewahren. Und selbst wenn ihnen in ihrem ganzen Leben keine Gottesbegegnung mehr gäbe, dieser Moment würde genügen. Mehr braucht es nicht als ihr Staunen voller Freude. Das wird sie durch ihr Leben tragen.

Können wir das auch, meine Lieben? Wagen wir den naiven, unverstellten Blick auf das Wunder, das da geschehen ist in Bethlehem? Leuchtet das Licht der Gottgeburt in unseren Herzen? Finden wir das Geheimnis des Glaubens, das sich so schwer beschreiben, eher besingen lässt? Trägt uns das „Licht der Welt“ durch die Dunkelheiten unserer Tage, durch die wir eher orientierungslos stolpern, als dass wir die Richtung wüssten…?

Meine Lieben, dieser Jesus hier wird als Erwachsener seinen Jüngern versichern: „Amen, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und wie die Kinder werdet, könnt ihr nicht ins Himmelreich kommen.“ (Mt.18,3) – Gerrit van Honthorst malte die kindlichen Hirten ganz in dem Sinne, wie Jesus selbst den Jüngern die Kinder vor Augen stellt. Schaut, seht ihre Freude, wie offen sie sind und dem Herzen Gottes nahe. Nehmt sie euch als Beispiel. Achtet und beachtet die Kinder. Sie zeigen euch den Weg, den ihr als Erwachsene auch gehen könnt. Kehrt um, werdet wie die Kinder!

Im 21. Jahrhundert nun scheint der Zugang zum Glauben immer mehr Menschen versperrt. Sie lassen „den lieben Gott einen guten Mann sein“, kehren in Scharen der Kirche den Rücken. Enttäuscht von Machtmissbrauch und das Evangelium verdunkelnden Strukturen in den Kirchen, wenden sie sich ab. Das bedauere ich zutiefst.

Das Heil aber in den Versprechungen einer postmaterialistischen Leistungsgesellschaft zu suchen, die den Einzeln zunehmend überfordert und ratlos zurücklässt, mir wäre das zu wenig für mein Leben. Ich bin ‚gottefroh‘, dass ich nicht alles aus mir selbst schaffen muss, dass ich vertrauen darf auf die göttliche Kraft, die in dieser Welt ist.

Ich zitiere Kurt Marti, den wunderbaren Gottespoeten, der treffend sagt: (Gitarrenakkord erklingt) „An Weihnachten wurde die ‚Weltsaite‘ gespannt, die Gott und Mensch verbindet, die den Prozess unserer Menschwerdung hält und steuert. Und wenn es zuweilen scheint, dass alle Stricke reißen – diese Saite reißt nicht.

Zu tief, zu endgültig hat Gott sich an Weihnachten mit uns Menschen eingelassen. Zu sehr ist er nun am Prozess unserer Menschwerdung beteiligt. Die Stürme der Unmenschlichkeit, die durch uns selber, durch unser Leben, durch unsere Welt fegen und gefährlich an allen Hoffnungen rütteln, sie können die an Weihnachten ein für allemal gespannte Saite nicht mehr entzweireißen, sie bringen sie immer nur mehr zum Singen: Sie singt vom kommenden Menschen, wie Gott ihn vollenden wird nach dem Bilde des Menschen Christus. Das ist die Zukunftsmusik, die erstmals über dem nächtlichen Bethlehem aufklang.“ 3

Möge Gottes Liebeslied und hoffnungsvolle Zukunftsmusik überall, nicht nur in unseren Kirchen erklingen – das ist mein Weihnachtswunsch, auf dass in unseren Herzen frohes Gott-Vertrauen wachse!

Es war Gottes überfliessende Liebe zu uns, die ihn in unsere Arme getrieben hat.

Nichts, nichts hat dich getrieben zu mir vom Himmelszelt
als das geliebte Lieben, damit du alle Welt
in ihren tausend Plagen und großen Jammerlast,
die kein Mund kann aussagen, so fest umfangen hast.
4

So antwortet Paul Gerhardt in einem Adventslied auf die Frage, die ihn umtreibt: „Wie soll ich dich empfangen?“

Lauschen wir – staunen wir – freuen wir uns!

Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium nimmt im Schluss-Choral5 die musikalischen Motive und somit die eingangs gestellte Frage dieses Adventslieds wieder auf.

Die Antwort ist jubelndes Strahlen! Hören wir die außergewöhnliche Aufnahme von „German Brass“, einem zehnköpfigen Bläserensemble. 6

Amen

Der Frieden Gottes, der höher ist als unsere Vernunft,

bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.

Zum Segen:

Und wenn ihr nun in die Stille Nacht geht,

wie die Hirten, die umkehrten und wieder zu ihren Herden gingen,

wenn ihr nun in die wilde, wüste Dunkelheit eures Lebens zurückgeht,

dann nehmt das Licht und den Zuspruch der Engel mit!

Ich habe von Jan Richardson7, einer britischen Künstlerin und Pastorin folgenden Segen gefunden,

den ich mit euch teilen möchte:

Wenn du in die Wildnis gehst, beginne nicht ohne einen Segen.

Geh nicht, ohne zu hören, wer du bist:

Geliebt, benannt von dem Einen, der diesen Weg vor dir gegangen ist.

Geh nicht, ohne sein Echo widerhallen zu lassen in deinen Ohren.

Und wenn du findest, dass es schwer ist,

ihn in dein Herz zu lassen, verzweifle nicht.

Dazu ist diese Reise da.

Ich kann nicht versprechen, dass dieser Segen dich vor Gefahr bewahrt,

vor Angst, vor Hunger oder Durst, vor Versengung durch die Sonne

oder dem Einbruch der Nacht.

Aber ich kann dir sagen, dass es auf diesem Weg Hilfe geben wird.

Ich kann dir sagen, dass auf diesem Weg Ruhe sein wird.

Ich kann dir sagen, dass du die seltsame Gnade erfahren wirst,

durch die, die uns zu Hilfe kommen,

nur auf einem Weg wie diesem,

die uns entgegenfliegen mit Trost und Kraft,

die uns zur Seite stehen,

aus keinem anderen Grund,

als sich an unser Ohr zu lehnen

und mit ihrer neugierigen Beharrlichkeit

unseren Namen flüstern:

Geliebt.

Geliebt.

Geliebt.


Sabine Handrick

Quellen:

1https://en.wikipedia.org/wiki/Adoration_of_the_Christ_Child_(Honthorst)#/media/File:Gherardo_delle_Notti_o_Gheritt_van_Hontorst_-_Adorazione_del_Bambino_-_Google_Art_Project.jpg

2 RG 402, „Ich steh an deiner Krippen hier“

3 zitiert aus: https://zeitzeichen.net/node/9483

4 RG 367,5 „Wie soll ich dich empfangen?“

5 „Nun seid ihr wohlgerochen“ (BWV 248)

6 https://www.youtube.com/watch?v=qehVv3kASy4

7 https://www.tennesonwoolf.com/beloved-is-where-we-begin-jan-richardson/