1. Timotheus 3,16

· by predigten · in 15) 1. Timotheus / 1 Timothy, Aktuelle (de), Beitragende, Bibel, Christnacht, Deutsch, Kapitel 03/ Chapter 03, Kasus, Neues Testament, Predigten / Sermons, Udo Schmitt

Das Geheimnis dieser Nacht | Christnacht | 24.12.2024 | 1Tim 3,16 | Udo Schmitt |

Wege.

Welchen Weg haben Sie auf sich genommen, um heute hier zu sein? Wie weit war Ihr Weg, um hierher zu gelangen? Sind Sie, wie die Weisen, aus der Ferne gekommen, über die Autobahn, vorbei an Staus, liegengebliebene Fahrzeuge, Baustellen, Kreuze, Abfahrten; aus den übernächsten Ortschaften, vereiste Straßen, zu hohe Bordsteine, rumpelige Feldwege? Oder hatten Sie den Weg der Hirten zu bewältigen: Irgendwie mit dem Gefühl gekommen, nicht her zu passen, heute, jetzt, hier, weil zu wenig Zeit, weil eigentlich keine Lust, weil es nicht meine Welt ist, weil ich mich innerlich oder äußerlich nicht vorbereitet fühle, weil – ach, was tu ich hier eigentlich? Und doch haben Sie sich auf den Weg gemacht und haben die eine oder andere Unbill ertragen, Hürde überwunden. Und doch sind Sie hier. Und doch sind wir hier. Ganz unterschiedliche Menschen, mehr als sonst, unterschiedlicher als sonst im Jahr. Warum bin ich hier?

Unkaputtbar.

Kein Fest umgibt eine solche Ausstrahlung, kein Fest bringt mehr Menschen in Bewegung, kein Fest setzt mehr Geschichten frei, mit keinem Fest werden mehr Hoffnung, mehr Verzweiflung, mehr Sehnsucht, mehr Drängen verbunden als mit Weihnachten. Woher hat die Weihnacht diese Kraft? Kein Fest ist kommerzialisierter, es taugt für mindestens vier Monate Vorausgeschäft, es gibt fast keinen Musiker, der nicht eine Weihnachts- oder Christmas-CD herausbringt und wir werden verfolgt von Bing Crosby, Wham, Andre Rieu oder Bach – kein Fest wird mehr verramscht – und doch, wunderbarerweise, trotz allen Kitschfaktors: es ist, Gott sei Dank, unkaputtbar. Und würden wir alle Geschenke aufeinanderstapeln und uns noch draufstellen – Weihnachten ist mehr. Woher hat die Weihnacht diese Kraft? Weihnachten hat ein Geheimnis, ein unkaputtbares, ein trotz allem unverkäufliches, weil unerreichbares, uneinholbares Geheimnis. Wir ahnen das, wenn wir das Geheimnis um Weihnachten in den verpackten, versteckten Geschenken nachahmen. Viele Gedichte sind wie Geschenke verpackt. In ihnen werden Worte gesucht, um das auszudrücken, was man nicht ausdrücken kann. Eines der ältesten, ein Lied sogar, beginnt so: „Und groß ist, wie jedermann bekennen muss, das Geheimnis des Glaubens: Er [Christus] ist offenbart im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, erschienen den Engeln, gepredigt den Heiden, geglaubt in der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit.“

Geheimnis.

Wir leben in einer Welt, in der es von bewahrten und aufgedeckten Geheimnissen nur so wimmelt. Täglich entreißt die Wissenschaft der Welt mehr Geheimnisse und Fernsehen, Funk und Zeitung bemühen sich, uns täglich mit der Aufdeckung peinlichster, privatester, geschmacklosester Geheimnisse zu füttern. Aber Geheimnislosigkeit ermüdet. Nichts ist langweiliger als nackte Tatsachen. Und Menschen beginnen zu suchen. Es muss doch mehr geben als die fade Aufgedecktheit und Erklärtheit des Lebens. Und statt uns ein neues „Nichtgeheimnis“ ins Haus liefern zu lassen, machen wir uns auf den Weg, ein Geheimnis zu suchen und zu feiern. Es ist das Geheimnis dieser Nacht: Himmel und Erde berühren sich. Gott kommt in einem Säugling zur Welt, Gott und Mensch werden eins. Engel und Völker kommen einander so nahe wie nie, Himmel und Erde berühren sich, unsere Welt und Gottes Herrlichkeit lassen sich nicht mehr trennen. Ein Stück Himmel ist mitten unter uns. Der Himmel wird durchlässig, die Erde wird hell.

EG 41,1-2

Himmel und Erde haben sich berührt.

Himmel und Erde haben sich berührt. Wie ging das zu? – Ich weiß es nicht. Wie konnte Gott in einem Kind zur Welt kommen? – Ich weiß es nicht. Wie konnte eine Frau Gott zur Welt bringen? – Wieso hat Gott diesen Weg gewählt und keinen anderen? Ich weiß es nicht. Ich kann das Geheimnis mit aller Grübelei und den schlauesten Köpfen dieser Welt erforschen, bedenken, zerreden. Aber nicht lösen. Es ist das größte Geheimnis dieser Welt. Es ist göttlich. Denn: Weihnachten ist für alle Zeit mehr. Und ehrlich – ich möchte mir nicht vorstellen, wie einer der Hirten an der Krippe steht und Maria sachlich nüchtern angeht: „Bitte teilen Sie mir die Umstände und die Einzelheiten Ihrer Empfängnis, Schwangerschaft und Geburt detailliert mit und geben Sie sie mir in dreifacher Ausfertigung mit, Unterschrift bitte unten links. Datum und Ort nicht vergessen.“ Gott wird Mensch – da soll ich zum Bürokraten werden? Nein, wer an der Krippe, am Futtertrog steht, will das nicht, kann das nicht. Dafür ist nicht die Zeit. Denn es ist etwas Uneinholbares geschehen, das sich nicht fotografieren, nicht simsen, nicht protokollieren lässt: Die Welt ist nicht mehr die alte. Die Welt ist nicht mehr dieselbe. Die Welt ist sich nicht mehr selbst überlassen. Gott wurde Mensch, so dass Engel und Hirten dieses Kind anbeteten. Das ist das Geheimnis des Glaubens. Da ist kein Platz für Religionspaparazzi, aber da ist Platz für Menschen, die staunen, sich freuen, die singen.

EG 41,3-4

Weihnachten.

Es ist letztlich das Geheimnis des Glaubens, das dieses Fest lebendig hält. Es ist das Wunder dieser Nacht, das meine Seele in Bewegung hält, mich sehnen lässt nach dem Augenblick, in dem der Himmel über mir und für alle aufreißt, durchlässig wird, dass ich Gottes „angesichtig“ werde. In einem Psalm heißt es: meine Seele klebt an dir, Gott. Ich klebe an Weihnachten, weil mir Gott hier so nahe kam wie nie. Er hat andere Dinge getan, die vielleicht sogar eine größere Bedeutung haben für mein Seelenheil, aber hier ist er mir nahe, berührt mich, verwundete mich, verwundete sich, machte sich verwundbar und ist darum bei mir. Und ich spüre seine ganze Lebenslust an mir Mensch, wenn er sich hier so weit zu uns herunterbeugt und mir zuflüstert: Hier bin ich ganz und gar: Gott und Mensch. Suchst du den Grund des Lebens? Hier bin ich, ganz, mit den Menschen vereinigt.

Schauen.

Mein Wunsch nach Ganzheit und meine Sehnsucht nach Vereinigung – sie ist hier geworden. Wie viel mehr werde ich je von Gott zu sehen bekommen, erfahren? Mose, einer der Größten der Bibel, erbat sich einmal, Gott sehen zu dürfen. Er hatte es wirklich verdient. Wenn er nicht, wer dann. Wow! Ist es das nicht? Gottes Glanz, Schönheit, Macht sehen? Das Einzige, was er schaffte, überlebte, war von Gottes Hand geschützt hinter Gott herzusehen. Mehr ging nicht. Und wir, wir schauen in diesem Kind Gott direkt ins Gesicht. Engel singen, hochgestellte Weise und kluge Einfache fallen auf die Knie.

Überwinden.

Das Geheimnis dieser Nacht. Wir werden das „wie“ nicht lösen. Aber das „warum“ hat ER uns gelöst: Christus kam, weil Gott nicht mehr ertragen, erdulden konnte, dass Menschen so weit entfernt von ihm sind: Durch (1.) Unglaube, Schuld, Überheblichkeit, Selbstgerechtigkeit des Menschen und (2.) einer Lehre von Gott, die den Menschen gefangen nahm, Gehorsam erzwang, die das Gesetz über die Menschlichkeit, das Recht über die Liebe setzte. Gott machte sich auf den Weg, den Brückenschlag zu leisten. Er kam zur Welt.

EG 41,5-7

Warum bist du hier? Ich weiß es nicht, aber du bist hier, und du bist hier richtig und auf dem richtigen Weg, wenn du auf dem Weg zur Krippe bist – über alle innerlichen und äußerlichen Hindernisse hinweg. Hier gibt es keine Sensationen, aber das himmlische Angebot zum Staunen. Hier wirst du dich nicht selbst finden, aber den Himmel offen und die Erde hell. Hier darf ich sehen, wie empfindlich Gott sich für mich, für uns machte. Und ich schaue auf das, was einmal werden soll im Reich der Himmel: Niemand wird mehr die Beute des anderen, und die Königswürde von jedem Geborenen wird offenbar werden. Das ist Weihnachten, das Geheimnis des Glaubens: ich schaue mehr, als die Gegenwart mir bietet. Denn: Weihnachten ist mehr. Viel mehr.


Udo Schmitt, geb. 1968, Pfarrer der Evangelischen Kirche im Rheinland, von 2005-2017 am Niederrhein, seit 2017 im Bergischen Land.

Dorfstr. 19 – 42489 Wülfrath (Düssel)

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