1. Timotheus 4,4-5

· by predigten · in 15) 1. Timotheus / 1 Timothy, Aktuelle (de), Beitragende, Bibel, Deutsch, Erntedank, Kapitel 04/ Chapter 04, Kasus, Nadja Papis, Neues Testament, Predigten / Sermons

«Alles, wirklich alles» | Erntedank | 6.10.2024 | 1Tim 4,4-5 | Nadja Papis |

Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut.

Wann, wenn nicht am Erntedankfest wird uns das ganz bewusst. Schauen Sie selbst: Hier vorne in der Kirche haben unsere Bäuerinnen einen wunderschönen Erntedanktisch aufgebaut – mit all den Gaben, die gesät, gepflegt und geerntet wurden. Die Fülle des Lebens – voller Farben, voller Formen, voller Geschmack.

Nichts ist verwerflich, wenn es mit Dank genossen wird.

Und dazu sind wir heute aufgerufen: Uns bewusst zu werden, wie reich unser Tisch gedeckt ist. Und in diese Haltung der Dankbarkeit zu wachsen – nicht nur heute, jeden Tag. Ich bin dankbar für das Essen, das ich Tag für Tag bekomme. Ich bin dankbar für die Vielfalt dessen, was wächst und gedeiht. Ich bin dankbar für die Arbeit der Landwirte, die dahintersteckt. Ich bin dankbar für die Ernte. Auch im übertragenen Sinn: Für alles, was mein Leben schmackhaft macht, was mich erfreut, was mir die Fülle des Lebens zeigt.

Durch Gottes Wort und das Gebet wird es geheiligt.

Die Fülle des Lebens – von der Natur geschenkt, von Menschen erarbeitet, von Gott geschaffen. Gerade in der Ernte kommen Himmel und Erde zusammen, das Machbare und das Unverfügbare. Alle, die einen Garten haben und besonders unsere Bäuerinnen mit ihren Feldern und Baumanlagen erfahren das Jahr für Jahr: Da nützt auch das beste Saatgut und die härteste Arbeit nichts, wenn der Frost zum falschen Zeitpunkt kommt, wenn der Hagel zuschlägt, wenn es zu nass oder zu trocken ist. Für uns hier ist es selbstverständlich, Kartoffeln, Tomaten, Kürbisse, Äpfel essen zu können. Viele von uns haben den Bezug zum Säen, Pflegen und Ernten verloren. Wir gehen einkaufen und kümmern uns meist nicht gross, woher unsere Früchte oder unser Gemüse kommt. Oder ärgern uns, wenn im Regal mal etwas nicht vorhanden ist. Die Ernte ist aber nichts Selbstverständliches, das wissen alle, die selber anbauen. Umso grösser ist darum der Dank für das, was geerntet werden kann. Und darum ist dieser Dank auch seit frühester Zeit mit dem Glauben verbunden: der Dank an die göttliche Schöpferkraft, die Wachsen und Gedeihen erst möglich macht. Und wie schön, dass diese göttliche Kraft so kreativ wirkt – eine Vielfalt ist uns gegeben. Für jeden Geschmack etwas, fürs Auge auch.

Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut.

Das bezieht sich in unseren Bibelversen auf Nahrungsmittel, aber ich möchte es heute ausweiten. Die beiden ausgewählten Verse aus dem 1. Timotheusbrief sind wunderschön, sie passen so gut zum Erntedank und sie legen uns die Haltung der Dankbarkeit als Lebenseinstellung nahe.

Einleuchtend und einfach, oder?

Und doch widerspricht der Timotheusbrief in seiner Ganzheit gelesen dieser Haltung oder schränkt sie brutal ein. Es ist eine der späten Schriften der Bibel, geschrieben zu einer Zeit, in der sich im Urchristentum die Kirche zur Institution entwickelte. Verschiedene Strömungen und Bewegungen kämpften miteinander um das richtige Verständnis des christlichen Glaubens und der Kirche. Reglementierungen wurden vorgenommen, anders Denkende, anders Glaubende verurteilt. Im Westen setzte sich eine Kirche durch – diejenige, welche dann von Rom aus während dem ganzen Mittelalter das westliche Europa beherrschte.

Beim Lesen des Timotheusbriefes wird offensichtlich, was in dieser Reglementierung bekämpft, und was unterdrückt wurde. Während in den echten paulinischen Schriften Frauen selbstverständlich Gemeinde leiteten und es auch bekannte Apostolinnen im Urchristentum gab, macht der Schreiber des Timotheusbriefes klar: Frauen sollen still sein, sie dürfen nicht lehren oder über einen Mann bestimmen. Sie sollen sich mit Anstand schmücken, keine kunstvollen Flechtfrisuren, keinen teuren Schmuck und keine schönen Gewänder tragen. Leider ist dieser Brief ein klares Zeugnis der Frauenunterwerfung. Und diese wird auch noch schöpfungstheologisch begründet. Für mich ein Widerspruch zu der Haltung, die in unseren zwei Versen vermittelt wird: die Haltung der Dankbarkeit für das Geschaffene. So wichtig mir die Bibel ist und so sehr ich diese Texte ins Zeitgeschehen einordnen kann, ich kann sie nicht einfach stehen lassen. Sie haben zu viel Leid bewirkt.

Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut.

Also auch die Menschen – Männer und Frauen und auch die, die sich nicht einem Geschlecht zuordnen können. Menschen in all ihrer Vielfalt – körperlich, seelisch, geistig, charakterlich, in Bezug auf Talente und Gaben, aber auch in Bezug auf Schwächen und Fehler. Denn Frau ist nicht gleich Frau genauso wenig wie Mann gleich Mann ist. Da ist die, welche gerne laut und deutlich sagt, was sie denkt. Und die, die am liebsten zuhört. Da ist diejenige, die selbstvergessen auf der Strasse tanzt, und die andere, die nur unter der Dusche singt. Da ist die, welche sich mit Eifer in den Dreck kniet für die Gartenarbeit, und diejenige, die stolz ihr neustes Design vorführt. Und da sind alle anderen, die besonderen und die einfachen und die dazwischen. Eine wunderbare Vielfalt! Und Grund dankbar zu sein. Unserer Schöpferin, dieser göttlichen Kraft, die das alles ermöglicht.

Ich bin dankbar – für den Schöpfungsglauben. Ja, ich bin dankbar, dass ich im Geschaffenen etwas Göttliches entdecken und erfahren darf, dass ich in der Natur voller Staunen unterwegs sein kann, dass ich berührt werde von so ganz verschiedenen Menschen und dass ich in der Ernte auf die Fülle des Lebens hingewiesen werde. Wie soll sich eine Christin, wie soll sich ein Christ in dieser Welt verhalten? Das ist die Grundfrage des Timotheusbriefes. Ich bin in vielem nicht einverstanden mit der Antwort, die er gibt, aber in einem schon: Die Haltung der Dankbarkeit lohnt es sich, einzuüben, ja, sogar zu trainieren. Sie führt uns in eine lebendige Beziehung mit allem Geschaffenen und mit der schöpferischen Kraft, die darin wirkt, mit Gott.

Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut.

Nichts ist verwerflich, wenn es mit Dank genossen wird.

Durch Gottes Wort und das Gebet wird es geheiligt.

Amen

Pfrn. Nadja Papis

Langnau am Albis

nadja.papis@refsihltal.ch

Nadja Papis, geb. 1975, Pfarrerin in der ev.-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich/Schweiz. Seit 2003 tätig im Gemeindepfarramt der Kirchgemeinde Sihltal.