2.Korinther 3,1-6

· by predigten · in 08) 2. Korinther / 2 Corinthians, Aktuelle (de), Beate Hofmann, Beitragende, Bibel, Deutsch, Erntedank, Kapitel 03/ Chapter 03, Kasus, Neues Testament, Predigten / Sermons

Ihr seid ein Brief Christi | Erntedank | 6.10.2024 | 2.Kor 3,1-6 | Beate Hofmann |

Liebe Gemeinde,

es gibt Briefe, die vergisst man nicht. Manchmal sind das Liebesbriefe, manchmal besonders berührende Kondolenzbriefe oder ein Empfehlungsschreiben. Auch der eine oder andere offizielle Brief von einem Gericht oder einem Anwalt oder auch aus der Schule hinterlassen einen bleibenden Eindruck.

Briefe als wichtiges Medium der Kommunikation sind für die meisten Menschen Vergangenheit. Heute schreiben wir eher WhatsApp-Nachrichten oder Mails. Doch wenn es ganz offiziell oder ganz persönlich wird, dann kommen noch Briefe. Für den Apostel Paulus waren Briefe ein zentrales Arbeitsmittel, um mit seinen Gemeinden in Verbindung zu bleiben. Die Briefe des Paulus sind die ältesten schriftlichen Zeugnisse christlicher Theologie. Sie zeigen, wie Paulus die Fundamente christlicher Theologie in konkreten Konfliktfällen und Problemsituationen entwickelt. Seine Prägung als jüdischer Schriftgelehrter, der selbstverständlich auf dem Boden der Tora steht, wird dabei an vielen Stellen deutlich. Das ist auch für das Verständnis des heutigen Predigttextes wichtig.

Ich lese aus dem 2. Kor 3, Verse 1-6 in der Lutherübersetzung und erlaube mir damit, den Predigttext in den Kontext zu stellen:

„1 Fangen wir denn abermals an, uns selbst zu empfehlen? Oder brauchen wir, wie gewisse Leute, Empfehlungsbriefe an euch oder von euch? 2 Ihr seid unser Brief, in unser Herz geschrieben, erkannt und gelesen von allen Menschen!

3 Ist doch offenbar geworden, dass ihr ein Brief Christi seid durch unsern Dienst, geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf steinerne Tafeln, sondern auf fleischerne Tafeln der Herzen.

4 Solches Vertrauen aber haben wir durch Christus zu Gott. 5 Nicht, dass wir tüchtig sind von uns selber, uns etwas zuzurechnen als von uns selber; sondern dass wir tüchtig sind, ist von Gott, 6 der uns auch tüchtig gemacht hat zu Dienern des neuen Bundes, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.“

In diesem kurzen Briefabschnitt kommt Paulus zu einer zentralen, zugespitzten Aussage, die mein Nachdenken in den letzten Wochen intensiv begleitet hat:

„Ihr seid ein Brief Christi“ sagt Paulus den Korinthern zu. In einem Konflikt zwischen unterschiedlichen theologischen Strömungen und Glaubensprägungen macht Paulus deutlich: Entscheidend ist, was die Menschen durch euch als Gemeinde von Christus sehen und hören und erfahren. Ihr seid mit Eurem Leben und Eurer Haltung mein stärkstes Argument, mein Empfehlungsschreiben, stärker als jedes Argument der Gegner.

Was Paulus hier den Korinthern zusagt, auch zumutet, das gilt auch heute. Was wir als Kirche sagen, wird gemessen an dem, was wir tun oder nicht tun. Und viele Menschen finden einen Zugang zu Kirche nicht durch das, was wir in Predigten oder in Presse-Statements sagen, sondern durch das, was sie ganz konkret in und mit Gemeinden erleben.

Der Unterschied zwischen theologischen Prägungen, mit denen wir uns kirchenintern oft intensiv und ausführlich beschäftigen, ja selbst der Unterschied zwischen Konfessionen tritt in einer immer säkularer werdenden Gesellschaft zurück. Die zentrale Frage der Menschen ist: „Kirche, wofür steht das? Wie lebt ihr eure Überzeugungen und ist das überzeugend und glaubwürdig?“

Studien über Mission zeigen: Der Weg in eine Glaubensgemeinschaft beginnt meist nicht mit einer überzeugenden Predigt, sondern mit Erfahrungen von Gemeinschaft und Zugehörigkeit. Wer durch persönliche Beziehungen in Kontakt mit einer christlichen Gemeinde kommt und sich dort angenommen und beheimatet fühlt, der oder die fragt auch: Was glaubt ihr eigentlich? Welche Überzeugung prägt euer Leben, dass ihr so lebt und handelt?

Und so gilt das „Ihr seid ein Brief Christi“ auch heute und auch hier und für jede und jeden einzelnen unter uns. Natürlich schauen Menschen neugierig auf einen Bischof oder eine Bischöfin und fragen: Lebt die auch, was sie predigt? Es mag helfen, wenn die persönliche Lebensführung glaubwürdig und überzeugend ist; und es schadet massiv, wenn sie unglaubwürdig oder scheinheilig ist. Dazu ließen sich viele Beispiele erzählen.

Aber letztlich sind die Begegnungen vor Ort, im Alltag der Menschen entscheidend für die Glaubwürdigkeit des Evangeliums für die, die uns neugierig, suchend, skeptisch oder zweifelnd beobachten.

Was lesen Menschen in uns, wenn sie christliche Gemeinden erleben, sei es in Wien, sei es in Nordhessen?

Wird in unserem Brief von Verzagtheit erzählt, von Gemeinden, die kleiner, älter, ärmer werden? Oder gelingt es uns trotz sinkender Ressourcen in unseren Gemeinden Zeugnis davon zu geben, dass wir eine Botschaft haben, die uns trotzig hoffen, mutig lieben und reflektiert glauben lässt?

Paulus betont: Der Brief, in dem Menschen durch die Begegnung mit uns lesen, der ist vom heiligen Geist geschrieben, nicht von uns selbst. Es ist nicht einfach unser persönliches Tun oder Lassen, unsere persönliche Anstrengung, die hier Wirkung zeigt. Es ist Gottes Geistkraft, die durch uns wirkt und Menschen berührt und bewegt.

Daraus folgt nicht, dass wir die Hände in den Schoß legen und den lieben Gott oder den Pfarrer oder die Pfarrerin mal machen lassen. Es braucht uns alle als die Medien des Heiligen Geistes, der in, mit und unter uns wirkt. Und eine unserer Aufgaben ist es, das Wirken des Geistes nicht zu ersticken, sondern uns in seinen Dienst zu stellen.

Wo schreibt der Geist in diesen Tagen durch uns Briefe an die Menschen in unserer Zeit und Welt?

Ich kann das für Wien nicht beantworten, ich kann nur von Erfahrungen aus Nordhessen erzählen, die vielleicht auch hier eine Rolle spielen.

Wir werden als Brief Christi gelesen, wo wir von Gottes Segen erzählen und diesen Wegen weitergeben. Das gehört zu den überraschenden und ermutigenden Erfahrungen meiner Kirche in den letzten Monaten. Letztes Wochenende haben wir in Kassel zu einem Tauffest eingeladen. Einen ganzen Samstag lang konnte man in eine Kasseler Kirche kommen und sich taufen lassen. 38 Menschen haben das wahrgenommen. Manche sind von weit hergekommen, um diese Gelegenheit für sich wahrzunehmen. Kurzentschlossen waren sie fast nie, sondern hinter dem Schritt stehen lange Überlegungen und das Fest bot jetzt die richtige Gelegenheit, sich taufen zu lassen.

Wo wir Menschen ganz konkret durch Worte und Zeichen zusprechen: Gott sieht dich, Gott begleitet und stärkt dich, da lassen sich Menschen gerade in diesen unruhigen, krisenhaften Zeiten anrühren und segnen oder gar taufen.

Letztes Jahr war in Fulda Landesgartenschau. 165 Tage lang haben 150 Ehrenamtliche und engagierte Hauptamtliche dort Menschen gesegnet, lebendige Gottesdienste gefeiert und erzählt, wie Gottes Segen sie aufblühen lässt. Am Anfang dieser Aktion war viel Zweifel und Skepsis: „Wir finden keine Ehrenamtlichen, die das mitmachen; es ist zu viel, zu lang, zu anstrengend.“ Und dann gab es ein paar Unbeirrte, die haben trotzdem angefangen und ein Programm gestaltet. Und immer mehr Menschen, Evangelische wie Katholische, haben mitgemacht, zunehmend begeistert von dem, was sie da mit und durch Gottes Segen erlebt haben. 500 Segnungen, 50 000 verteilte Segenstütchen, über 100 Gottesdienste, jeden Tag Andachten und Abendsegen. Am Schluss haben sich die Ehrenamtlichen um die Dienste auf der Landesgartenschau fast gestritten. Und noch heute erzählen alle, die dabei waren, mit leuchtenden Augen von dieser Erfahrung: sie haben erlebt, wie Gottes Geist durch sie einen Brief geschrieben hat, der von einer sichtbaren, einer lebendigen, einer stärkenden Kirche erzählt.

Ein zweites: Wir leben in Deutschland wie in Österreich in Gesellschaften, in denen Migration zunehmend als Problem dargestellt und empfunden wird. Und es werden sichtbare oder unsichtbare Mauern errichtet zwischen denen, die dazu gehören und denen man helfen will und denen, die draußen bleiben sollen und die keine Solidarität erfahren sollen.

Die biblische Botschaft spricht da deutlich eine andere Sprache. Nächstenliebe gilt auch für Geflüchtete und Menschen aus anderen Völkern und Kulturen, daran lassen die Tora und die Propheten, Jesus und die Apostel keinen Zweifel. Und auch die Paradegeschichte christlicher Nächstenliebe, der barmherzige Samariter, berichtet von einem, der über ethnische Grenzen hinweg da geholfen hat, wo Not ist.

Wo wir als Gemeinden unsere Türen für Geflüchtete öffnen, wo wir durch Kirchenasyl, durch Hausaufgabenhilfe, Sprachunterricht oder Tischgemeinschaft Menschen Zuflucht und Beheimatung bieten, da sind wir ein sichtbarer und spürbarer Brief der Liebe Gottes, die allen Menschen gilt, unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder Religion. Das engagierte Eintreten gegen Rassismus und Fremdenhass gefällt nicht allen, es wird zunehmend gefährlicher; aber es ist ein Zeugnis, das wir der Welt schulden, klug in den Methoden, aber deutlich in der Position.

Ein drittes ist das Ringen um eine kirchliche Kultur, die sensibel für Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt ist. Die Berichte über Fälle sexualisierter Gewalt auch in der evangelischen Kirche haben viele Menschen aufgeschreckt. Sexualisierte Gewalt und vor allem die Tabuisierung und Verdrängung von solchen Erfahrungen im kirchlichen Raum haben viel Leid verursacht und Vertrauen in die Kirche zerstört. Da hilft es auch nichts, darauf zu verweisen, dass in anderen Bereichen der Gesellschaft auch sexualisierte Gewalt ausgeübt wird. Unsere Aufgabe als Kirche ist es, durch konsequente Prävention, beherzte Intervention und entschlossene Aufarbeitung zu einer anderen Haltung und einer anderen Kultur im Umgang mit sexualisierter Gewalt zu kommen.

Wir erleben: Die Auseinandersetzung mit Schutzkonzepten in jeder Kirchengemeinde, die Teilnahme von allen Hauptamtlichen und möglichst vielen Ehrenamtlichen an Fortbildungen zum Thema „sexualisierte Gewalt erkennen und verhindern“ verändert uns langsam. Menschen trauen sich, eigene Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt und Missbrauch anzusprechen. Und es sind sehr, sehr viele Menschen, die sexuelle Übergriffe erleben, nicht allein in der Kirche, oft auch in der Familie, in der Schule, im Arbeitsleben. Und selten finden sie Orte, wo sie darüber sprechen können und wo ihnen geglaubt wird. Haupt- oder Ehrenamtlichen, die mit solchen Erfahrungen konfrontiert werden, werden sicherer in ihrer Reaktion. Sie zucken nicht mehr hilflos mit den Schultern, sondern sie werden aktiv im Wahrnehmen von Gewalt, im Schutz von Betroffenen, im Verhindern von Tatmöglichkeiten und in der Aufarbeitung von Geschehenem.

Das erfordert Mut, Klarheit, intensives theologisches Nachdenken über Sünde, Schuld, die richtige Rede von Vergebung und eine hohe Sensibilität in unserer Sprache für die Dimensionen von Gewalt. Unser Ziel, unsere Aufgabe ist es, eine Kirche zu werden, die sensibel für Gewalterfahrungen ist, in der über solche Erfahrungen gesprochen werden kann und in der entschieden daran gearbeitet wird, solche Erfahrungen zu verhindern. Nur so werden wir ein glaubwürdiger Brief Christi.

Wie erleben derzeit, dass Lehrkräfte und Schulleitungen auf uns zukommen und nach unseren Schutzkonzepten fragen, weil sie selbst vom Staat aufgefordert wurden, solche Konzepte zu entwickeln. Sie nehmen wahr, dass wir als Kirche uns seit ein paar Jahren intensiv mit diesen Fragen beschäftigen und an glaubwürdigen Konzepten und Haltungen arbeiten. Unser Briefsein wird allmählich gelesen, auch wenn der Weg zu einem glaubwürdigen Zeugnis in diesem Themenfeld noch weit ist.

Ein letztes. Paulus nutzt in seinem Brief an die Korinther starke Bilder, die mit markanten Gegensätzen arbeiten: steinerne und fleischerne Tafeln, lebendiger Geist und tötender Buchstabe, alter und neuer Bund, diese Stichworte haben im Christentum eine verhängnisvolle Geschichte. Über Jahrhunderte wurden sie genutzt, um unsere jüdischen Geschwister abzuqualifizieren und theologisch zu delegitimieren. Und das hatte brutale Folgen in der Verfolgung und Tötung von Menschen jüdischen Glaubens. Und das ist nicht vorbei.

Morgen ist der erste Jahrestag des Überfalls der Hamas auf Israel. In seiner Folge ist unendlich viel Leid und Gewalt über die Menschen im Nahen Osten gekommen. Auch bei uns sind jüdische Menschen wieder zunehmend von Hass und Gewalt bedroht, völlig unabhängig davon, wie sie zur konkreten israelischen Politik dieser Tage stehen.

Paulus selbst war Jude und hat mit starken Worten und Bildern um sein Verständnis der Botschaft der Tora gekämpft. Er hat dabei die Botschaft von Jeremia aufgegriffen, der z.B. in Jer 31 vom neuen Bund Gottes spricht. Christliches Zeugnis heute ist nur glaubwürdig, wenn es sich den grauenvollen Folgen der Missinterpretation der paulinischen Botschaft stellt und sie theologisch und praktisch korrigiert.

Entschieden gegen den Hass auf Jüdinnen und Juden einzutreten und gleichzeitig für einen gerechten Frieden im gesamten Nahen Osten zu beten und zu arbeiten, das gehört heute, an diesem 6. Oktober, auch in den Brief, den wir als Gemeinden in dieser Welt als Brief Christi gestalten.

Möge der Friede Gottes, der weiter ist als all unsere Vernunft, unsere Herzen und Sinne bewahren und der Geist Gottes uns bewegen in unserem Reden und Leben. Amen.


Bischöfin Dr. Beate Hofmann, Kassel

Predigt am 6.10.2024 in der luth. Stadtkirche in Wien