
Johannes 6,30-35
Wort-Brot am Kai der Tränen | 7. So. n. Trinitatis | 08.03.2025 | Joh 6,30-35 | Jochen Riepe |
I
Welche Köstlichkeit ein Stück Brot sein kann… man möchte sofort hineinbeißen… Welche Köstlichkeit ein Wort sein kann … wer will widerstehen? ‚Ich bin das Brot des Lebens‘, sagt Jesus, ‚wer zu mir kommt, wird nicht hungern, und wer an mich glaubt, wird nimmermehr dürsten…‘
II
Ein bewegender Ferientag. Am ‚Kai der Tränen‘ in Cuxhaven an der Elbmündung. ‚Steubenhöft‘. Hier legten einst die Amerika-Fahrer ab. Kai der Auswanderer. Kai derer, die auseinander gehen. Mit etwas Phantasie kann man sie zurückrufen – die Abschiedsszenen zwischen denen, die gehen, und denen, die bleiben. Die Umarmungen, die Erwartungen, Fernweh, Abenteuerlust, aber auch Zweifel in den Augen. Worte und Küsse. Fröhlich die einen, bedrückt die anderen.
In den Hapag-Hallen wurde es an die Wand geschrieben: ‚Dort in der Ferne / blüht das Glück. / Lebt wohl / denkt oft an uns zurück‘. Es bleiben die Erinnerungen – ‚zurück‘. Das Leben aber wird nach vorn gelebt…
III
Warum erzähle ich von diesem Ferientag? Der Besuch im Steubenhöft zeigte uns eindrücklich das Doppelgesicht des Abschieds, eine Spannung, die einst wohl ähnlich den Evangelisten Johannes beschäftigte: ‚Wenn einer geht …‘ (M. Kaleko). Wer das 6. Kapitel in seinem Buch liest, merkt: Der Evangelist nimmt Erinnerungen an Jesus auf, an den ‚Freund‘, der nicht mehr da ist, der sein Leben gab und zu Gott ‚erhöht‘ wurde. Aber er möchte dem Vergangenen nicht nur nachtrauern, sondern ihm etwas Gegenwärtiges entlocken, es gleichsam ‚fortschreiben‘ bis hin zu dem Satz des Erhöhten: ‚Ich bin das Brot des Lebens‘.
Kommt mit an den See Tiberias. Dort sitzt Johannes, vielleicht auch mit Tränen im Auge, und schaut hinüber zum ‚anderen Ufer des Sees‘. Wir erinnern uns: Dort drüben, dort in der Ferne spielte die wunderbare Geschichte von der Brotvermehrung. Unruhe unter den Jüngern: Was sollen wir den vielen Menschen zu essen geben? Ein ‚Knabe‘ brachte das wenige Vorhandene, ‚fünf Brote und zwei Fische‘, Jesus sprach das Dankgebet, und teilte das Wenige unter ihnen. Sie bissen ins Brot. Sie wurden satt. Und als wäre das noch nicht genug: Man sammelte die ‚Reste‘ – ‚zwölf Körbe mit Brocken voll‘.
IV
Eine Erinnerung, vielleicht eine Knabenerinnerung, schön, ergreifend, ‚aber ach, eine Erinnerung nur…‘ Hat denn die doch einmalige Geschichte heute etwas zu sagen, kann man noch einmal in das Brot beißen, es kauen und schmecken? Jesus war nicht mehr da… wer spricht das Dankgebet? Wer teilt aus und macht die Hungrigen satt? Voller Sehnsucht sieht der Evangelist zum ‚anderen Ufer des Meeres‘, als sei‘s ein Traum, eine Illusion, eine Art Fata Morgana…ein Trugbild…
Jeder wird sich Ähnliches schon gefragt haben: Ach, Erinnerungen, können die satt machen? Es gibt trostreiche Sprüche. Sie seien wie ‚Rosen im Winter‘, oder sie wären ‚das Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können‘ (Jean Paul). Der große Kirchenvater Augustinus spricht von den weiten Räumen, Gemächern und Verliesen unseres Gedächtnisses als dem ‚Magen der Seele‘, aber ich höre auch die Einwände und Gegenstimmen: Nein, das Gedächtnis ist ‚keine Anlage für Wiederauferstehungsfeiern‘, es ist ‚bloß ein Instrument zur Ermessung der Verluste‘ (M. Walser). Wenn wir zurückdenken, denken wir immer nur an das, was nicht mehr ist, wer nicht mehr ist … oder leiden am Gestrigen oder sind erleichtert, dass es vorbei ist.
V
Welche Köstlichkeit: Brot, frisches Brot, wer wollte nicht hineinbeißen! Welche Köstlichkeit: Ein Wort, ein gutes Wort – ich wollte es schon ‚probieren‘! Vom See Tiberias ist es nur ein Schritt zum Kai der Tränen an der Elbmündung und dann ein kleiner Schritt in unser Leben der Trennungen, Abschiede, und der Sehnsucht, des Hungers nach neuen Ufern. Sollten die Erinnerungen uns nur den Mangel, die Wunden und die Defizite vor Augen führen?
Längst sind die Amerika-Fahrer auf See – ‚Denkt oft an uns zurück‘, steht an der Wand. Bleiben denn Brücken, die soz. den Atlantik überqueren, Brücken aus Nachrichten, Worten und Bildern, die uns helfen, Trennungen, Verlorenes zu verarbeiten? Ein kleiner, nein, ein großer Trost war es für die Zurückbleibenden gewiss, wenn die Gehenden versprachen: ‚Ich schreibe. Schon auf dem Schiff. Oder sobald wir angekommen sind. Ich werde euch berichten von der großen Stadt New York, von den Menschen dort, ich lasse euch teilhaben an meinem neuen Leben und an der neuen Welt… vielleicht kommt ihr sogar nach. Onkel Fritz ist ja auch schon da‘.
Gewiss, angesichts von Internet, Skype, Telefon usw. ist uns die Bedeutung dieses Versprechens kaum noch verständlich: Briefe würden sie schreiben, Briefe würden hin und her gehen über das Wasser und auf diese Weise gleichsam Stellvertreter oder Repräsentanten des nicht mehr Anwesenden werden. So manchem wird der Bote nach Wochen oder Monaten des Wartens zugerufen haben: ‚Post von Übersee‘, und der Empfänger wird das Schreiben geküsst, es laut gelesen, oder leise ‚gemurmelt‘, es gleichsam ‚wiederkäuert‘ (Ps 1, 2) haben. Er wird es anderen gezeigt und schließlich sich auf’s Herz gelegt haben.
VI
Ja, ‚das andere Ufer des Meeres‘. Wie wird der abwesende, zu Gott erhöhte Jesus gegenwärtig bei uns? Wie kann er das Brot des Lebens, meine Speise, meine Zuversicht, mein Trost, meine Orientierung werden? Johannes wird auch dies bedacht haben: Jesus, der Abschied Nehmende und zu Gott Gehende, hatte ihnen den ‚Geist‘ versprochen, gleichsam jene Gottes-Kraft, die die Fülle, ja die vagabundierende, so unterschiedlich ausgelegte Fülle der überlieferten Worte Jesu beatmete und mit Leben begabte (Joh 20, 22). Er, der ‚Tröster‘ (14,26) würde sie in Freiheit alles ‚lehren und an alles erinnern‘…
Erzählungen, Lieder, Berichte, Worte, Sprüche, überkommene Fragmente, sie glichen doch jenen ‚Resten‘, jenen ‚zwölf Körben mit den Brocken‘, die dort drüben aufgesammelt wurden; die Welt könnte ‚die Bücher nicht fassen‘ (21,21), wollte man sie fort- und aufschreiben. Wir sprechen über das tägliche Brot das Dankgebet, weil wir wissen: Es geht durch unsere Hände, kommt aber her von Gott. Wir sprechen aber genauso das Dankgebet über das Wort, das wir miteinander teilen. Und so sollten wir es auch mit den Worten Jesu tun: ‚Die lebendige Erinnerung kommt plötzlich und erzittert gleichzeitig in mehreren Rhythmen…‘ (A. Oz). Wir geben sie freudig-zitternd weiter im Erzählen, ja, auf dieser Seite des Meeres, aber inspiriert im ‚Fern-Blick‘ auf die andere, und jedes ‚freimütige‘ Erzählen, Vorlesen und Predigen ist für die Empfänger wie frisches Brot, in das man hineinbeißen und aufnehmen will, das man kaut und schmeckt, und das der Magen verarbeitet, dass die Seele satt würde, und wir lernen, zu leben.
VII
‚Wort-Brot‘… Hineinbeißen, aufnehmen, kauen und darüber nachdenken und es soz. verleiblichen: ‚Das Brot des Lebens‘ – im Geiste Jesu wird aus der Sprache der Erinnerung ein Wort des Zuspruchs und der Einladung. So wie ‚Essen und Trinken Leib und Seele zusammenhalten‘, so tut es das Hören, Auslegen, das Wiederholen oder Auswendiglernen von guten Worten, Gesprächen, Vorträgen und eben lehrreichen Büchern. Ob es angesichts einer von manchen befürchteten Abkehr von der Schriftkultur in einer ‚Gesellschaft von strukturellen Analphabeten‘ (M. Sommer) dieses Erleben noch gibt: Dass man über dem nährenden ‚Hören-Lesen-Schreiben‘ den Hunger des Leibes vergisst?
Ähnlich den Briefen der Atlantikquerer, die regelrechte Briefnetzwerke schufen, ist ja das Neue Testament und besonders das Johannesevangelium eine Art Briefsammlung, die zwischen den Gemeinden hin und her ging und geht. Die den erhöhten Christus vertritt, an seiner Stelle zu uns spricht, zur ‚Lehre‘ und zur ‚Wort–Speise‘ (Jer 15,16) wird. Sie ist ‚Post aus Übersee‘, Post vom ‚anderen Ufer des Meeres‘, manchmal nicht als Papyrus-Rolle oder in gebundener Form, sondern als Flaschenpost, unbeachtet oder zurück ins Wasser geworfen, und dann plötzlich öffnet einer und findet – ‚der Geist weht, wo er will‘ – eine Nachricht für sein Leben. Jetzt, da Jesus im Geist bei uns ist, kann sein Wort ihn vertreten, dich gleichsam in die Ferne locken, in das Abenteuer, ein Christ zu sein.
VIII
‚Wenn einer geht…‘ Am Kai von Cuxhaven, am See von Tiberias. Der Ferientag – ein biblischer Tag. Das Schiff der Auswanderer ist längst am Horizont verschwunden. Neuwerk und Scharhörn sind passiert, dann kommt das offene Meer. Mögen sie die beschwerliche Reise bestehen. ‚Denkt oft an uns zurück‘. Eben haben wir noch hinterher gewunken, jetzt kehren wir um, und natürlich, der Gedanke ist bei jeder Trennung ungefragt zur Stelle: Gibt es ein Wiedersehen – von Angesicht zu Angesicht? Die Seeleute singen es ja: ‚Dein Schmerz wird vergehn / und schön wird das Wiedersehn‘ (La Paloma).
Johannes der Evangelist hat unter den ‚Resten‘ ein Wort gefunden, das ihm vielleicht die Wellen bei günstigem Wind zugespielt haben: ‚… ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen‘ (16,22). Wenn wir um Gottes Geist bitten, Jesu Worte ‚wieder-holen‘ und miteinander das Brot und den Kelch teilen, werden wir ‚sehen‘, die Rose im Winter, ‚und schmecken‘ die Freude, ja, die ‚Köstlichkeit‘, die uns versprochen ist.
‚Kommt, und haltet das Mahl‘ (21, 12).
(Gebet nach der Predigt:) Gott, Heiliger Geist, wir bitten dich um dein Weggeleit: Bewahre, lehre, erinnere uns. Erschließe und übersetze uns die Worte und Taten Jesu, bau du uns Brücken zwischen Einst und Heute, dass wir in seinen Spuren miteinander das Brot brechen und das Wort teilen.
Lieder: Du bist das Brot, das den Hunger stillt (Th. Laubach, Th. Nesgen, W. Pilz); Fünf Brote und zwei Fische (R. Horn), Wenn das Brot, das wir teilen (eg 632), Herr, deine Liebe (eg 653)
Lit.: M. Walser, Das Einhorn (1966) 1982, S. 173; A. Oz, Eine Geschichte von Liebe und Finsternis (2004) 3. Aufl. 2021, S. 172 / A. Augustinus, Confessiones-Bekenntnisse,3.Aufl. 1966, S. 519 (Buch X) /Briefnetzwerke: https://hf-gen.de/wp-content/uploads/informationen/amerikanetz/Amerikaauswanderer-aus-Ostwestfalen-1840-1914.pdf / E. Baumkamp, Kommunikation in der Kirche des 3. Jahrhunderts, 2014 / https://theoblog.de/die-studenten-glauben-zum-teil-alles/44549/ (M. Sommer)
Verfasst von:
Jochen Riepe