
Matthäus 22, 34-46
18. So. n. Trinitatis | 19.10.2025 | Mt 22,34-46 | Thomas Reinholdt Rasmussen |
Die Macht der Liebe
Wer ist Christus?
Einer der größten Streitpunkte und Diskussions-Themen in der frühen Kirche war natürlich die Frage nach Christus. Wer war er? Was für einer war er? Welche Beziehung hatte er zu Gott? Welches Verhältnis hatte er zum Menschen? Wer ist Jesus? Dies ist die grundlegende Frage für jeden, der von ihm hört. Wir aber wollen es wissen.
Und alle diese Fragen und alle diese Debatten können natürlich etwas abstrakt werden und sich schnell von dem gewöhnlichen Alltag der Leute entfernen. Denn die Frage ist ja, was Christus für uns bedeutet in dem Dasein, das hier uns jetzt das unsrige ist. Wenn die Antwort nicht in irgendeiner Weise in einer Beziehung zu unserem gelebten Dasein steht, kann es im Grunde egal sein.
Die Debatte ging in der frühen Kirche hin und her, und man kann mit gutem Grund die vier Evangelien – zusammen mit all den anderen Evangelien, die nicht im Neuen Testament enthalten sind – als Beiträge zu dieser Debatte betrachten. Schließlich musste man sich jedoch auf den Gedanken einigen, dass Christus zugleich Gott und Mensch war, kein Halbgott, sondern eben zugleich Gott und Mensch. Gott im Verhältnis zum Menschen und Mensch im Verhältnis zu Gott. Ein Gott im Verhältnis, ein Gott in der Beziehung.
Das bedeutete ja nicht, dass alle einig waren. Einige hielten daran fest, dass Christus nur ein Mensch war – ein großer Mensch, gewiss, aber doch nur ein Mensch. Das ist eine Auffassung, die in der Kirchengeschichte auf verschiedenen Umwegen zum Islam führte, aber das ist eine andere Geschichte.
Aber:
Wenn Christus nur ein Mensch ist, kann er uns nur den Weg zeigen, aber ihn nicht für uns gehen.
Wenn Christus nur ein Mensch ist, wird er zu einem Propheten.
Wenn Christus nur ein Mensch ist, wird Religion zu einem Gesetz.
Denn dann kann er nur auf das hinweisen, was wir sollen, es aber nicht selbst tun, Das erfordert einen Gott.
Deshalb geht es um Gott und den Menschen. Nicht einzig und allein um Gott, der vielleicht groß ist, wo wir aber den Menschen vergessen haben und damit auch das Verhältnis zwischen Gott und dem Menschen.
Hier können wir sehen, dass die abstrakte Frage danach, wer Christus ist, ganz konkret Bedeutung für unser Leben und nicht zuletzt für die Art und Weise, wie wir es leben, erhält.
Wenn Christus nur ein Mensch ist, gibt es kein Evangelium.
Denn das Evangelium – die Befreiung von religiösem Gesetz und religiöser Moral – die Befreiung von Tod und Finsternis – gibt es nur dort, wo das Heil allein bei Gott liegt und wo Christus sowohl Gott als auch Mensch ist und uns mit der Macht der Liebe erreichen kann.
Er ist Mensch, um leiden und sterben zu können und damit im Grunde wie wir zu sein und wahrer Mensch vor Gott zu sein. Und Gott, um die Macht zu haben, das Leben zu erlösen und zu tragen durch die Nacht des Todes, was kein Mensch selbst kann.
Die Befreiung des Evangeliums setzt voraus, dass Christus zugleich Gott und Mensch ist.
Die Frage
Und eben auf diese Frage stoßen wir im heutigen Evangelium. Die Pharisäer, die ihr Leben auf einem religiösen Gesetz und seine Einhaltung bauen, kommen zu Jesus, um ihn auszufragen nach dem größten Gebot im Gesetz: Ist es vielleicht dies, dass man nicht töten darf? Ist es vielleicht, dass man nicht stehlen oder die Ehe brechen darf? Sie fragen, aber Jesus sprengt die ganze Reihenfolge der Gebote und Gesetze, indem er antwortet: Die Liebe zu Gott und dem Nächsten.
Also: Nicht eure Erfüllung der Gebote. Nicht die Fähigkeit, die Gesetze einzuhalten. Nicht der Wille und die Fähigkeit zum formvollendeten Leben, sondern die Liebe allein ist entscheidend. Die Liebe zu Gott und dem Nächsten. Die Liebe, die eben nicht auf Regeln und Normen sieht, sondern alles sprengt, um vollbracht werden zu können. Das ist das größte Gebot des Gesetzes. Die Liebe, die zugleich das ganze Gesetz erfüllt und es total sprengt.
Da stehen sie nun. Und da verschärft sich das Problem mit der Frage: Wer ist Christus? Und das ist ja wahrlich ein Trumpf, denn die Pharisäer wissen, wenn die Antwort ist Sohn Gottes, dann ist ihr Dasein vergeblich, das auf der Erfüllung des Gesetzes oder sagen wir einfach des Lebens beruht.
Deshalb können sie nur antworten: Davids Sohn. Sonst würde ihre Welt zugrunde gehen und das Leben von religiösen Gesetzen und Regeln befreit werden. Wenn sie antworten Sohn Gottes, ist das Leben befreit, aber sie haben verloren. Wenn sie sagen Davids Sohn, haben sie noch immer die Macht durch Einhaltung der Moral und gutes Betragen.
Da stehen sie, und hier stehen wir.
Was mit uns?
Wir stehen hier vor dem Hintergrund einer zweitausendjährigen christlichen Tradition und Verkündigung. Wir haben kein religiöses Gesetz mehr, das uns bindet – nicht aus Gleichgültigkeit, sondern in der Tat deshalb, weil eine christliche Tradition gewirkt und Spuren hinterlassen hat. Wir haben gewiss viele andere Dinge, die uns binden, und manchmal kann es fast so scheinen, als seien wir umgeben von religiösen Gesetzen, wenn man sieht, wie wir in anderer Hinsicht agieren – aber das ist ein anderer Aspekt.
Entscheidend ist, dass das Bekenntnis zu Christus als Gott und Mensch uns im Laufe der Geschichte von dem religiösen Gesetz, religiösen Geboten und Regeln befreit hat, und nun stehen wir da als Befreite. Die etwas abstrakte Diskussion über die wahre Identität Christi hat die Gesellschaft konkret geprägt.
Wer also ist Christus? Diese Frage ist tiefer, als wir es auf den ersten Blick sehen, denn sie ist von entscheidender Bedeutung dafür, was für eine Gesellschaft wir uns schaffen. Das hat entscheidende Bedeutung dafür, für was für ein Leben wir führen, und entscheidende Bedeutung für unser Verhältnis zu einander.
Wir glauben, dass er Gott und Mensch ist, und es kann merkwürdig sein, das zu sagen, und schwer daran zu denken, dass hier eine Tiefe in dieser Frage liegt, mit der wir nie fertig werden. Entscheidend ist aber, dass dadurch alles gesprengt wird und nur die Liebe übrigbleibt als vollkommene Erfüllung aller Dinge.
Was also meint ihr von Christus? – Gott und Mensch – ist das ein Ausdruck für die Liebe? Was meint ihr über Christus?
Amen.
Bischof Thomas Reinholdt Rasmussen
Thulebakken 1, DK-9000 Aalborg
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