5. Mose 6,4-9

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„Der Herr ist unser Gott, der Herr ist einer.“ | Reformationsfest | 31.10.2025 | 5. Mose 6,4-9 | Rainer Stahl |

 

„Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus,
die Liebe Gottes
und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes
sei mit Euch allen!“

 

Liebe Leserin, lieber Leser!
Liebe Schwestern und Brüder!

1.1.  Meine Predigt auf der Grundlage dieses wichtigen Bibelwortes soll zwei Pole besitzen, umschreiben und hervorheben: Zuerst will ich den lebendigen Umgang mit diesem Wort durch unsere jüdischen Nachbarn andeuten, ist doch dieses Wort ihr Glaubensbekenntnis. Sodann will ich erweisen, dass dieses Wort für unser Reformationsfest aufgenommen wurde und von ihm her unsere Identität als reformatorische Christen geschärft werden kann.

1.2.  Wie können wir dieses Bibelwort in der deutschen Sprache wahrnehmen? Ich will zwei Übersetzungen aufnehmen: diejenige der jüdischen Übersetzer, der jüdischen Verdeutscher Martin Buber und Franz Rosenzweig und diejenige des christlichen Übersetzers Martin Luther:

Vers Übersetzung (Buber/Rosenzweig) Übersetzung (Luther)
V. 4 Höre Jiſsrael: ER unser Gott, ER Einer! Höre Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR ist einer.
V. 5 Liebe denn IHN deinen Gott mit all deinem Herzen, mit all deiner Seele, mit all deiner Macht. Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.
V. 6 Es seien diese Reden, die ich heuttags dir gebiete, auf deinem Herzen, Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen.
V. 7 einschärfe sie deinen Söhnen, rede davon, wann du sitzest in deinem Haus und wann du gehst auf den Weg, wann du dich legst und wann du dich erhebst, und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst.
V. 8 knote sie zu einem Zeichen an deine Hand, sie seien zu Gebind zwischen deinen Augen, Und du sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand, und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein,
V. 9 schreibe sie an die Pfosten deines Hauses und in deine Tore! und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore.

2. Zuerst will ich also dieses Bibelwort vor dem Hintergrund seiner Lebendigkeit bei unseren jüdischen Nachbarn in den Blick nehmen. Drei lebendige Beispiele kann ich andeuten:

2.1.  Nach dem Terroranschlag der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 wurden Tafeln mit den Fotos der Geiseln in Städten Israels aufgestellt. In einer Veröffentlichung wurde das Foto der Tafel, die in Tel Aviv aufgestellt worden war, dokumentiert.[iii] Dabei fiel mir auf, dass über den Fotos und Namen auf dieser Tafel das Glaubensbekenntnis geschrieben war – nur die Konsonanten, nicht die Vokale und der Gottesname abgekürzt:

Von rechts nach links zu lesen: «DH  jj  WNjHL‘  jj  L’RSJ  cMŠ»,

das wir folgendermaßen lesen müssen: «Schemac Jisra’el, ‘Adonaj ‘Älohenu, ‘Adonaj ‘ächad« – „Höre Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr ist einer“.

Damit erleben wir, wie direkt und hilfreich das Glaubensbekenntnis unseren jüdischen und israelischen Nachbarn Hilfe gibt, dem eigenen Erschrecken Sprache verleiht. Der Glaube an Gott, den Herrn, verleiht Kraft und Stärke, die auch durch Katastrophen hindurch tragen!

2.2.  Während meiner Arbeit an der Kirchlichen Hochschule Leipzig und im Landeskirchenamt in Eisenach habe ich mehrmals Reisen nach Israel organisiert. Fast immer war derselbe Israeli unser Reiseleiter. Einmal hatte er mir seine Tefillin geschenkt – die Tefillin, die er zu seiner «Bar Mizwa», zu seinem Fest „Sohn des Gebotes“, bekommen hatte: Die Lederriemen mit Bibelworten in Kapseln, die so gebunden werden, dass eine auf der Stirn und eine am linken Arm zu liegen kommt. In den Kapseln sind Pergamentstreifen mit Bibelworten – eines ist das Glaubensbekenntnis.[iv] Ich konnte diese Tefillin meiner Landeskirche für einen Lehr-Koffer zur jüdischen Religion weitergeben.

Damit wird uns deutlich, wie direkt und persönlich dieses Bibelwort verstanden und ins eigene Leben aufgenommen wird!

2.3.  Während meiner Einsätze in der Gemeinde in Brašov / Kronstadt / Brassó in Siebenbürgen habe ich folgende Begegnungen gehabt: Um die Ecke meines Quartiers in der Hans-Benkner-Straße, nämlich in der Nicolae-Bălcescu-Straße, steht die Synagoge «בית ישראל» / «Bet Jisrael» – „Haus Israel“. Sie war nie zerstört worden, hat eine Gemeinde. An einem Samstag / Sabbat fiel mir in der Straße ein Herr mit Kippa auf, der in Richtung Synagoge ging. Am 18. Mai 2018 besuchte ich sie erstmals.


(Fotografiert am 18.5.2018.)

Im großen Synagogenraum ging ein anderer Besucher aus einer Englisch-sprechenden Gruppe nach vorne und schaute hinter den Vorhang vor dem Thora-Schrein. Ich fragte ihn, ob er wüsste, was auf dem Vorhang gestickt ist. Dessen Antwort war ganz klar: “The Ten Commandments. I’m a Jew.” – „Die Zehn Gebote. Ich bin Jude.“ Dann zeigte er mir, dass er sich von dem Podium mit dem Thora-Schrein nur rückwärts wegbewegt, dem Thora-Schrein also niemals den Rücken zuwendet!

2.4.  Am 9. Oktober 2025 konnte ich eine ausschnitthafte Übersicht beginnen: 7:30 Uhr hörte ich beim Frühstück die Nachrichten in „Bayern3“. Präsident Donald Trump (USA) hat eine Einigung im Nahen Osten mitgeteilt: Die israelischen Geiseln sollen am Montag freikommen. Israel will sich auf eine Linie in Gaza zurückziehen. Um 16:45 Uhr habe ich das Internet durchforstet und begriffen: Die Gaza-Vereinbarung wurde von beiden Seiten unterzeichnet. Am 10. Oktober wurde mitgeteilt, dass die Regierung Israels dem Vertrag zugestimmt und einen Waffenstillstand genehmigt hat. Nach 10:00 Uhr habe ich die Nachricht entdeckt, dass der Abzug Israels aus Teilen des Gaza-Streifens beginnt. Die Freilassung der Geiseln wird von nun an für in 72 Stunden mitgeteilt: also ab Montag, den 13. Oktober. Am 11. Oktober sehe ich in den Fernsehnachrichten, dass viele Palästinenser im Gaza-Streifen in Richtung ihrer früheren Städte im Norden zurückkehren. Um 19:00 Uhr wurde in den „ZdF“-Nachrichten informiert: Palästinenser kehren trotz riesiger Zerstörungen nach Gaza-Stadt zurück. Am Sonntag, dem 12. Oktober, wurde um 8:00 Uhr in den Nachrichten in „Bayern3“ mitgeteilt: Der Waffenstillstand hält. Die Hamas hat bestätigt: Ab Morgen werden die Geiseln zurückgegeben. Viele Palästinenser kehren nach Gaza zurück. Um 11:30 Uhr hat die „tagesschau24“ mitgeteilt, dass die Übergabe der Geiseln am Montag starten soll. Danach sollen 2.000 Häftlinge aus israelischen Gefängnissen entlassen werden. Die Liste wird noch verhandelt. Um 16:17 Uhr hat die „tagesschau“ mitgeteilt, dass Lastwagen mit Hilfsgütern von Ägypten in den Gaza-Streifen fahren. Am Montag, dem 13. Oktober, wird in „Bayern3“ um 7:00 Uhr mitgeteilt: Israel wartet auf die Freilassung der Geiseln. Um 7:30 Uhr: Die Übergabe der Geiseln hat begonnen. Um 8:00 Uhr: Sieben Geiseln waren freigelassen worden. Im Laufe des Tages werden noch dreizehn Geiseln freigelassen werden. Auf israelischer Seite wird die Freilassung von 1.700 Gefangenen und 250 Häftlingen vorbereitet und begonnen. Nach 16:00 Uhr habe ich im Internet „ntv“ und „tagesschau24“ durchgesehen: Alle lebenden Geiseln sind freigelassen worden! Am 20. Oktober entnahm ich einer Nachricht von „tagesschau24live“, dass die Waffenruhe am 19. Oktober übertreten wurde – wohl erst von der Hamas. Seit dem Abend des 19. Oktober wird die Waffenruhe wieder eingehalten.

3. Wenn wir nun in unserer evangelischen Kirche das Reformationsfest begehen, wollen und können wir doch wirklich von unseren jüdischen und israelischen Nachbarn lernen: Auch wir wollen den Glauben an Gott ganz in die Mitte stellen und dabei nach Lebensvollzügen fragen, mit denen diese Grundentscheidung lebendig wird:

3.1.  Die Bedeutung der Reformation – sowohl auf Grund des Wirkens von Martin Luther, als auch auf Grund des Wirkens von Huldreich Zwingli und Johannes Calvin – kann mit folgender Aufgabe deutlich gemacht werden: Die Gebote Gottes wirklich in das Glaubensleben und in das Alltagsleben hinein zu holen und von ihnen her das Alltagsleben und das Glaubensleben zu profilieren und zu gestalten.

In der reformierten Kirche in Erlangen ist vorne rechts eine Tafel mit den Zehn Geboten in französischer Sprache angebracht. Sie zeigt an, wie sehr die nach Erlangen geflohenen Reformierten aus Frankreich – also: die Hugenotten – von diesen Weisungen her zu leben versucht haben – und es die Gemeindeglieder noch heute tun!

Martin Luther hatte in seinem Kleinen Katechismus die Entscheidung dazu, wirklich Gott zu glauben, großartig zur Sprache gebracht. Gerade in der heutigen Zeit, in der der Glaube an Gott alles andere als selbstverständlich ist, eröffnet uns Luthers Erklärung wunderbar die verschiedenen Seiten dieses Glaubens an Gott: „Ich glaube, dass mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen, Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält; […] mich reichlich und täglich versorgt, in allen Gefahren beschirmt und vor allem Übel behütet und bewahrt […].“[v] In solchem Gottvertrauen können wir jeden Tag leben. Dazu lade ich ein!

3.2.  Etwas ganz Kleines ist mir wieder eingefallen – woran ich mich aber nicht plastisch erinnere –: Nämlich, dass in meiner Kindheit in Meiningen – also: in der DDR – viele Gemeindeglieder bewusst mit dem sichtbar in der Hand getragenen Gesangbuch sonntagfrüh zum Gottesdienst gingen. Denn es war für viele wichtig, dass alle, die sie sahen und die vielleicht ins Kino zum Sonntagsmorgen-Film gingen, daran erinnert wurden, dass es gut wäre, auch wieder den Weg in die Kirche zu finden, daran erinnert wurden, dass es Nachbarinnen und Nachbarn gab, die aus dem allgemeinen atheistischen Trend ausscherten und sich mutig zu ihrem Christsein bekannten. Heute ist das eigentlich nicht mehr nötig, weil in der Kirche die Gesangbücher und Gottesdienstabläufe bereitgelegt sind und jeder und jedem gegeben werden.

Suchen Sie doch, liebe Schwestern und Brüder, liebe Leserin, lieber Leser, nach Verhaltensweisen, die Ihren Glauben eineindeutig werden lassen:

  • Wie Sie bereit werden, tiefergehende Gespräche mit anderen zu führen. In einem wurde ich auf den Gestalter des Dokumentartheaters hingewiesen: Heinar Kipphardt,[vi] der mit seinem Theater „unbeirrt nach der Verantwortung des Einzelnen gegenüber dem Staat“ fragte.[vii]
  • Wie Sie anderen für ihre Aktivitäten danken. Vor einiger Zeit war ich an einem Lastwagen mit Arbeitern vorbeigegangen, die einen Kinderspielplatz reinigten und pflegten. Da habe ich ihnen bewusst „Danke schön!“ zugerufen.
  • Wie Sie denen helfen, die Ihre Hilfe benötigen: Im August habe ich zweimal eine Bewohnerin des Pflegebereichs des Bodelschwingh-Hauses, in dem ich eine Wohnung im Servicebereich habe, auf ihrem Rollstuhl aus dem Gottesdienst zurückgefahren und bis in ihr Zimmer gebracht.

Ich bin überzeugt, dass Ihnen viel einfallen wird, mit dessen Hilfe Sie Ihr Leben unvergleichlich profilieren können. Dazu vermittle Ihnen dieser Gottesdienst und diese Woche neue Einsichten![viii]

Amen.


Dr. Rainer Stahl
Erlangen

„Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn!“

Liedvorschläge:
EG 632: „Ich will glauben: Du bist da…“
EG 622: „Ich möchte Glauben haben…“
EG 361: „Befiehl du deine Wege…“
EG 362: „Ein feste Burg ist unser Gott…“

Fussnoten:
[i]  Die fünf Bücher der Weisung. Verdeutscht von Martin Buber gemeinsam mit Franz Rosenzweig, Stuttgart 1992, S. 494-495.
[ii]  Lutherbibel revidiert 2017, Stuttgart 2016, S. 185.
[iii]  Pierre Heumann, Josef Hufelschulte, Amit Shabi: Die Schicksalsfrage, in: FOCUS 44/2023, S. 44-47.
[iv]  Vgl. die wichtige Publikation aus DDR-Tagen: Tamás Féner und Sándor Scheiber: Jüdische Traditionen in Ungarn, Leipzig 1985, S. 107.
[v]  Vgl.: Unser Glaube. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, 6., völlig neu bearbeitete Auflage, Gütersloh 2013, S. 470.
[vi]  Vgl. Sie: https://wikipedia.org/wiki/Heinar_Kipphardt  (Zugriff am 25.8.2025). Heinar Kipphardt war am 8. März 1922 geboren worden und am 18. November 1982 gestorben.
[vii]  Vgl. Sie: www.deutschlanfunk.de/heinar-kipphardt-108htlm  (Zugriff am 25.8.2025).
[viii]  Vgl. auch meine Predigt zu Deuteronomium 6, die ich 2019 den Göttinger Predigten im Internet zur Verfügung gestellt hatte. Veröffentlicht in: Rainer Stahl: Biblische Predigten zu Themen unserer Zeit, Zweite Auflage, Fromm Verlag 2025, S. 197-201.

Außerdem erinnere ich an meine Predigt zu Markus 12,28-34 für den 10. Sonntag nach Trinitatis / für den Israelsonntag, die ich Ihnen für den 24. August 2025 zur Verfügung gestellt hatte.