Levitikus 19,1-3.13-14.33-34

· by predigten · in 03) 3. Mose / Leviticus, 13. So. n. Trinitatis, Aktuelle (de), Altes Testament, Beitragende, Bibel, Deutsch, Kapitel 19/ Chapter 19, Kasus, Nadja Papis, Predigten / Sermons

«Mer sött» (Man sollte) | 13. Sonntag nach Trinitaris | 25.08.2024 | 3. Mose 19,1-3.13-14.33-34 | Nadja Papis |

Gott sprach mit Mose und forderte ihn auf, mit den Israelit:innen zu reden und ihnen auszurichten: Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig. Ich bin der Herr, euer Gott. Jeder soll seinen Eltern mit Ehrfurcht begegnen, seiner Mutter und seinem Vater. Ausserdem sollt ihr den Sabbat einhalten. Ich bin der Herr, Euer Gott.

Du sollst deinen Nächsten nicht unterdrücken und nicht ausbeuten. Den Lohn des Taglöhners sollst zu gleich auszahlen und nicht bis zum nächsten Morgen behalten. Du sollst Tauben nicht mit Worten schaden. Du sollst Blinden kein Hindernis in den Weg legen. Und du sollst Ehrfurcht haben vor deinem Gott. Ich bin der Herr.

Wenn ihr in eurem Land seid und ein Fremder bei euch lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Wie einen Einheimischen sollt ihr ihn ansehen. Du sollst ihn lieben wie dich selbst. Denn in Ägypten seid Ihr Fremde gewesen. Ich bin der Herr, euer Gott.

Ich soll, du sollst, sie soll, wir sollen, ihr sollt, sie sollen…

Am liebsten habe ich eigentlich: «Mer sött» wie wir im Schweizerdeutschen gerne sagen (zu Deutsch: man sollte). Da kann ich mich raushalten, «mer» («man») ist so schön allgemein, da könnte ich dazugehören oder auch nicht.

«Sollen» ist ja sowieso etwas Spannendes: nicht «müssen», aber auch mehr als «dürfen». Keine Einladung, mehr eine Aufforderung. Ich kann immer noch entscheiden, ob ich etwas tue oder nicht.

Trotzdem wecken all diese Aufforderungen, jedes dieser «Du sollst» eine kleine Rebellion in mir aus. Zumal sie aus der damaligen Zeit stammen: die Altersvorsorge für die Eltern, der Sabbat als Ruhetag, das Auszahlen von Taglöhnern, der Umgang mit beeinträchtigen Menschen und Fremden, das ist heute doch ein ganz anderes Thema. Da kann ich doch die damalige Situation nicht mit heute vergleichen! Obwohl die Themen sich eigentlich noch gleichen. Auch wir müssen die Altersvorsorge diskutieren, die Gleichwertigkeit aller Menschen fördern und sehnen uns nach Gerechtigkeit am Arbeitsplatz und Ruheoasen im Alltagstrubel.

Was soll bei uns gelten?

Schon wieder «soll». Nicht «muss» – das erledigen die Gesetze. Auch nicht «darf», das gehört heute wohl in den individuellen Bereich jeder einzelnen Person. Was «soll» unter uns, in unserem Zusammenleben gelten? Ethisch, moralisch und auch religiös. Eine schwierige Frage in einer so individualisierten Zeit. Finden wir uns überhaupt noch? Immer öfter begegne ich Menschen, die für mich Selbstverständliches in keiner Weise selbstverständlich finden. Der moderne Mensch bewegt sich in seiner «bubble» und kommt kaum in Berührung mit anderem. Dadurch üben wir kaum mehr, uns auf andere einzulassen, uns mit dem Fremden zu beschäftigen und die Welt in ihrer Vielfalt anzuerkennen. Hilft da ein «Du sollst»? Helfen da Anweisungen wie die im Buch Levitikus?

Das Kapitel 19 wird in der Literatur oft als «Heiligkeitsgesetz» bezeichnet. So steht es ja auch im Vers 2: Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig!

Dem möchte ich auf die Spur gehen, diesem Heilig-Sein.

Im Hebräischen finden wir das Wort «kadosch» für heilig. Es bedeutet wörtlich übersetzt «aussondern, scheiden, trennen».

Heilig ist also, was abgetrennt ist, was ausgesondert wird – aus einem bestimmten Grund. Zum Beispiel gibt es heilige, also abgesonderte Orte für den kultischen Gebrauch. In vielen Religionen wird dieses Abtrennen dadurch deutlich gemacht, dass ich mich besonders anziehe, rituelle Waschungen durchführe oder andere Vorbereitungen tätige, bevor ich den heiligen Bereich betrete. Ich stelle mich darauf ein, in die göttliche Sphäre einzutreten. Gegenstände werden durch besondere Zeremonie geweiht und gehören dann nicht mehr zum normalen Alltag.

Für mich als Reformierte ist das fremd, das gebe ich zu. Gut, manchmal spüre ich etwas von der Heiligkeit, wenn ich einen solchen Orte betrete oder auch ein Ritual miterlebe, aber sonst bin ich eben wirklich reformiert und die Kirche ist ein Versammlungsraum und das Abendmahlsbrot ist von unserer Bäckerin gebacken.

Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig!

Jetzt kommt´s… Heilige Menschen. Ich werde misstrauisch. Wie können Menschen heilig sein? Zur Sphäre des Göttlichen gehören? Abgehoben über den anderen? Nein, daran glaube ich nicht. Die Gleichwertigkeit aller Menschen ist mir ein grosses Anliegen.

Aber da steht´s: Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig!

Nochmals von vorne: Kadosch heisst ursprünglich «aussondern, unterscheiden, trennen»

Ich betrachte meine Alltagssprache unter diesem Gesichtspunkt:

Die Kaffeepause am Donnerstagmorgen im Team ist mir heilig.

Meiner Familie ist der gemeinsame Gottesdienstbesuch am Heiligabend heilig.

Meiner Freundin ist unser jährlicher Zoobesuch heilig.

Das sind nicht wirklich «heilige» Dinge, aber sie führen mich auf eine Spur: Heilig zu leben, bedeutet, mich zu öffnen und berühren zu lassen, das, was ist, zu etwas Besonderem zu machen. Wenn ich eine Erfahrung von den anderen aussondere, dann wird sie besonders.

Wenn ich zum Beispiel den Sonntag von den Werktagen abgrenze, ihn aussondere und anders fülle, wird er ein besonderer Tag.

Oder wenn ich durch die Heirat diese eine Beziehung zu meinen Mann von den vorangegangenen, unverbindlicheren abtrenne, gebe ich allen zu verstehen: Sie ist besonders, sie ist mir heilig.

Heilig zu leben erfordert also den Prozess des Aussortierens und Trennens, denn alles ist nicht heilig, kann nicht heilig sein, sonst ist es nichts Besonderes mehr. Heilig zu leben, heisst, genau im Alltäglichen das Besondere zu sehen, zu spüren und zu leben.

Nun gut, ich komme dem «heilig» langsam auf die Spur, aber ich bin erst beim «aussondern», mit der göttlichen Sphäre hat das alles noch nicht viel zu tun, oder? Im Römerbrief ist die Heiligkeit eine Gabe des göttlichen Geistes. Alle Glaubenden haben sie erhalten, sie sind berufen dazu, heilig zu sein – durch den Geist.

Ihr sollt heilig sein, denn ich bin es.

Diese Aufforderung beinhaltet auch eine Gabe, ein Geschenk. Zuerst ist da Gottes Heiligkeit – in der Welt verkörpert in Jesus Christus und in uns allen. Heiligkeit kommt aus der Tiefe der menschlichen Seele, aus der Berührung des Göttlichen in unserem Innersten. Und von dort entfaltet sie sich, wenn wir es zulassen, wenn wir uns dem Besonderen in unserem Leben öffnen. Heiligkeit ist kein Selbstzweck, sondern ein Geschenk an die Welt. Sie öffnet mich hin zu dieser Welt, sie öffnet mich im Gegenüber zu Menschen, die mir fremd sind. Sie öffnet mich für die Besonderheiten, die das Leben beinhaltet. Sie öffnet mich hin zu einem tiefen Respekt gegenüber allen, denen ich begegne. Gottes Kraft kann verwandeln, daran glaube ich. Und sie wirkt im Zwischenmenschlichen, sie bewirkt etwas Heiliges, wenn wir uns begegnen, wenn wir uns lieben, wenn wir uns verbunden fühlen, wenn wir Grenzen, Mauern, Gewalt überwinden. Das ist ein ganz anders Gefühl als «mer sött» («man sollte»), auch wenn dieses Sollen in einer Gesellschaft durchaus seinen Wert hat. Schliesslich brauchen wir neben den Gesetzen auch ethische Richtlinien, die für uns alle gelten.

Amen

Pfrn. Nadja Papis

Langnau am Albis

nadja.papis@refsihltal.ch

Nadja Papis, geb. 1975, Pfarrerin in der ev.-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich/Schweiz. Seit 2003 tätig im Gemeindepfarramt der Kirchgemeinde Sihltal.