
Lk 1,(26-38)39-56
Wer im Dunkel lebte, steht nun im Licht | 4. Advent | 22.12.2024 | Lk 1,(26-38)39-56 | Martina Janßen |
I.
„Die einen sind im Dunkel und die anderen sind im Licht. Und man sieht die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht“ (Bert Brecht). Eine der traurigsten und fundamentalsten Wahrheiten, die Bert Brecht in seiner „Dreigroschenoper“ auf den Punkt gebracht hat. Die Glücklichen im Licht sind angesehen, die im Dunkel übersieht man leicht; über ihr Unglück wird hinweggesehen. So geht es wohl allzu oft zu auf unserer Welt, so läuft es eben, fast schon ein gesellschaftliches Naturgesetz. Doch nichts, an dem man nicht rütteln könnte; nichts, durch das nicht ein Riss ginge. Manchmal passiert es eben doch, dass Gesetze auf den Kopf gestellt und außer Kraft gesetzt werden. Dann ändern sich die Verhältnisse und im besten Fall treten Menschen vom Dunkel ins Licht. Die Bilder der letzten Tage gingen um die Welt. Syrien ist von der Diktatur befreit. Auf den Straßen jubeln die Menschen. Auch wenn die Zukunft ungewiss bleibt – jetzt ist die Stunde der Hoffnung. Wie im Bildersturm stürzen die Bilder von Asad, dem einst so mächtigen Gewaltherrscher, zu Boden; die ohnmächtigen und erniedrigten Gefangenen in den Foltergefängnissen werden befreit und kehren zurück in ihr Leben. Eindrucksvolle Bilder, die die Welt plötzlich für viele Menschen in einem anderen Licht erscheinen lassen.
II.
„Und Maria trat aus ihren Bildern und kletterte von ihren Altären herab“ (Kurt Marti). Ohne das geht es nicht. Erstmal muss die Himmelskönigin auf die Erde zurückgeholt werden, vom Sockel in den Stall, vom Thron in die Tiefe. Sonst begreift man das Große nicht, von dem Maria singt und was ihr widerfahren ist. So heroisch, huldvoll und heilig wie in den Legenden war es wohl nicht. „Die Nacht ihrer ersten Geburt war kalt gewesen.“ (Bert Brecht). All die Schichten aus Gold und Purpur, mit denen man das junge Mädchen geschmückt und geschminkt hat, müssen abgetragen, die „siebenfachen Schleier aus Tradition, Dogma, Liturgie, Legende, Kunst, Dichtung und Musik“ (Schalom Ben Chorin) müssen gelüftet werden, damit man der jungen Frau ins Gesicht sehen kann. Sonst versteht man nicht, was Maria geschieht. Eine junge Frau von unten war sie; eine aus den Hütten, nicht aus den Palästen, nicht von hohem Stand, sondern von niedriger Geburt; manche erinnert sie „an die unglücklichen jüdischen Mütter, die in KZ-Lagern niederkamen, die auf der Flucht entbunden haben, die das Emigrantendasein des verfolgten Volkes so bitter erlebten“ (Schalom Ben Chorin). Maria gehört zu denen, die im Dunkel stehen, aber in das Dunkel fällt Licht. Weil Gott Maria sieht. Gottes Blick öffnet ihr Herz und Mund; angenommen, angesehen, angerührt von Gottes Liebe singt sie ihr Lied: „Meine Seele erhebt den Herrn und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilands, denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen. […] Denn er hat große Dinge an mir getan.“(Lk 1,46f.49). Von Gott aufgerichtet steht Maria ganz aufrecht – und sie steht nicht allein. Sie ist keine Ausnahme, die die gnadenlose Logik der Welt im Grunde nur bestätigt, keine Quotengerettete, keine, die im Gegensatz zu so vielen anderen ausnahmsweise mal Glück gehabt hat. Ihre Stimme ist eine von vielen im Chor der Aufgerichteten, denn Maria hat viele Schwestern: Mirjam, Debora, Hanna, Judit – all diese Frauen jubeln über Gott, ihren Retter, der sie in ihrem Unglück gesehen hat. Und so schlägt Marias individuelles Danklied um in ein Lied über Gottes Handeln in der Geschichte; Maria bettet ihre Erfahrung ein in die „vielleibigen und vielstimmigen“ (Kurt Marti) Verheißungserfahrungen Israels. „Und seine Barmherzigkeit währet für und für bei denen, die ihn fürchten. […] Er gedenkt der Barmherzigkeit und hilft seinem Diener Israel auf“ (Lk 1,50.54). Das, was Maria erfährt, ist die Hoffnung aller Niedrigen und Erniedrigten: „Wer im Dunkel lebte, steht im Licht“ (EG 380,1 [Regionalteil Niedersachsen/Bremen]). Weil Maria nicht die einzige ist, weil das mit ihr immer wieder geschehen ist, geschieht und geschehen wird, ist auch das ein Gesetz, Gottes Gesetz, so läuft es eben bei Gott.
III.
„Er übt Gewalt mit seinem Arm und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn. Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen“ (LK 1,51-53). Maria preist die Ordnung der Liebe gegen die Ordnung der Welt und ihrer scheinbar unentrinnbaren Logik: „Die im Dunkel sieht man nicht.“ Ein „revolutionäres Adventslied“ (Dietrich Bonhoeffer) hat man Marias Lied genannt, die Sängerin wurde zum „mädchen courage“ (Kurt Marti) und zur „ersten Revolutionärin“ (Max Thurian). Und wirklich: Wovon Maria singt, klingt nicht nur nach ein bisschen Revolution, klassischer geht es eigentlich kaum: Entmachtung der Mächtigen und Ermächtigung der Machtlosen, Umverteilung von arm und reich, „Friede den Hütten, Krieg den Palästen!“. Aber auch das muss man ins rechte Licht rücken. Eine Rosa Luxemburg war Maria nicht, auch keine Jeanne d’Arc. Maria singt nicht von Menschen gemachten Revolutionen wie die in Syrien dieser Tage, nicht von gewaltsamen Umstürzen oder von sozialpolitischen Utopien, die in der Sehnsucht wurzeln und in ihr enden. Marias Lied ist weder Parteiprogramm noch Partisanenhymne noch purer Populismus. Die Weltrevolution, von der sie singt und die sie am eigenen Leib bezeugt, kommt senkrecht von oben, nicht von Menschenhand erkämpft oder von menschlichem Verstand geplant, sondern durch Gottes Geist geschenkt. So ganz unpolitisch ist das aber nicht. Denn Gott ist parteiisch und das einfache Volk liegt ihm am Herzen: Er erhöht die Niedrigen. Rettung von oben ermutigt die, die unten sind, und macht ihnen Mut aufzustehen, einander beizustehen und in Würde anzusehen. „Die große Veränderung, die an uns und durch uns geschieht, wird mit allen geschehen – oder sie bleibt aus. Barmherzigkeit wird geübt werden, wenn die Abhängigen das vertane Leben aufgeben können und lernen selber zu leben.“ (Dorothee Sölle)
IV.
Marias Lied ist keine Komposition für die Schublade oder geplante Aufführung in Konzerthallen. Es stammt mitten aus dem Leben, ganz alltäglich und wundervoll. Ein Befreiungslied an der Schnittstelle zweier Frauenbiographien. Elisabeth, die ältere, die Johannes unter ihrem Herzen trägt, begegnet Maria, der jüngeren, die mit Jesus schwanger geht. „Gesegnet bist du unter den Frauen und gesegnet ist die Frucht deines Leibes“ (Lk 1,42). Ein berührendes, anrührendes, ja auch aufrührendes Bild. Keine der beiden Frauen hat eine Bilderbuchschwangerschaft. Ihre Geschichten sind nicht unbedingt Geschichten fürs Rampenlicht. Bei Elisabeth hat niemand mehr damit gerechnet, dass sie noch ein Kind bekommen wird; bei Maria war nach menschlichem Ermessen überhaupt gar nicht damit zu rechnen, dass sie schwanger sein könnte. Eine seltsame Teenie-Mutter und eine Spätgebärende begegnen einander, sehen einander und stehen einander bei. „Und Maria bleib bei ihr etwa drei Monate; danach kehrte sie wieder heim“ (Lk 1,56). Risiko- und Rätselschwangerschaften – an ihnen zeigt sich das Wunder. Gottes Gesetz sprengt die Logik der Welt – Leben entsteht, wo man es nicht erwartet, das Dunkel ist licht, das Schwache ist stark, das Kind ist König. So läuft das eben bei Gott. Gott sieht liebend in die dunklen Hütten und segnet die brüchigen Biographien, er öffnet die Ränder der Nacht für den Einbruch des Lichts und gibt seiner gewaltigen Verheißung ein zartes, zerbrechliches mädchenhaftes Gesicht. Advent ist die Zeit, einzustimmen in Marias Gesang und die Ordnung der Liebe in und bisweilen auch gegen die Logik der Welt zu lobpreisen: „Wer im Dunkel lebt, wird im Licht stehen.“ Überall da, wo das geschieht, ist und bleibt Maria „vielleibig vielstimmig die subversive Hoffnung ihres Gesangs“ (Kurt Marti). Nichts muss so bleiben wie es ist. Alles ist möglich. „There is a crack in everything that’s how the light gets in“ (Leonard Cohen).
Amen
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Bertolt Brecht, „Maria“, in: Gedichte II. 1913-1929, Berlin 1961, 104.
Schalom Ben Chorin, Mutter Mirijam. Maria in jüdischer Sicht, München 31994, 11; 64.
Kurt Marti, „und maria“, in: Schon wieder heute. Ausgewählte Gedichte 1959-1980, Darmstadt 1982, 85-88.
Dorothee Sölle, Meditation über Lk 1,46-55, in: dies. u.a. (Hg.), Große Frauen in der Bibel in Bild und Text, Freiburg i.Br. 1993, 290.
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PD Dr. Martina Janßen
Hildesheim
Martina Janßen, geb. 1971, Privatdozentin für Neues Testament (Universität Göttingen), Pastorin der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers