
Jesaja 51,1–6
Fels im Rücken und Wasser im Brunnen | Altjahresabend | 31.12.2024 | Jes 51,1–6 | Manfred Mielke |
Liebe Gemeinde,
gebannt schauen wir auf ihre Handgriffe, auf ihre geschickte Führung der Werkzeuge. Mit Hammer und Meißel bearbeitet die Steinmetzin einen Stein. Neben ihrem Arbeitsplatz stehen fertige Skulpturen, umgeben von modern gestylten Gartenflächen. Die sind Teil der Landesgartenschau, durch die wir schlendern. Auch andere Besucher verweilen im Ausstellungsbereich „Friedhofskultur“. Nun wechselt die Steinmetzin ihr Werkzeug, um feineres Material wegzuarbeiten. Steinmetze gravieren zumeist die Namen und Daten Verstorbener in Steinplatten. Aber wir schauen zu, wie aus einem Brocken eine Figur herausgearbeitet wird. Zwar nur zu Demonstrationszwecken, aber sehr eindrücklich.
Der Prophet Jesaja erinnert an ähnliche Berufe, wenn er seiner Volksgruppe zuruft: „Hört mir zu, die ihr der Gerechtigkeit nachjagt, die ihr den Herrn sucht: Schaut den Fels an, aus dem ihr gehauen seid, und des Brunnens Schacht, aus dem ihr gegraben seid.“ Jesaja redet seine Zuhörer an als die, die der Gerechtigkeit nachjagen. Die nicht schlendernd über die Endlichkeit des Lebens meditieren, sondern konzentriert und unbeirrt der Gerechtigkeit nachjagen. Sie streben einer Gerechtigkeit zu, die ihnen vorenthalten wird und zugleich einem Gott, den sie vermissen. Beides, den Neustart der Gerechtigkeit und die Erneuerung des Glaubens, sieht Jesaja als zweifaches Ergebnis einer anstrengenden Jagd. Deswegen gibt er Gottes Aufruf weiter an seine Zeitgenossen, dass sie gut hören und betrachten, sich neu verbünden und nicht nachlassen.
Wie würde es uns verändern, wenn wir eine Jagdgesellschaft werden für eine große Gerechtigkeit? Und was stärkt uns – falls wir auf dem Weg ermüden – damit unsere Pirsch erfolgreich wird? Jesaja verlangt nicht den Nachschub weiterer Energie, vielmehr verweist er seine Zuhörenden auf ihre Abstammung und Ursprünglichkeit: „Schaut den Fels an, aus dem ihr gehauen seid, und des Brunnens Schacht, aus dem ihr gegraben seid.“ So wendet er den Blick der Vorwärtsdrängenden auf ihre Anfangskräfte. Auch wenn ihre Reserven weniger werden, bleiben ihre Ressourcen in Gott.
Das können wir auch für uns sagen: Wenn uns die inneren Vorräte knapp werden, können wir an unsre Ressourcen in Gott andocken. Denn eine Figur, die aus einem Stein herausgemeißelt wurde, bleibt in inniger Verbindung zum Felsen, aus dem sie geformt wurde. Und ein Brunnenschacht, der durch Ausgrabung entsteht, sammelt gutes Grundwasser.
Der Prophet bestaunt zwar auch das handwerkliche Können, aber noch mehr zielt er auf die Herkunft der Hoffnung, woher ihnen neuer Mut kommt. Seine Zuhörerschaft verehrte dafür den Erzvater Abraham wegen seines felsenfesten Glaubens und die Erzmutter Sarah wegen ihres „flow“ im Weitergeben des Lebens. Doch was wächst uns zu aus den Bildern „Fels und Brunnen“? Die Rückschau auf den Felsen, aus dem wir herausgemeißelt wurden, stärkt unsre Beständigkeit. Das Herabschauen auf eine Brunnensohle vergewissert uns unserer Geburtlichkeit und unseres Quellgrundes. Gott ist unser „Brunn allen Heils“ und er beruft uns, aus der Starre herauszutreten. In unserem Lebenslauf erweisen sich „Fels und Brunnen“ für unsre Identität und unsre Lebendigkeit.
„Hört mir zu“, ruft der Prophet, „schaut euch das an! Bettet die Bilder einer Skulptur und eines Brunnens in euch ein. Damit festigt ihr euch in Gott und eure Jagd nach Gerechtigkeit kommt voran. Ihr bekommt inneren Halt und eine vorwärtsdrängende Lebendigkeit. Damit könnt ihr die Bedrohungen besser einschätzen, in denen ihr steckt, und auch die Widerstände drumherum.“ Dazu projiziert der Prophet ein neues Zukunftsbild: „Ja doch, Gott tröstet Zion, er tröstet alle ihre Trümmer und macht ihre Wüste wie Eden und ihr dürres Land zu einem Paradies.“
„Gott tröstet Zion!“ ist ein großartiger Vorgang. Der Berg „Zion“ steht für Jerusalem, oder genauer: Jerusalem steht auf dem Zionsberg. Wenn also Gott Zion tröstet, dann tröstet er seine eigene Tempelruine mitsamt der Stadt, die in Trümmern liegt. Sie wurde ramponiert von den Babyloniern, die mittlerweile von den Persern besiegt wurden. Kyros II, deren König, entlässt die verschleppten Israeliten aus dem gar nicht so schlechten Exil. Ihre Vorfahren hatten sich durch die grausame Wüste geschleppt, sollen sie es ebenso tun? Ist dafür der Zion ein gutes Ziel? Zumal Gottes Heimstatt ja in Trümmern liegt, was dieser ja nun nicht wirklich verhindert hatte.
„Ja, doch!“ ruft der Prophet, „Gott tröstet die alten Trümmer“ – und auch die neuen Schuttberge. Gott war und wird der Brunnen sein. „Er macht die Wüste zu einem Obstgarten und lässt in der Dürre neue Landwirtschaft gelingen.“ Das „Gelobte Land Zwei-Punkt-Null“ liegt zwar noch hinter dem Horizont, es mutet uns an wie eine unerreichbare Utopie, aber es liegt auf unserm Wege. Dazu verspricht uns Jahwe: „Wonne und Freude werdet ihr darin finden, Dank und Lobgesang.“
Diesem Gott noch einmal und wieder zu vertrauen, ist ein starker Aufbruch. Gottes Vision bewirkte in der Landwirtschaft neue Getreideernten und für Stadt und Land einen Wiederaufbau. Dagegen verlief die Jagd nach Gerechtigkeit ins Leere und ließ tiefe Skepsis aufkommen. Allein schon der bürgerliche Frieden war bei den wechselnden Schutzmächten selten in guten Händen. Das antike Volk Israel lebte überwiegend unter fremdem Diktatfrieden. Dagegen blieb der Schalom Gottes als inneres Hoffnungsgut stark und lebendig. Ideal wäre es gewesen, wenn die Gerechtigkeit Gottes auch Staatsräson geworden wäre. Die Propheten klagten sie ein, erfolglos. Die heutige Opposition klagt sie ein, erfolglos. Der heutige Staat läuft Gefahr, an seiner eigenen Vorwärtsverteidigung zu ersticken. Haben daneben die Menschen in Gaza, der Westbank und im Libanon das gleiche Recht, einer eigenen Gerechtigkeit nachzujagen und dafür ihren Gott um Rückendeckung zu bitten?
Da der „Salam/Schalom“ Gottes immer wieder und bis heute scheitert, ist es dann noch realistisch, ihm friedfertig nachzujagen? Selbst Jesus von Nazareth errichtete keinen Gottesstaat; aber er stellte die Gerechtigkeit Gottes wieder in die Mitte. Sowohl die Gerechtigkeit, die Gott ausübte – wie auch die Gerechtigkeit, mit der wir vor ihm bestehen können – Juden wie Christen.
Im Vorfeld dazu rief der Prophet seinen Zeitgenossen die weiteren Ziele ihres Gottes Jahwe zu: „Merkt auf mich, ihr Völker, und ihr Menschen, hört mir zu! Denn Weisung wird von mir ausgehen, und mein Recht will ich gar bald zum Licht der Völker machen. Meine Gerechtigkeit ist nahe und mein Heil tritt hervor. Hebt eure Augen auf gen Himmel und schaut unten auf die Erde! Denn der Himmel wird wie ein Rauch vergehen und die Erde wie ein Kleid zerfallen, und die darauf wohnen, werden wie Mücken dahinsterben.“
Hier spüren wir, dass wir mit der Analyse des Propheten vor 2500 Jahren zeitgleich sind, ähnlich empfinden und erschrecken. Dass wir erstarren zwischen den Verheißungen Gottes und der Ungerechtigkeit in der Welt und der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen. Wir erschrecken, denn beide liegen auf unserem Weg, den wir unbeirrt verfolgen. Das ablaufende Kalenderjahr zeigt uns dazu viel zu viele Katastrophen. Das Evangelium des Jesaja propagiert aber keinen halsüberkopf-Absturz hinein in die Apokalypse, sondern ein mutiges Standhalten. Vor Augen werden uns die Himmel wie Rauch vergehen und der Globus wie ein Kleid zerfallen. In unserer globalen Realität sterben Menschen und Ethnien wie Mücken, und selbst viele Insektenarten sind vom Aussterben bedroht.
Doch die Apokalypse ist nicht der Fels, aus dem wir herausgehauen wurden, und der Weltenbrand ist nicht die Brunnensohle, zu der wir hinunterschauen. Dort haben wir etwas anderes, wichtigeres erblickt: einen stützenden Halt und eine gesammelte Hoffnung. Seitdem spüren wir den Felsen der Gottes-Stabilität und sehen die Brunnensohle seiner Lebens-Qualität. Wir schütteln die Starre ab und wir tanken neuen Mut, weil wir unsere Identität und unsere Weitsicht Gott verdanken.
Wir hören heute zum Jahreswechsel, dass Gott Trümmer tröstet. Das ist ein unübliches Bild, das aber Mut macht und uns zu Beispielen anregt. Als die Steinmetzin mit Hammer und Meißel hantierte, fielen auch Abplatzungen zu Boden. Kleine Partikel, scharfkantiger Abfall, eigentlich ja auch Trümmer. Ich vergleiche sie mit einem kleinen Stein, den ich gerne aufbewahre. Er ist herausgebrochen aus der Berliner Mauer, nachdem sie gefallen war. Er trägt noch Farbreste eines Graffitis. Eines Graffitis, das lange Zeit Ungerechtigkeit anklagte und zu den Spuren einer Jagd gehörte, einer kollektiven Jagd nach Freiheit.
Dieser Betonkrümel veranschaulicht mir, was der Prophet meint, wenn er sagt: „Gott tröstet Trümmer“. Denn wenn stolze Mauern brechen, dann ändert sich für die Steine der Sinn. Sie mauern nun nicht mehr ein, sie sperren nun nicht mehr ab, sondern machen neue Wege frei. Gott tröstet Trümmer, indem er ihnen ihren Zerbruch, ihr Trauma, zum Start für die Freiheit wandelt. Gott tröstet Trümmer, indem er sie befähigt, eine Gasse zu bilden. Gott praktiziert seine Trauerarbeit mit den Zielen „Gerechtigkeit und Trost“. Und wir mit ihm. Trümmer haben wir genug.
Bisweilen schlendern wir durch unsere ramponierte Seelenlandschaft und meditieren über den Verfall der Welt. Dann hilft uns, dass Gottes Trost hervortritt, so wie eine Skulptur aus einem Steinquader entsteht. „Denn seine Gerechtigkeit ist nahe und sein Heil tritt hervor.“ So können wir unsere Seele selbst versorgen und ihr zusprechen (was ein Lied von 1936 so ausdrückt): „Es mag sein, dass alles fällt, dass die Burgen dieser Welt um dich her in Trümmer brechen. Halte du den Glauben fest, dass dich Gott nicht fallen lässt: Er hält sein Versprechen.“ – Amen
Bruchstück aus der Berliner Mauer;
Foto: 22.12.2024; Manfred Mielke
Lieder:
Komm, Gott, mit deiner Gnade
Es mag sein, dass alles fällt
O Glück der Gnade (Amzaing grace; deutsch)
Wir wolln uns gerne wagen
Meine engen Grenzen
Fürbitten zum Lied „Meine engen Grenzen“:
Du Gott allen Trostes und Vater der Freiheit,
wandle in Weite, was uns beengt. Wir nennen Dir:
Lebensängste
Zukunftsängste
Versagensängste
und singen Vers 1: Meine engen Grenzen
Du Gott allen Trostes und Vater der Gerechtigkeit,
wandle in Stärke, was uns lähmt. Wir nennen Dir:
Ellenbogenkämpfe
Genderkämpfe
Verteilkämpfe
und singen Vers 2: Meine ganze Ohnmacht
Du Gott allen Trostes und Vater der Leidenschaft,
wandle in Wärme, was uns erfrieren lässt. Wir nennen Dir:
Terrorakte
Sexuelle Ausbeutung
Populismus
und singen Vers 3: Mein verlornes Zutraun
Du Gott allen Trostes und Vater der Barmherzigkeit,
wandle in Heimat, was wir sehnsüchtig vermissen. Wir nennen Dir:
Sozialen Frieden
Naturfrieden
Waffenruhe
und singen Vers 4: Meine tiefe Sehnsucht
Manfred Mielke, Pfarrer der EKiR im Ruhestand, geb 1953, verheiratet, 2 Söhne. Sozialisation im Ruhrgebiet und in Freikirchen. Studium in Wuppertal und Bonn (auch Soziologie). Mitarbeit bei Christival und bei Kirchentagen. Partnerschaftsprojekte in Ungarn und Ruanda. Musiker und Arrangeur.