
Josua 3,5-17
15.Januar 2025 | 1. Sonntag nach Epiphanias | Gott ist alles möglich | Predigt zu Josua 3,5-17 | verfasst von Thomas Muggli-Stokholm |
Ich lasse unseren Predigttext in Form eines Filmdrehbuchs Revue passieren: In der ersten Szene sehen wir das Volk. Die Menschen sind gezeichnet von den Strapazen der vierzig Jahre in der Wüste, wo Hunger, Durst und Krankheiten den Alltag bestimmten. Nun lagern sie in ihren Zelten am Jordan und sehen hinüber zum Ziel ihrer Wanderung: Das verheissene Land, das von Milch und Honig fliesst. Kaum ein Kilometer trennt sie davon. Doch der Fluss bildet ein unüberwindbares Hindernis. Jetzt, in der Erntezeit, tritt er über die Ufer. Kein vernünftiger Mensch wagt sich nur schon in die Nähe seiner reissenden Fluten. Wir hören das Wasser donnern und sehen, wie es Bäume und Sträucher mit sich reisst.
Nun gibt es einen Schnitt und die Kamera zeigt uns ein Zelt mit einer Familie: die Grossmutter Ruth, Mutter Rahel, der Vater Gad und drei Kinder. Die Stimmung ist miserabel. Gad schimpft:«40 Jahre Elend und nun das: Sackgasse am Jordan. Ich habe es schon immer gesagt: Mose ist ein verlogener Angeber und sein Nachfolger Josua keinen Deut besser!» Rahel schluchzt auf: «Was nun? Sollen wir in die Wüste zurück und dort elend krepieren? Ach, wären unsere Eltern nur in Ägypten geblieben!» Die Kinder beginnen zu weinen. Da wird die Zeltöffnung aufgeschlagen. Zwei Amtsleute stehen da und geben Anweisungen: «Morgen geht es los, über den Jordan. Gebt Acht auf die Priester, welche die Lade tragen. Wenn sie abmarschieren, geht ihr ihnen in gebührendem Abstand nach. Und nun kommt zum Versammlungsplatz. Josua spricht zu uns.»
Die Kamera schwenkt zu einem Platz mitten im Zeltlager. Josua steht da, breitet die Arme aus und spricht: «Liebe Leute, heiligt euch! Befreit euch von schlechten Gedanken und eigensinnigen Wünschen! Werdet still und öffnet euch für die Gegenwart des Ewigen. Denn morgen wird er Wunder tun in eurer Mitte!»
Wir sehen wieder die Familie. Mutter Rahel schüttelt den Kopf und Gad meint: «Morgen soll es Wunder geben? Hat Josua gesehen, wie viel Wasser der Jordan führt? Der spinnt doch!» Grossmutter Ruth beschwichtigt: «Gad, du warst noch ein kleiner Junge, als Gott uns aus der Sklaverei Ägyptens befreite. Danach verfolgten uns die Ägypter mit 600 Streitwagen, bis wir am Schilfmeer standen, verzweifelt, weil wir eingekesselt waren. Doch Gott bahnte uns einen Weg durch das Schilfmeer und wir kamen trockenen Fusses ans andere Ufer.»
Wieder gibt es einen Schnitt. Unterdessen ist es dunkel geworden. Wir sehen Josua in seinem Zelt. Er ist unruhig, rauft sich die Haare, wirft sich auf die Knie, steht auf, geht umher, kniet wieder nieder, klagt und fleht: «Ach Gott, wie soll es morgen weitergehen? Lässt Du uns in den Fluten versinken? Warum musste Mose sterben? Ich bin kein würdiger Nachfolger.» Als der Morgen graut, hören wir eine Stimme aus dem Off: «Heute fange ich an, dich, Josua, gross zu machen in den Augen ganz Israels, damit sie erkennen, dass ich mit dir sein werde, wie ich mit Mose war.»
Die nächste Szene führt uns wieder auf den Platz mitten im Zeltlager. Wir sehen Rahel, Gad, ihre Kinder und die Grossmutter Ruth. Sie wirken übernächtigt, verwirrt und ratlos. Mitten auf dem Platz steht Josua auf einem Podest und beginnt zu reden: «Kommt her und hört die Worte des Ewigen, eures Gottes. Daran sollt ihr erkennen, dass ein lebendiger Gott in eurer Mitte ist und dass er die Kanaaniter, die Hetiter, die Chiwwiter, die Perissiter, die Girgaschiter, die Amoriter und die Jebusiter vor euch vertreiben wird: Seht die Lade des Bundes, der Herr der ganzen Erde zieht vor euch her durch den Jordan!»
Gad sagt leise zu Rahel: «Selbstmordkommando! Und auch wenn wir es durch den Jordan schaffen, werden wir drüben niedergemetzelt von den sieben Völkern, die alle mächtig sind und Waffen haben, im Gegensatz zu uns.» Während die Grossmutter Gad zurechtweist, hat sich Josua zu den Priestern gewendet und sagt: «Hebt die Bundeslade auf, und zieht dem Volk voran. Wenn ihr ans Wasser des Jordan kommt, stellt euch im Jordan auf.»
Nun schwenkt die Kamera auf die Bundeslade, einen mittelgrossen, vergoldeten Kasten mit zwei Tragstangen, welche durch Ringe an der Seite geführt werden. Eine Schar Priester tritt heran. Vier von ihnen laden sich die Bundeslade auf die Schultern und setzen sich in Bewegung. Die Kamera geht in die Totale. Wir sehen die Priester auf das Ufer des Jordan zugehen. In einigem Abstand folgt das Volk. Die Szene gleicht einer feierlichen Prozession.
Nun sehen wie den Jordan von nahem. Wieder hören wir das Wasser rauschen und donnern. Nur Lebensmüde wagen sich in diese Fluten. Doch die Priester mit der Lade setzen ihre Füsse ohne zu zögern ins Wasser. Ihre Kollegen folgen ihnen. Und da geschieht das Unglaubliche:
Das Wasser zieht sich augenblicklich flussaufwärts zurück und bildet weit entfernt einen Damm. Flussabwärts verläuft es sich rasch. Aus dem donnernden Rauschen wird ein leises Gluckern, bis schliesslich eine völlige Stille eintritt.
Schweigend schreiten die Menschen durch das Flussbett. Zum Schluss zoomt die Kamera die Familie von Rahel und Gad heran, die mit staunenden und zunehmend strahlenden Gesichtern mitgehen. Während der Abspann läuft, hören wir nun ein Musikstück.
Musik
Eine packende Geschichte haben wir da vor uns und ein Schlüsselereignis auf dem Weg Israels. Als sie aufgeschrieben wird, ist die grandiose Überschreitung des Jordans allerdings nur noch wehmütige Erinnerung: Das Josuabuch entsteht erst viele Jahrhunderte nach dem Einzug ins verheissene Land. Und es geschieht viel in dieser Zeit: Nach der Landnahme, die mit Wirren und Gewalt verbunden ist, folgt die politisch instabile Zeit der Richter. Es geht auf und ab mit dem Schicksal Israels, bis Saul als erster König die Macht ergreift. Auf ihn folgen David und Salomo, unter deren Herrschaft Israel eine kurze Zeit lang zu einem reichen und mächtigen Land wird. Danach geht es jedoch rasch abwärts: Unter unfähigen Königen und einer korrupten Elite von Beamten und Priestern kommt es zum inneren und äusseren Zerfall, an dessen Ende die Katastrophe des babylonischen Exils steht. Jerusalem wird zerstört und viele Menschen in die Fremde verschleppt. Als sie nach siebzig Jahren ins verheissene Land zurückkehren dürfen, ist dieses verwahrlost und von fremden Herrschern regiert.
In dieser trostlosen Situation entsteht das Josuabuch als Schrift, die den Menschen Hoffnung schenken soll. Für die Auslegung ist das ganz wichtig. Die buchstäbliche Lektüre des Josuabuchs ist nämlich stellenweise unerträglich: Nach der Überschreitung des Jordan folgt eine Zeit unfassbarer Gewalt, wo feindliche Völker im Auftrag Gottes brutal niedergemetzelt werden, nicht nur Krieger, sondern auch Frauen und Kinder. Geschichten aus dem Josuabuch gehören darum zu den meistkritisierten Texten des ersten Testaments. Dabei wird aber eben vergessen, dass diese Gewalt in der Zeit, wo all das niedergeschrieben wird, gar nicht mehr ausübbar ist. Das auserwählte Volk ist arm und wehrlos. So will das Josuabuch keinen Tatsachenbericht längst vergangener Ereignisse liefern, sondern in einer Situation, wo alles hoffnungslos scheint, Mut zum Vertrauen in den Gott schenken, der die Seinen beschützt und behütet.
So sind in unserer Geschichte nicht Josua, die Priester und das Volk die Handelnden, sondern Gott allein: Er beruft Josua zum Nachfolger von Mose. Wie sein Vorgänger hat Josua das zu verkündigen und ausführen, was er von Gott hört. So begegnen in unserem Text die Begriffe «sprechen» und «hören» auffallend häufig: Das Volk soll hören, was Gott spricht. Damit sie hören können, sollen die Menschen sich heiligen. Sie sollen leer und empfänglich werden für die Worte Gottes. Wenn sie sich auf ein solches unvoreingenommenes Hören einlassen, werden ihnen die Augen geöffnet, und sie erkennen, dass ein lebendiger Gott in ihrer Mitte ist. Er tut, was unmöglich scheint. Er führt die Seinen durch den reissenden Fluss und vertreibt die Feinde vor ihnen. Es fällt auf, wie der Text genau sieben feindliche Völker namentlich aufzählt. Sieben ist die Zahl der Vollkommenheit. Hier wird sie ins Gegenteil verkehrt: Die Feinde sind so mächtig, dass nur Gott sie vertreiben kann. Die Überquerung des Jordan weist Parallelen zum Durchzug durch das Schilfmeer auf: Nach der Flucht aus Ägypten teilt Gott das Meer, damit sein Volk den 600 Streitwagen der Ägypter entkommen kann.
Auch dort ist Gott allein der Aktive. So spricht Mose ganz ähnlich wie später sein Nachfolger Josua zum Volk: Der Ewige wird für euch kämpfen, ihr aber sollt euch still verhalten (Ex 14,14).
Während Gott Mose beim Durchzug durch das Schilfmeer befiehlt, seinen Hirtenstab zu heben, damit das Meer sich teilt, übernimmt am Jordan die Bundeslade diese Funktion. Die Bundeslade ist das tragbare Heiligtum, welches die zwei Tafeln mit den zehn Geboten enthält, einen goldenen Krug mit Manna und den blühenden Aaronstab. Die Bundeslade zieht vor den Israeliten her durch den Jordan – und legt ihn trocken. Sie entfaltet eine magische Macht, eine Vorstellung, mit welcher wir heute nichts anfangen können.
Wieder hilft uns die Erkenntnis weiter, dass wir hier keinen Tatsachenbericht, sondern eine Hoffnungs- und Mutmachgeschichte vor uns haben. Zur Zeit ihrer Abfassung gab es die Bundeslade längst nicht mehr. Sie ist spätestens seit der Zerstörung Jerusalems 587 v.Chr. verschollen. Umso aufschlussreicher ist die symbolische Bedeutung ihres Inhalts: Die beiden Tafeln mit den zehn Geboten stehen für das Wort Gottes, das die Erde schafft und erhält und den Menschen Halt und Orientierung schenkt. Das Manna ist das Bild für das tägliche Brot, von dem wir leben und das wir gerecht teilen sollen. Und der tote Aaronstab, der blüht und Frucht trägt, symbolisiert die Hoffnung, dass der lebendige Gott stärker ist als der Tod.
Die Bundeslade legt den Jordan nicht in buchstäblichem Sinn trocken. Sie ist das Symbol für den lebendigen Gott in unserer Mitte, der Ordnung im Chaos der Fluten schafft und die Seinen schützt und behütet.
Trockenen Fusses durchschreitet Israel den reissenden Fluss. Das Unmögliche wird möglich: Am anderen Ufer beginnt ein neues Leben. Der Jordan spielt in der Geschichte Gottes mit seinem Volk eine zentrale Rolle. So lässt sich Jesus, bevor er sein Wirken beginnt, im Jordan von Johannes taufen. Er durchschreitet den Fluss allerdings nicht trockenen Fusses wie seinerzeit die Israeliten, sondern lässt sich untertauchen – als symbolische Vorwegnahme seines Todes am Kreuz. Statt der Wasserfluten teilt sich der Himmel. Der Geist steigt wie eine Taube auf Jesus herab und eine Stimme aus dem Himmel sagt: Du bist mein geliebter Sohn. Nach der Taufe vertreibt Gott die Feinde nicht vor seinem geliebten Sohn. Jesus muss sich in der Wüste nach vierzig Tagen ohne Nahrung dem Satan, dem Feind aller Feinde, stellen und seinen Versuchungen widerstehen, bevor ihm die Engel dienen. Und findet das Volk bei der Überschreitung des Jordan Halt und Orientierung im Anblick der Bundeslade, wird Jesus selbst zu diesem Halt: In ihm wird das Wort Gottes, das auf den Steintafeln eingemeisselt ist,
Mensch aus Fleisch und Blut. Während die Mütter und Väter der Israeliten in der Wüste das Manna assen und starben, ist Jesus das wahre Brot, das vom Himmel herabkommt. Wer davon isst, stirbt nicht. (Joh 6,49f.) Und ist der Stab Aarons bloss Symbol für die unbesiegbare Lebenskraft, ist Jesus die Auferstehung und das Leben, an dem alle Anteil haben, die aus dem Glauben leben.
Kehren wir nochmals zurück an den Jordan: Die uralte Geschichte seiner Überschreitung schenkte den verzweifelten Israeliten nach dem Exil neue Hoffnung. Wir heute sind in einer anderen Situation: Noch leben wir mindestens in Westeuropa in Freiheit und Selbstständigkeit. Noch haben wir Frieden und keine Feinde im Land. Doch die Verhältnisse und Bedingungen ändern sich rasend schnell. Sicherheiten gehen verloren. Niemand weiss, wie die weltpolitische Lage in ein paar Jahren aussieht, ob sich die Lage wieder stabilisiert oder alles völlig aus den Fugen gerät. Kein Mensch kann voraussagen, ob und wie wir die gewaltigen Herausforderungen der Klimakrise und Umweltzerstörung meistern können.
Manche würden das Rad der Zeit gerne zurückdrehen. Die Versuchung ist gross, den guten alten Zeiten nachzutrauern und sich an längst vergangenen Verhältnissen und Idealen festzuklammern.
Die uralte Geschichte aus dem Josuabuch lehrt uns den umgekehrten Weg: Israel konnte nicht zurück in die Wüste. Es gab nur den Weg nach vorne, über den Jordan ins verheissene Land, so unmöglich dieser Weg auch schien. Die Menschen, welche diese Geschichte nach dem Exil aufschrieben, schöpften Mut aus dieser Vorwärtsstrategie: Statt dem verlorenen Alten nachzutrauern, schauten sie nach vorne, im Vertrauen auf den Gott, dem alles möglich ist. Und so bleibt Israel bis heute erhalten, während die sieben feindlichen Völker jenseits des Jordans nur noch Geschichte sind. Dies ermutigt uns, vorwärtszuschauen, den Jordan zu überschreiten und Neuland zu betreten. Wir vertrauen dabei in den lebendigen Gott, der mitten unter uns ist und hoffen, dass Gott die Feinde vor uns vertreibt. Durch Jesus, den geliebten Sohn Gottes, erhält diese Hoffnung eine neue Prägung. Er vertreibt und vernichtet die Feinde nicht mit Gewalt, sondern indem er Versöhnung stiftet. Die Menschen am Jordan hatten die Bundeslade als Symbol von Gottes Gegenwart. Für uns ist Gott im Auferstandenen gegenwärtig: In ihm ist das Wort Mensch geworden. Er ist das Brot, das unseren Hunger stillt und die Auferstehung, aus der wir leben, auch wenn wir sterben. Amen.